Leitsatz (amtlich)

Eine laufende Beihilfe an Hinterbliebene kann auch gewährt werden, wenn der Verletzte mehrere Verletztenrenten bezogen hat, deren Hundertsätze zusammen mindestens die Zahl 80 erreichten.

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Zahlung einer laufenden Beihilfe (RVO § 602) steht nicht entgegen, daß die Witwe, ohne eine ausdrückliche Verzichterklärung für die laufende Beihilfe abzugeben, zunächst die einmalige Witwenbeihilfe (RVO § 600 Abs 1) entgegennahm.

 

Normenkette

RVO § 602 Fassung: 1963-04-30, § 600 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, Abs. 3 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Juni 1970 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der 1902 geborene Ehemann der Klägerin hatte als Hilfsarbeiter am 4. Juni 1929 durch einen Arbeitsunfall Brüche beider Arme erlitten. Ein weiterer Arbeitsunfall vom 12. Juni 1931 führte zur Amputation des rechten Oberschenkels im oberen Drittel. Wegen der Unfallfolgen bezog der Ehemann der Klägerin aus dem ersten Unfall eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 10 v.H. und aus dem zweiten nach einer MdE um 70 v.H. Beide Renten wurden von der Beklagten gewährt. Am 1. November 1964 ist der Ehemann der Klägerin an einem Darmverschluß gestorben.

In einem Schreiben ohne Rechtsmittelbelehrung vom 19.Januar 1965 teilte die Beklagte der Klägerin mit, ihr werde nach § 600 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eine einmalige Witwenbeihilfe gewährt, berechnet nach dem höheren Jahresarbeitsverdienst (JAV) aus dem Unfall vom 12.Juni 1931; eine laufende Beihilfe nach § 602 RVO könne nicht gezahlt werden, weil die Voraussetzung des Bezuges (nur) einer Rente nach einer MdE um wenigstens 80 v.H. nicht gegeben sei. Die einmalige Beihilfe im Betrag von 2.855,40 DM wurde an die Klägerin ausgezahlt.

Am 23. Februar 1965 beantragte die Klägerin die Gewährung der Witwenrente, hilfsweise die Zahlung einer laufenden Beihilfe nach § 602 RVO.

Dies lehnte die Beklagte durch förmlichen Bescheid vom 28. Januar 1966 ab und führte aus: Der Ehemann der Klägerin sei nicht an den Folgen eines der beiden Arbeitsunfälle gestorben, deshalb bestehe kein Anspruch auf eine Witwenrente. Auch eine laufende Beihilfe nach § 602 RVO könne nicht gewährt werden, weil es an der Voraussetzung fehle, daß der Verstorbene länger als 10 Jahre eine Rente nach einer MdE um 80 v.H. oder mehr wegen der Folgen "eines" Unfalls bezogen habe. Der Klägerin stehe somit nur die - bereits gezahlte - einmalige Witwenbeihilfe nach § 600 RVO zu.

Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage erhoben. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) am 21. November 1966 hat sie beantragt,

den Bescheid vom 28. Januar 1966 insoweit aufzuheben, als er die Gewährung von Witwenrente versagt.

Soweit durch den Bescheid die Zahlung einer laufenden Beihilfe nach § 602 RVO abgelehnt worden ist, hat die Klägerin beantragt, auf die als Widerspruch anzusehende Klage das Vorverfahren nach §§ 78 ff des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durchzuführen. Durch Urteil vom 21. November 1966 hat das SG die Klage, soweit sie die Witwenrente betrifft, abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 7. August 1968 zurückgewiesen, da der Ehemann der Klägerin nicht an den Folgen eines der beiden Unfälle gestorben sei.

Den Widerspruch der Klägerin gegen die Versagung der laufenden Beihilfe wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 1967 mit den im Bescheid vom 28. Januar 1966 angegebenen Gründen zurück; sie führte ferner aus, der Ehemann der Klägerin sei nach seinen Angaben in einem Schreiben vom 3. Dezember 1963 selbständiger Handwerker gewesen, dürfte daher erst spät aus dem Erwerbsleben ausgeschieden und deshalb nicht infolge der Arbeitsunfälle außerstande gewesen sein, für seine Familienangehörigen ausreichend zu sorgen; auch aus diesem Grund seien die Voraussetzungen des § 602 RVO nicht erfüllt.

Das SG hat durch Urteil vom 12. März 1969 die Klage mit der Begründung abgewiesen, die Ablehnung der laufenden Witwenbeihilfe bedeute keinen Ermessensmißbrauch, da nach § 602 RVO anders als nach § 583 Abs. 1 RVO die MdE nicht aus mehreren Unfällen zusammengerechnet werden könne.

Das LSG hat am 19. Juni 1970 das Urteil des SG und den Widerspruchsbescheid aufgehoben und zur Begründung ausgeführt: Die Vorschrift des § 602 RVO setze zwar ihrem Wortlaut nach voraus, daß der Verletzte eine Rente nach einer MdE um wenigstens 80 v.H. bezogen habe. Auch werde grundsätzlich jeder Entschädigungsanspruch aus der gesetzlichen Unfallversicherung nur durch "einen" Unfall begründet und allein von diesem abgeleitet. Als Ausnahme von diesem Grundsatz sei jedoch nach § 602 RVO die Gewährung einer laufenden Witwenbeihilfe auch zulässig, wenn der Verletzte wegen mehrerer Unfälle Renten bezogen habe, deren Hundertsätze zusammen die Zahl 80 erreichten. Dies sei aus dem in § 602 RVO enthaltenen Hinweis auf die Vorschrift des § 600 Abs. 1 RVO zu folgern, nach welcher der Anspruch auf eine einmalige Witwenbeihilfe u.a. davon abhänge, daß der Verstorbene Schwerverletzter - also u.U. Bezieher mehrerer Renten nach einer MdE um insgesamt wenigstens 50 v.H. - gewesen sei. Hiernach könnten das Urteil und der angefochtene Widerspruchsbescheid insoweit keinen Bestand haben, als sie sich auf eine andere Auslegung des § 602 RVO stützten. Die Frage, ob ein Härtefall gegeben sei, habe die Beklagte im Rahmen ihres Ermessens zu prüfen und darüber durch einen neuen Bescheid zu befinden, weil es nicht genüge, daß sie nur auf die schriftliche Erklärung des Verletzten vom 3. Dezember 1963 verweise, ohne die Voraussetzungen des Härtefalls näher aufzuklären und ohne die Gründe der Ablehnung aufzuzeigen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet: Die Klägerin habe auf eine laufende Beihilfe dadurch verzichtet, daß sie die einmalige Beihilfe angenommen und vier Wochen lang auf das Schreiben der Beklagten vom 19. Januar 1965 nicht remonstriert habe. Jedenfalls aber seien materiell-rechtlich die Voraussetzungen des § 602 RVO nicht erfüllt. Der Wortlaut dieser Vorschrift stelle eindeutig darauf ab, daß der Verletzte "eine" Rente nach einer MdE um 80 v.H. oder mehr bezogen haben müsse. Die fehlende Bezugnahme auf § 600 Abs. 2 RVO und damit der Mangel jeglicher Zuständigkeitsregelung für den Fall des Bezuges mehrerer Renten zeigten, daß der Gesetzgeber diese Fälle nicht habe erfassen wollen. Die Bezugnahme auf § 600 Abs. 1 RVO und damit auf den Klammerzusatz (§ 583 Abs. 1) diene entgegen der Auffassung des LSG lediglich zur Bezeichnung der Fälle, in denen - bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen des § 602 - anstelle der einmaligen eine laufende Beihilfe gezahlt werden könne. Der Gesetzgeber habe somit bewußt nur auf den Bezug einer einzigen Rente abgestellt und damit nur ganz besondere Härtefälle erfassen wollen. In der Regel sei derjenige Verletzte, der durch einen einzigen Unfall um 80 oder mehr v.H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert sei, medizinische und wirtschaftlich stärker beeinträchtigt als derjenige, der im Laufe seines Arbeitslebens nacheinander mehrere weniger schwere Unfälle erlitten habe, durch welche die MdE nur durch Zusammenrechnen der einzelnen Vomhundertsätze die Zahl 80 erreiche oder übersteige. Im vorliegenden Fall liege darüber hinaus ein Härtefall im Sinne des § 602 RVO nicht vor, da der Ehemann der Klägerin nach der Art der bei ihm bestehenden Unfallfolgen nicht gehindert gewesen sei, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, und dies nach seinen eigenen Angaben - als selbständiger Handwerker - auch getan habe.

Die Beklagte beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Regensburg vom 12. März 1969 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs. 2 SGG).

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß eine laufende Beihilfe an Hinterbliebene nach § 602 RVO auch gewährt werden kann, wenn der Verletzte mehrere Renten bezogen hat, deren Hundertsätze zusammen mindestens die Zahl 80 erreichten.

Die Gewährung einer laufenden Beihilfe nach § 602 RVO scheitert entgegen der Ansicht der Beklagten im vorliegenden Fall nicht daran, daß die Klägerin die einmalige Witwenbeihilfe (§ 600 Abs. 1 RVO) entgegengenommen und erst nachträglich eine Witwenrente - hilfsweise eine laufende Beihilfe - beantragt hat. Unbeschadet der Frage nach der Zulässigkeit eines Verzichts auf künftige Entschädigungsleistungen muß der Verzichtswille jedenfalls unzweideutig zum Ausdruck gebracht worden sein (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-7. Aufl., S. 246 y, 728 e und f). Das ist hier nicht der Fall. Die Klägerin hat vielmehr auf die formlose, nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehene Mitteilung der Beklagten vom 19. Januar 1965 über die Gewährung einer einmaligen Beihilfe durch ihren Antrag vom 23. Februar 1965 eindeutig ihren Willen bekundet, daß ihr an einer Witwenrente oder einer laufenden Beihilfe gelegen ist. Der Klägerin war nicht etwa zuzumuten, vor der Entscheidung über ihren Antrag auf Witwenrente oder laufende Beihilfe die Entgegennahme des Betrages der einmaligen Beihilfe von vornherein zu verweigern oder den Betrag zurückzuzahlen. Ein solches Verlangen würde schon dem Sinn und Zweck zuwiderlaufen, der mit einer einmaligen Beihilfe verfolgt wird: sie soll einen finanziellen Ausgleich in der durch den Wegfall der Rente des Verstorbenen bedingten augenblicklichen Notlage schaffen (vgl. schon RVA in AN 1935, 88, 89). Für den Fall, daß der Klägerin die einmalige Beihilfe nicht zusteht, weil ihr eine laufende Beihilfe gewährt wird, braucht die Beklagte wegen der Möglichkeit der Aufrechnung (vgl. § 629 RVO) auch keinen Nachteil zu befürchten.

Die Klägerin ist berechtigt, einen Anspruch auf laufende Witwenbeihilfe im vorliegenden Streitverfahren geltend zu machen. Denn der Bescheid vom 28. Januar 1966, durch den die Beklagte sowohl Witwenrente als auch laufende Beihilfe abgelehnt hat, ist durch das klageabweisende Urteil des SG vom 21. November 1966 und das die Berufung zurückweisende Urteil des LSG nur insoweit - rechtskräftig - bestätigt worden, als er die Witwenrente betrifft. Da eine laufende Beihilfe nach § 602 i.V.m. § 600 Abs. 1 RVO nur in Betracht kommt, wenn die Witwe keinen Anspruch auf Witwenrente hat, weil der Tod des Verletzten nicht die Folge eines Arbeitsunfalls ist, haben SG und das LSG mit Recht zunächst über den Anspruch der Klägerin auf Witwenrente entschieden. Nach Durchführung des - zunächst unterbliebenen - Widerspruchsverfahrens (§ 79 Nr. 1 SGG) war die Klage auf Gewährung einer laufenden Beihilfe zulässig.

Die Vorschrift des § 602 RVO, die durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) vom 30. April 1963 - BGBl I 241 - eingefügt worden ist und die Voraussetzungen einer bisher in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht vorgesehenen Leistung an Hinterbliebene eines Verletzten regelt, gilt auch für Arbeitsunfälle, die vor dem 1. Juli 1963 eingetreten sind (Art. 4 §§ 2 Abs. 1, 16 Abs. 1 UVNG). Da der Ehemann der Klägerin, dessen Arbeitsunfälle sich in den Jahren 1929 und 1931 ereigneten, erst nach dem 30. Juni 1963 gestorben ist, bestehen keine Bedenken gegen die Anwendung des § 602 RVO auf den vorliegenden Fall (vgl. BSG 23, 139; 25,249).

Nach § 602 RVO kann in Härtefällen anstelle der einmaligen Beihilfe (§§ 600 Abs. 1 und 3, 601 RVO) eine laufende Beihilfe gewährt werden, wenn der Verletzte, der länger als 10 Jahre eine Rente nach einer MdE um 80 oder mehr v.H. bezogen hat, nicht an den Folgen eines Unfalls gestorben ist. Der Wortlaut dieser Vorschrift scheint zwar die Ansicht zu bestätigen, daß "eine" Rente nach einer MdE um wenigstens 80 v.H. gewährt worden sein muß und - anders als in den Fällen der §§ 581 Abs. 3 Satz 1, 583 Abs. 1 und 607 Abs. 1 Satz 2 RVO - die Hundertsätze der MdE aus mehreren Renten nicht zusammengerechnet werden dürfen (vgl. RVO-Gesamtkommentar, Anm. 1 zu § 602; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, Kennzahl 620 S. 3). Für diese Ansicht wird auch angeführt (Podzun, aaO), daß § 602 RVO zwar auf die Absätze 1 und 3, nicht jedoch auf den Absatz 2 des § 602 RVO hinweist, in dem der für die Zahlung der einmaligen Witwenbeihilfe zuständige Versicherungsträger für den Fall bestimmt wird, daß der Verstorbene zur Zeit seines Todes mehrere Verletztenrente aus der Unfallversicherung - von verschiedenen Versicherungsträgern - bezogen hat. Der Wortlaut des § 602 RVO ist jedoch nicht eindeutig. Zu den Voraussetzungen, unter denen nach dieser Vorschrift eine laufende Beihilfe gewährt werden kann, gehört es ua, daß der Verletzte nicht an den Folgen eines "Unfalls" gestorben ist. Eine Gesetzesanwendung nach dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks würde zu dem Ergebnis führen, daß eine laufende Beihilfe nicht in Betracht käme, wenn der Tod des Verletzten auf die Folgen irgendeines Unfalls zurückzuführen ist, gleichgültig, ob die Merkmale eines Arbeitsunfalls im Sinne der RVO erfüllt sind. Unzweifelhaft indessen wollte der Gesetzgeber durch die Regelung des § 602 RVO diejenigen Fälle erfassen, in denen den Hinterbliebenen eines Verletzten kein Hinterbliebenenrentenanspruch zusteht, weil der Tod des Verletzten nicht Folge eines Arbeitsunfalls war. Unter einem "Unfall" ist daher in § 602 RVO ein Arbeitsunfall gemeint (vgl. Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 5 zu § 602). Darin, daß § 602 RVO - obwohl die Absätze 1 und 3 des § 600 RVO erwähnt sind - auf § 600 Abs. 2 RVO nicht Bezug nimmt, kommt nicht eindeutig zum Ausdruck, daß ein Zusammentreffen mehrerer Verletztenrenten nach einer MdE von insgesamt wenigstens 80 v.H. für die Gewährung einer laufenden Beihilfe an die Hinterbliebenen nicht ausreicht und daher eine Konkurrenz mehrerer Versicherungsträger, deren Zuständigkeit für die Leistungsgewährung regelungsbedürftig wäre, nicht in Betracht kommen kann. § 602 enthält insoweit lediglich einen erläuternden Hinweis auf die Fälle, in denen Anspruch auf eine einmalige Beihilfe besteht (außer § 600 Abs. 1 und 3 auch § 601 RVO), an deren Stelle - zur Vermeidung von Doppelleistungen - unter den sonstigen Voraussetzungen die laufende Beihilfe tritt. Hiervon unberührt ist die Frage der Zuständigkeit des Versicherungsträgers bei einer Rentenkumulation. Die Regelung in § 600 Abs. 2 RVO betrifft - anders als die Vorschriften, auf die § 602 RVO hinweist - ausschließlich die Zuständigkeitsfrage und die Berechnung der (einmaligen) Beihilfe im Falle der Konkurrenz mehrerer Versicherungsträger. Es fehlt also an einer engen Beziehung zwischen den in § 602 RVO angeführten Vorschriften und der Regelung des § 600 Abs. 2 RVO, so daß diese nicht aus einer generellen Bezugnahme lediglich "ausgeklammert" ist. Soweit hiernach eine ausdrückliche Regelung darüber fehlt, welcher Versicherungsträger die laufende Beihilfe zu zahlen hat, wenn der Verletzte mehrere Verletztenrenten nach einer MdE von insgesamt wenigstens 80 v.H. von verschiedenen Versicherungsträgern bezogen hat, gilt dies gleichermaßen auch für den von § 602 RVO zweifellos mit erfaßten - nicht nur theoretischen - Fall des Bezuges nicht nur "einer", sondern zB zweier Renten von je wenigstens 80 v.H. Ist aber davon auszugehen, daß auch in einem solchen Fall nur "eine" laufende Beihilfe gewährt werden kann, so bedarf es auch hier zur Bestimmung des für die Zahlung zuständigen Versicherungsträgers einer Regelung, die zB in einer entsprechenden Anwendung des § 600 Abs. 2 RVO gesehen werden könnte. Aus der fehlenden Bezugnahme auf § 600 Abs. 2 RVO folgt somit nicht, daß eine laufende Beihilfe nach § 602 RVO nicht gewährt werden kann, wenn der Verletzte eine MdE von wenigstens 80 v.H. nur durch den Bezug mehrerer Renten erreicht hat. Auch aus der Entstehungsgeschichte des § 602 RVO läßt sich dies nicht herleiten. Der Ausschuß für Sozialpolitik hat die Einfügung eines § 599 a zum Entwurf eines UVNG (BT-Drucksache IV/120) - jetzt § 602 RVO - beantragt, nachdem aus Kreisen der Beschädigten gefordert worden war, in bestimmten Fällen eine laufende Beihilfe zu gewähren (vgl. Schriftliche Begründung des Ausschusses für Sozialpolitik, BT-Drucksache IV/938 - neu - S. 15 und 65). Dabei ist einerseits den Forderungen auf Einführung einer Pflichtleistung und auf Abfindung der laufenden Beihilfe bei Wiederverheiratung sowie der Begünstigung der Hinterbliebenen von Pflegegeldempfängern (vgl. Arbeitsgrundlage zur Beratung des Entwurfs eines UVNG, BT-Drucksache IV/120 S. 112 ff) nicht entsprochen worden, andererseits stellt der dem vorgeschlagenen § 599 a des Entwurfs entsprechende § 602 RVO als Voraussetzung für eine laufende Beihilfe nicht auf den Bezug der Rente eines Erwerbsunfähigen - wie teilweise in den Änderungsvorschlägen - ab, sondern auf eine Rente nach einer MdE um 80 oder mehr v.H., sofern sie länger als 10 Jahre gewährt worden ist. Eine bewußte Nichtberücksichtigung der Fälle, in denen Verletzte mehrere Renten nach einer Gesamt-MdE von wenigstens 80 v.H. bezogen haben, ist den Gesetzesmaterialien dagegen nicht zu entnehmen. Dies würde auch dem Sinn und Zweck der laufenden Beihilfe nicht entsprechen. Der Ausschuß für Sozialpolitik hat in seinem schriftlichen Bericht zu § 599 a des Entwurfs eines UVNG (aaO) hervorgehoben, daß ein Verletzter, der über längere Zeit hinweg infolge des Unfalls ohne Erwerbseinkommen gewesen ist, in der Regel nicht in der gleichen Weise für seine Familienangehörigen vorsorgen kann, wie das einem gesunden Arbeitnehmer schon deshalb möglich ist, weil der Arbeitgeber zB die Hälfte der Beiträge zu den Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten zahlt. Durch die Regelung des § 602 RVO sollte ein - allerdings "sehr begrenzter" - Personenkreis begünstigt werden, der dadurch besonders betroffen ist, daß der Verletzte, durch Unfallfolgen bedingt, über längere Zeit hinweg außerstande war, für seine Angehörigen vorzusorgen. Wird dabei aber vorausgesetzt, daß dies bei einem Verletzten mit einer Rente nach einer MdE um wenigstens 80 v.H. in der Regel der Fall ist, so muß dies auch für einen Verletzten mit mehreren Renten gelten, wenn die Gesamt-MdE der Renten 80 v.H. erreichte oder gar überstieg. Offensichtlich wird dies zB für den Fall des Bezuges zweier Renten nach einer MdE um je 70 v.H. Liegt aber dieser Fall im Bereich des von § 602 RVO erfaßten Sinnes und Zweckes der Leistung, so kann grundsätzlich im vorliegenden Fall - 70 und 10 v.H. nichts anderes gelten. Die Frage, ob ein Härtefall gegeben ist, der die Gewährung einer laufenden Beihilfe rechtfertigt, ist ohnehin nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles zu beurteilen. Da aber § 602 RVO auf den Rentenbezug nach einer bestimmten Mindest-MdE (80 v.H.) und nicht auf den Grad der MdE, der bei richtiger Beurteilung jeweils bestand, abstellt, kommt es nicht nur in Fällen, in denen die Gesamt-MdE von wenigstens 80 v.H. ua durch Kleinrenten von 10 v.H. erreicht wird, auf die besonderen Umstände an, ob ein Härtefall vorliegt.

Nach der Meinung des Senats ist davon auszugehen, daß der Gesetzgeber diejenigen Personenkreise nicht von der Begünstigung des § 602 RVO ausschließen wollte, die durch den Tod ihres Ernährers deshalb besonders betroffen sind, weil dieser als Bezieher mehrerer Verletztenrenten nach einer Gesamt-MdE um uU erheblich mehr als 80 v.H. in der Regel keine ausreichende Vorsorge für seine Angehörigen hat treffen können (vgl. auch die Entscheidung des 5. Senats des BSG zu § 613 RVO in SozR Nr. 1).

Kommt sonach entgegen der Auffassung der Beklagten im vorliegenden Fall die Gewährung einer laufenden Beihilfe an die Klägerin in Betracht, so hat die Beklagte nunmehr erneut zu prüfen und entscheiden, ob sie - falls ein Härtefall gegeben ist - im Rahmen ihres Ermessens eine solche Leistung gewährt. Die Ausführungen der Beklagten im Widerspruchsbescheid vom 13. Februar 1967 - aus dem Schreiben des Verletzten vom 3. Dezember 1963 werde geschlossen, daß dieser bisher selbständiger Handwerker und somit nicht längere Zeit ohne Einkommen gewesen sei - stellen für sich allein keine ausreichende Berücksichtigung der Umstände des Falles dar, zumal da die Klägerin hat vortragen lassen, daß ihr Ehemann seit seinem zweiten Unfall - 1931 - keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgegangen sei.

Die Revision der Beklagten war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670161

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