Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitszeitrecht

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Zuordnung eines bestimmten Bereitschaftsdienstes zur Arbeit oder zur Ruhezeit im Sinne der Arbeitszeitordnung hängt davon ab, in welchem Maße dieser Dienst in seiner konkreten Ausprägung den Betroffenen bindet und belastet.

 

Normenkette

ArbZO §§ 10, 7 Abs. 2, § 12 Abs. 1

 

Verfahrensgang

Hessischer VGH (Entscheidung vom 22.04.1985; Aktenzeichen VIII OE 41/80; BB 1985, 85)

VG Wiesbaden (Entscheidung vom 15.11.1979; Aktenzeichen D V E 104/77)

 

Tatbestand

Die Klägerin betreibt ein Stromversorgungsunternehmen. Sie unterhält in Niedersachsen und Hessen insgesamt 23 Betriebsstellen. Auf jeder Betriebsstelle befinden sich vier Wohnungen, die vom jeweiligen Betriebsstellenleiter und drei weiteren Technikern einschließlich ihrer Familien bewohnt werden. Diese vier Bediensteten werden im wöchentlichen Turnus als sogenannte Schaltbeauftragte eingesetzt. In dieser Zeit versieht jeweils einer von ihnen täglich im Anschluß an die achtstündige Arbeitszeit einen 16-stündigen Bereitschaftsdienst. Jeder Schaltbeauftragte kann sich während seiner Bereitschaftsdienstwoche von Fall zu Fall für eine gewisse Zeit von einem seiner im selben Haus wohnenden Kollegen vertreten lassen; ebenso steht er diesen als Vertreter zur Verfügung. Der Dienst wird von der Wohnung des betreffenden Bediensteten aus geleistet; dazu werden ihm ein Telefon und die Signalanlage in die Wohnung geschaltet, damit er auf Anruf oder beim Ansprechen der Signalanlage sofort Anweisungen zur Beseitigung etwaiger Störungen geben kann. Die geschilderte Regelung hat ihre Grundlage in einer Betriebsvereinbarung, die zwischen der Klägerin und ihrem Gesamtbetriebsrat am 9. Februar 1973 geschlossen worden ist.

Mit Verfügung vom 30. April 1975 ordnete das Staatliche Gewerbeaufsichtsamt L. für die in seinem Zuständigkeitsbereich von der Klägerin unterhaltenen sechs Betriebsstellen folgendes an:

"1. Die Arbeitszeit der Schaltbeauftragten ist so zu regeln, daß die

Ruhezeitvorschriften des § 12 Abs. 1 AZO eingehalten werden.

2. Dem Gewerbeaufsichtsamt L. sind spätestens zum

1. Juni 1975 prüffähige Nachweise über die getroffenen Arbeitszeit- und

Ruhezeitregelungen der sogenannten Schaltbeauftragten vorzulegen."

Den Widerspruch der Klägerin wies der Regierungspräsident in D. mit Widerspruchsbescheid vom 31. Mai 1977 zurück. Zur Begründung führte er im wesentlichen aus, der Bereitschaftsdienst der Schaltbeauftragten der Klägerin sei nicht mit der auch von der Rechtsprechung als Ruhezeit angesehenen Rufbereitschaft gleichzusetzen, da der jeweilige Arbeitnehmer nicht grundsätzlich in der Wahl seines Aufenthaltsortes frei sei. Die Anordnung des Gewerbeaufsichtsamtes sei hinreichend bestimmt. Aus Ziffer 1 der Anordnung in Verbindung mit deren Begründung gehe klar hervor, daß die Klägerin ihre bisherige Bereitschaftsdienstregelung dahingehend ändern solle, daß dem jeweiligen Arbeitnehmer eine Ruhezeit von mindestens elf Stunden im Anschluß an die tägliche Arbeitszeit gewährt werde.

Auf die Anfechtungsklage der Klägerin hat das Verwaltungsgericht Wiesbaden die genannten Bescheide des Gewerbeaufsichtsamtes und des Regierungspräsidenten aufgehoben. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung des Beklagten durch Urteil vom 22. April 1985 zurückgewiesen und dazu im wesentlichen ausgeführt: Die angefochtenen Bescheide seien rechtswidrig, weil die Regelung, die die Klägerin für ihre Schaltbeauftragten getroffen habe, der Arbeitszeitordnung - AZO - und insbesondere deren § 12 entspreche. Die Arbeitszeitordnung unterscheide zwischen Arbeitszeit, Arbeitsbereitschaft und Ruhezeit, wobei nach einhelliger Meinung die Arbeitsbereitschaft zur Arbeitszeit gehöre. Daher sei Kernfrage dieses Verwaltungsstreitverfahrens, ob der 16-stündige Bereitschaftsdienst der Schaltbeauftragten, den je einer von ihnen im wöchentlichen Turnus im unmittelbaren Anschluß an die achtstündige Arbeitszeit leisten müsse, der Arbeitszeit oder der Ruhezeit zuzurechnen sei. Das Verwaltungsgericht habe diesen Bereitschaftsdienst zu Recht der Ruhezeit zugerechnet und dies im wesentlichen daraus hergeleitet, daß die Schaltbeauftragten der Klägerin den Bereitschaftsdienst von der Wohnung aus leisteten und ihre Inanspruchnahme während des Bereitschaftsdienstes nach den Erfahrungen der Vergangenheit außerordentlich gering sei. Der Arbeitnehmer könne sich also während seines Bereitschaftsdienstes nach seinem Belieben die Gelassenheit und Entspanntheit, deren er bedürfe, bewahren, er könne sogar schlafen. Das eigentliche Kriterium dafür, die Zeit des Bereitschaftsdienstes der Ruhezeit zuzuordnen, liege darin, daß während der Arbeitszeit der Arbeitnehmer seine Hauptpflicht (die Arbeit) erfülle, während der Bereitschaftsdienst in der Literatur als eine Nebenpflicht aus dem Arbeitsverhältnis aufgefaßt werde. Daraus folge, daß der Bereitschaftsdienst in arbeitsschutzrechtlicher Hinsicht keine Arbeit sei und daher nicht zur Arbeitszeit zähle. Er unterscheide sich dadurch von der Arbeitsbereitschaft, bei der der Arbeitnehmer zwar ebenfalls keine Arbeit leiste, aber auf solche warte, so daß auch die Arbeitsbereitschaft von der Hauptpflicht zur Arbeitsleistung umfaßt werde. Demgegenüber warte der Arbeitnehmer bei dem Bereitschaftsdienst nicht auf Arbeit; er gehe vielmehr davon aus, daß er grundsätzlich keine Arbeit zu leisten habe und nur im Notfall tätig werden müsse. Seinem Charakter nach sei der Bereitschaftsdienst also nichts anderes als eine Aufenthaltsbeschränkung, verbunden mit der Verpflichtung, bei Bedarf sofort tätig zu werden.

Gegen dieses Urteil hat der Beklagte die vom Berufungsgericht zugelassene Revision eingelegt. Er macht u. a. geltend: Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts sei der Bereitschaftsdienst Arbeitszeit und nicht Ruhezeit. Das vom Berufungsgericht herangezogene Unterscheidungsmerkmal, nämlich die Differenzierung zwischen Hauptpflicht und Nebenpflicht, sei formalistisch und nicht sachgerecht. Ruhezeit sei das Freisein von der Inanspruchnahme durch Betriebszwecke. Sie diene der Erholung, aber auch der Entfaltung des persönlichen Daseins, z. B. durch Teilnahme am Vereinsleben, am Sport, am politischen und kulturellen Geschehen. Treffender als der Ausdruck "Ruhezeit" sei daher die Bezeichnung "Freizeit", die in neueren Gesetzen mit demselben Schutzzweck, wie ihn die Arbeitszeitordnung verfolge, verwendet werde. Auch aus der Arbeitszeitordnung selbst ergebe sich, daß Ruhezeit nur "echte Ruhezeit" im Sinne von Freizeit, also losgelöst von jeder Beschränkung des Aufenthaltsortes und ähnlicher arbeitsvertraglicher Verpflichtung, sein könne: In § 10 AZO werde eine "ununterbrochene Ruhezeit" angeführt, und zwar nach einem Schichtdienst von 16-stündiger Dauer. Es sei offensichtlich, daß nach solchen Schichten nicht noch Bereitschaftsdienst solle angeordnet werden dürfen. Im vorliegenden Fall sei von besonderem Gewicht, daß der Bereitschaftsdienst sieben Tage lang andauere. Allein lebende Arbeitnehmer seien in einem isolationsähnlichen Zustand, da sie nicht einmal andere Menschen aufsuchen könnten. Hierin liege ein wesentlicher Unterschied zur Rufbereitschaft. Im konkreten Fall sei zusätzlich die Tatsache bedeutsam, daß die Techniker, die sich im Bereitschaftsdienst abwechselten, ihre Wohnung auf dem Betriebsgelände der Klägerin hätten. Ein im Bereitschaftsdienst befindlicher Arbeitnehmer unterliege - wie bei der Arbeitsbereitschaft - stets der inneren Anspannung, bei Abruf sofort volle Arbeit leisten zu müssen. Er müsse sich ständig einsatzbereit halten. Der Umstand, daß die zum Bereitschaftsdienst Verpflichteten untereinander den Dienst tauschen könnten, führe letztlich nicht zu einer Verringerung der Intensität der dienstlichen Inanspruchnahme. Der Beklagte beantragt sinngemäß,

die Urteile des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22. April 1985 und

des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 15. November 1979 aufzuheben und die

Klage abzuweisen.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil und beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden kann (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, daß die angefochtenen Bescheide, die der Klägerin unter Berufung auf § 12 Abs. 1 Satz 1 AZO eine Änderung ihrer Bereitschaftsdienstregelung aufgeben, rechtswidrig sind und die Klägerin in ihren Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO); denn die von der Klägerin getroffene Bereitschaftsdienstregelung ist entgegen der Ansicht des Beklagten mit § 12 Abs. 1 Satz 1 AZO vereinbar.

Nach dieser Vorschrift ist den Arbeitnehmern nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden zu gewähren. Der strittige Bereitschaftsdienst ist nicht, wie der Beklagte meint, der Arbeitszeit zuzurechnen, sondern der Ruhezeit im Sinne dieser Bestimmung. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen:

Wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat, unterscheidet die Arbeitszeitordnung zwischen Arbeitszeit (§ 2 Abs. 1), Arbeitsbereitschaft (§ 7 Abs. 2) und Ruhezeit (§ 12 Abs. 1). In der arbeitsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur sowie der tariflichen Praxis ist anerkannt, daß es in der Skala, die von der Vollarbeit über die Arbeitsbereitschaft bis zur völligen Freiheit von arbeitsvertraglicher Bindung reicht, noch zwei weitere - zwischen Arbeitsbereitschaft und Ruhezeit einzuordnende - Kategorien der Inanspruchnahme gibt, nämlich Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft. Unter Arbeitsbereitschaft versteht man "Zeiten wacher Achtsamkeit im Zustand der Entspannung" (BAG 8, 25 ≪27≫; auch BVerwG, Urteil vom 29. März 1974 - BVerwG 6 C 21.71 - Buchholz 232 § 72 BBG Nr. 10 S. 24). Bereitschaftsdienst liegt dann vor, wenn sich der Arbeitnehmer, ohne daß von ihm wache Achtsamkeit gefordert wird, für Zwecke des Betriebs an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle innerhalb oder außerhalb des Betriebs aufzuhalten hat, damit er erforderlichenfalls seine volle Arbeitstätigkeit unverzüglich aufnehmen kann (BAG 8, 25 ≪28≫). Rufbereitschaft ist die Verpflichtung des Arbeitnehmers, zu Hause oder an einem anderen Ort, den er dem Arbeitgeber anzuzeigen hat, aber frei wählen und wechseln darf, erreichbar zu sein, um auf Abruf die Arbeit alsbald aufnehmen zu können (BAG 8, 25 ≪28≫; 21, 348 ≪355≫; BVerwGE 59, 45 ≪47≫; 59, 176 ≪181≫). Der Dienst der Schaltbeauftragten, den je einer von ihnen alle vier Wochen für die Dauer einer Woche im Anschluß an die achtstündige Arbeitszeit zu leisten hat, wird danach zu Recht als Bereitschaftsdienst bezeichnet.

Unbestritten ist, daß die Arbeitsbereitschaft als Arbeitszeit und nicht als Ruhezeit im Sinne der Arbeitszeitordnung anzusehen ist (vgl. §§ 7 Abs. 2, 8 Abs. 2 AZO). Andererseits ist weithin anerkannt, daß bloße Rufbereitschaft zur Ruhezeit zählt (BAG 21, 348 ≪355≫; ferner BVerwGE 59, 45 ≪47≫; 59, 176 ≪181 f.≫; Beschluß vom 1. Juni 1987 - BVerwG 6 P 8.85 - DVBl. 1987, 1161). Die Meinungen darüber, ob auch der Bereitschaftsdienst als Ruhezeit zu werten ist, sind geteilt (vgl. z. B. einerseits Denecke/Neumann, AZO, 10. Aufl. 1987, § 7 Rdnr. 23, 27, § 12 Rdnr. 3; andererseits Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 6. Aufl. 1987, § 158 II 1, S. 1039; differenzierend z. B. Schlüter, Anm. zu AP Nr. 10 zu § 12 AZO; die Frage ist ausdrücklich offengelassen in BAG 8, 25 ≪29≫). Nach Auffassung des erkennenden Senats sind die Formen des Bereitschaftsdienstes zu unterschiedlich, als daß eine einheitliche Zuordnung dieser Kategorie entweder zur Arbeitszeit oder aber zur Ruhezeit gerechtfertigt wäre. Der Schutzzweck der Arbeitszeitvorschriften liegt darin, die Arbeitskraft des Arbeitnehmers zu erhalten und ihm Freizeit und Muße zur Entfaltung seiner Persönlichkeit zu sichern. Demgemäß hängt die Zuordnung eines bestimmten Bereitschaftsdienstes zur Arbeit oder zur Ruhezeit davon ab, in welchem Maße dieser Dienst in seiner konkreten Ausprägung den Betroffenen bindet und belastet.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ist der Bereitschaftsdienst der Schaltbeauftragten durch zwei Umstände charakterisiert, die ihn - gemessen an voller Arbeit und an Arbeitsbereitschaft - als sehr geringe Belastung erscheinen lassen. Dies ist einmal der Umstand, daß der Dienst nicht im Betrieb geleistet wird, sondern in der Privatwohnung, in der sich vielfältige Möglichkeiten eines entspannenden und auch anregenden Gebrauchs der Zeit anbieten. Daß sich die Wohnungen der Schaltbeauftragten auf dem Betriebsgelände befinden, ändert daran nichts. Als zweiter wesentlicher Umstand ist zu berücksichtigen, daß das Maß der tatsächlichen Inanspruchnahme des einzelnen Schaltbeauftragten während des Bereitschaftsdienstes minimal ist. Er muß durchschnittlich nur dreimal im Jahr je eine Stunde tätig werden. Es kann deshalb keine Rede davon sein, daß er während des Bereitschaftsdienstes in einem Zustand innerer Anspannung lebe. Der Bereitschaftsfall tritt zu selten auf und ist zu schnell erledigt, als daß die Möglichkeit seines Eintritts einen gesunden Arbeitnehmer psychisch belasten oder ihn in der (häuslichen) Gestaltung seiner Freizeit oder in seinem Schlaf ernstlich beeinträchtigen könnte. Damit wird nicht etwa, wie die Revision meint, einer gleichgültig-nachlässigen Ausübung des Bereitschaftsdienstes das Wort geredet, sondern nur aus den tatsächlichen Gegebenheiten im Einklang mit dem Berufungsurteil die Folgerung gezogen, daß gewissenhafte Erfüllung der Bereitschaftspflicht einerseits und ungestörte Nachtruhe sowie entspannte Muße andererseits hier in aller Regel durchaus vereinbar sind. Allerdings ist der Revision einzuräumen, daß die durch den Bereitschaftsdienst bedingte, jeweils eine volle Woche währende grundsätzliche Pflicht des Schaltbeauftragten, in seiner Wohnung zu bleiben, eine erhebliche Einschränkung seiner Freiheit darstellt. Die "Fesselung" des Schaltbeauftragten an seine Wohnung wird indessen dadurch gemildert, daß er sich - nach Absprache mit seinen Kollegen - während der Bereitschaftsdienstwoche für eine gewisse Zeit vertreten lassen und daher trotz des Bereitschaftsdienstes die Wohnung hin und wieder verlassen kann. Nach alledem ist der häusliche Bereitschaftsdienst der Schaltbeauftragten von den in der Arbeitszeitordnung als Arbeit eingestuften Leistungen (volle Arbeit und Arbeitsbereitschaft) so weit entfernt und der Rufbereitschaft so nahe, daß er wie diese der Ruhezeit zuzuordnen ist.

 

Fundstellen

Haufe-Index 543762

Buchholz 451.23 Arbeitszeitrecht, Nr 5 (ST)

BR/Meuer, C 11/85 (ST1)

DÖV 1988, 653 (S)

EzBAT SR 2t BAT Bereitschaftsdienst, Nr 1 (LT1)

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