Leitsatz (amtlich)

Zur Frage des Versicherungsschutzes für Unternehmer bei Tätigkeiten, die der Regelung von "Vermögensangelegenheiten" dienen.

 

Normenkette

RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Juni 1960 wird aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 24. August 1959 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens und des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die Klägerin ist die Witwe des am 22. April 1904 geborenen und am 7. Oktober 1957 infolge eines Verkehrsunfalles verstorbenen Jann W. Sie ist der Auffassung, der tödliche Unfall ihres Ehemannes sei ein Arbeitsunfall gewesen und beansprucht Hinterbliebenenrente und Sterbegeld.

Das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Niedersachsen enthält folgende tatsächlichen Feststellungen:

"Am 20. Dezember 1956 eröffnete der Ehemann der Klägerin in seinem früher als Schuhgeschäft betriebenen Laden in Wiesmoor, Kreis Aurich, die Gastwirtschaft "…". Zu diesem Zwecke nahm er bei der B.- und St. P.-Brauerei in Hamburg, Niederlassung Jever, ein Darlehen von 6.000,- DM auf. Aus dem Darlehnsvertrag vom 8. Januar 1957 folgt, daß sich der Ehemann der Klägerin unter anderem bei Vermeidung einer Vertragsstrafe verpflichtete, mindestens bis zum 31. Dezember 1961 seinen gesamten Bedarf an Bier und sonstigen von der Brauerei hergestellten Getränken ausschließlich von der B.-St. P.-Brauerei zu beziehen. In den §§ 12 und 13 dieses Vertrages ist weiter bestimmt, daß der Ehemann der Klägerin verpflichtet sei, die ausdrückliche Zustimmung der Brauerei einzuholen, wenn er während der Vertragsdauer die Absicht habe, sein Geschäft zu veräußern, zu verpachten oder aus einem sonstigen Rechtsgrund einem Dritten zu überlassen, bzw. die Führung des Geschäftes einer anderen Person zu übertragen. Aus Krankheits- und anderen Gründen entschloß sich der Ehemann der Klägerin etwa im Sommer 1957 seine Gastwirtschaft zu verpachten oder zu verkaufen. Mit der Vermittlung eines entsprechenden Interessenten beauftragte er den Auktionator M in Neuenburg, und wegen der Befreiung aus dem Darlehensvertrag wurde für ihn der Rechtsanwalt und Notar B in Aurich tätig. Ein am 12. August 1957 mit dem Gastwirt Hermann A in Rastede abgeschlossen gewesener Grundstücksveräußerungsvertrag (Nr. 227 der Urkunden-Rolle des Notars B), der das im Eigentum des Ehemanns der Klägerin gestandene und im Grundbuch von Wiesmoor Band 10 Blatt 263 eingetragene Grundstück - bestehend aus einem Garten und Wohnhaus mit Geschäftsräumen - betraf, mußte rückgängig gemacht werden, weil in ihm die Rechte der Brauerei nicht gewahrt waren. Im September 1957 trat nun der Ehemann der Klägerin erneut an den Auktionator M heran, der ihm auch Kaufinteressenten nachwies. Um eine sich bietende Verkaufsmöglichkeit zu besprechen, begab sich der Ehemann der Klägerin am Vormittag des 7. Oktober 1957 zu dem Auktionator nach Neuenburg. Er wurde mit einem von seinem Sohn Heinz W gelenkten Motorrad dort hingebracht. Nachdem die Verhandlungen mit dem Auktionator M. gegen 12.00 Uhr beendet waren, beabsichtigte der Ehemann der Klägerin zur B.-St. P.-Brauerei nach Jever zu fahren, um dort, wie der Sohn Heinz bei seiner Vernehmung am 28. November 1957 angab, Rücksprache wegen des ihm bewilligten Darlehns zu nehmen. Auf den Wege dorthin, und zwar auf der Straße zwischen Neuenburg und Marx in Höhe von Fuhrenkamp, fuhr der Sohn der Klägerin beim Überholen eines Lastkraftwagens auf dessen Anhänger auf, als dieser plötzlich nach links abbog. Dadurch stürzte das Motorrad, der Ehemann der Klägerin geriet unter die Räder des Anhängers und wurde überfahren. Er verstarb an der Unfallstelle."

Die Beklagte lehnte die Entschädigungsansprüche durch Bescheid vom 4. Juli 1958 mit folgender Begründung ab: Der Tod des Ehemannes der Klägerin sei nicht die Folge eines zu entschädigenden Arbeitsunfalles. Die Besprechung mit dem Auktionator M über die Aussichten über den Verkauf der Gaststätte habe der Regelung von vermögensrechtlichen Angelegenheiten gedient, deshalb nicht dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung unterlegen, auch wenn sie gewisse Beziehungen zum Betrieb gehabt habe.

Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht (SG) Aurich erhoben. Dieses hat durch Urteil vom 24. August 1959 den Bescheid vom 4. Juli 1958 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin vom 7. Oktober 1957 an Sterbegeld und Hinterbliebenenrente zu gewähren. Zur Begründung hat das SG ausgeführt: Die Wahrnehmung von Vermögensangelegenheiten gehöre zwar grundsätzlich zum persönlichen Bereich eines Versicherten, der dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht unterliege. Jedoch bestehe dann Versicherungsschutz, wenn die Vermögensangelegenheiten zum fachlichen Teil des Unternehmens gehörten. Ob die Fahrt zum Auktionator M. zum fachlichen Teil des Betriebes gehöre, könne dahingestellt bleiben, denn auf alle Fälle zähle hierzu die Fahrt nach Jever. Durch den Vertrag über die Bierbezugsverpflichtung hätten unmittelbare betriebliche Beziehungen zwischen der Gaststätte und der Brauerei bestanden. Selbst wenn man die Darlehensabwicklung nicht dem fachlichen Teil des Gaststättenbetriebes zurechnen wolle, ergäbe sich ein Versicherungsschutz für die Fahrt nach Jever, denn sowohl die Fahrt nach Jever als auch die Besprechung beim Auktionator m hätten der Abwicklung des Betriebes gedient. Die Besprechung in Neuenburg habe den Abschluß eines Vertrages über die Veräußerung der Gastwirtschaft nebst Grundstück bezweckt. Nach dem Vertrag mit der Brauerei wäre aber der Ehemann der Klägerin nur dann von seiner Haftung frei geworden, wenn die Brauerei mit dem Wechsel des Gaststätteninhabers einverstanden gewesen sei.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung zum LSG Niedersachsen eingelegt. Das LSG hat durch Urteil vom 14. Juni 1960 das Urteil des SG Aurich aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Revision ist vom LSG zugelassen worden.

Zur Begründung hat das LSG u. a. ausgeführt: Die Fahrt, auf der sich der Unfall ereignet habe, habe einem Doppelzweck gedient. Der Ehemann der Klägerin sei nach Jever gefahren, um die Zustimmung der Brauerei zu der beabsichtigten Geschäftsübergabe und der Änderung des Vertragsverhältnisses zu erwirken. Denn das sei Voraussetzung für den angestrebten Verkauf des Grundstücks gewesen. Nach Neuenburg sei der Ehemann der Klägerin gefahren, um über die Vorbereitung des Grundstücksverkaufs zu verhandeln. Diese Fahrt habe den persönlichen Interessen, nämlich der Abwicklung einer vermögensrechtlichen Angelegenheit gedient. Denn die Schaffung der Voraussetzungen für den Verkauf des Grundstücks mit Betriebsräumen sei keine betriebliche Tätigkeit, die den Gastwirtschaftsbetrieb unmittelbar gefördert habe. Es handele sich vielmehr um eine reine Vermögensangelegenheit. Derartige Angelegenheiten seien aber selbst dann nicht geschützt, wenn sie gewisse Beziehungen zu dem versicherten Betrieb hätten. Die Auffassung des SG, daß alle Tätigkeiten, die der Schließung eines Unternehmens dienen, genauso wie die Vorbereitungstätigkeiten versichert seien, treffe nicht zu. Die Verhandlung mit dem Auktionator M habe nicht den Zweck gehabt, den Gastwirtschaftsbetrieb zu schließen, sondern das Grundstück nebst Gastwirtschaft zu verkaufen. Sowohl bei der Eröffnung als auch bei der Schließung eines Betriebes stünden die damit zusammenhängenden Tätigkeiten nur unter Versicherungsschutz, wenn sie mit den fachlichen Verrichtungen, d. h. der üblichen Arbeit eines Gastwirts wesentlich gleichartig seien. Verhandlungen über Kaufverträge, erst recht, wenn sie den Betrieb im ganzen betreffen, seien aber nicht derartige fachlich gleichartige Tätigkeiten. Der Weg zum Auktionator M habe daher nicht nach § 542 Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz gestanden. Ob die beabsichtigte Verhandlung mit der Brauerei in Jever als betriebliche Tätigkeit anzusehen sei, könne dahingestellt bleiben; denn auch dann sei die Fahrt nach Jever nur so weit versichert gewesen als sie zu diesem Zweck zurückgelegt werden mußte. Das sei aber nur der direkte Weg von Wiesmoor nach Jever über Friedeburg. Während der aus anderen Gründen unternommenen Abwege sei dieser Betriebsweg unterbrochen gewesen. Der Weg des Ehemanns der Klägerin am 7. Oktober 1957 lasse sich eindeutig in unternehmensbedingte und betriebsfremde Teile zerlegen. Der Weg von Wiesmoor bis Friedeburg sei ein versicherter Betriebsweg gewesen, wenn man unterstellt, daß die Fahrt nach Jever mit dem Gastwirtschaftsbetrieb in Zusammenhang stand. Dagegen habe der Weg von Friedeburg nach Neuenburg privaten Interessen gedient und sei ebenso wie der Rückweg von Neuenburg bis Friedeburg nicht versichert gewesen. Da der Unfall sich auf diesem Rückweg nach Friedeburg ereignet habe, sei im Zeitpunkt des Unfalls der versicherte Betriebsweg noch nicht wieder aufgenommen gewesen.

Die Klägerin, der dieses Urteil am 18. Juli 1960 zugestellt worden ist, hat hiergegen mit einem am 11. August 1960 beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und diese Revisionsschrift durch einen am 12. August 1960 eingegangenen Schriftsatz dahin ergänzt, daß beantragt wird

das Urteil des LSG aufzuheben und das Urteil des SG Aurich wiederherzustellen.

Durch einen am 16. September 1960 beim BSG eingegangenen Schriftsatz hat sie die Revision begründet.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Senat hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II.

Die durch Zulassung statthafte Revision ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden und somit zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Der durch die Satzung (§ 538 RVO) oder eine freiwillige Versicherung (§ 539 RVO) begründete Versicherungsschutz für den Unternehmer eines der allgemeinen Unfallversicherung unterliegenden Unternehmens erstreckt sich grundsätzlich nur auf die mit diesem Unternehmen im Zusammenhang stehenden Tätigkeiten. Er umfaßt also nicht die dem unversicherten Lebensbereich zuzurechnenden Verrichtungen. Hierzu gehören auch Tätigkeiten, die der Regelung von "Vermögensangelegenheiten" dienen, wenn es sich dabei um Teile des Vermögens des Unternehmers handelt, die zu dem versicherten Unternehmen nicht in Beziehung stehen, deren Erträgnisse z. B. ausschließlich für die persönliche Lebensführung des Unternehmers oder auch für andere mit dem Unternehmen nicht im Zusammenhang stehende Zwecke verwendet werden. Dagegen war die Auffassung, daß die Regelung von "Vermögensangelegenheiten" schlechthin vom Versicherungsschutz ausgenommen sei (vgl. z. B. EuM 21, 276; 26, 43), in dieser Allgemeinheit nur so lange berechtigt, als sich der Versicherungsschutz nur auf den sog. "fachlichen" Teil des Betriebes erstreckte und der sog. "kaufmännische oder verwaltende" Teil des Betriebes entweder überhaupt nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen in den Versicherungsschutz mit einbezogen war (vgl. den durch das Dritte Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 20.12.1928 - RGBl I 405 - in die RVO aF eingefügten § 539 b).

Das hat das LSG auch nicht verkannt. Jedoch hat es nach der Auffassung des erkennenden Senates zu weitgehende Anforderungen hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen der "Vermögensangelegenheit" und dem versicherten Unternehmen gestellt.

Es ist nicht, wie das LSG angenommen hat, erforderlich, daß die Vermögensangelegenheit ihrer Art nach den "fachlichen Verrichtungen (hier: übliche Arbeit eines Gastwirts)" gleichartig ist. Deshalb genügt es für die Verneinung eines Zusammenhangs mit dem versicherten Unternehmen nicht, daß Angelegenheiten dieser Art - im vorliegenden Fall Kaufverhandlungen über ein zu Wohn- und Geschäftszwecken benutztes Grundstück - auch ohne Zusammenhang mit einem versicherten Unternehmen im Rahmen der Verwaltung eines "privaten" Vermögens durchgeführt werden können, wobei zudem zu berücksichtigen ist, daß seit Inkrafttreten des 6. Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9. März 1942 - RGBl I 107 - (6. ÄndG) auch eine solche "private" Vermögensverwaltung, wenn für sie auf Grund eines Arbeits- oder Dienstverhältnisses Beschäftigte (§ 537 Nr. 1 RVO) tätig werden, "ein Unternehmen" im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung ist. Die Entscheidungen des Reichsversicherungsamts (EuM 32, 370, Berufsgenessenschaft 1935, 93; vgl. auch EuM 34, 45) und das Urteil des Bayerischen LSG vom 13. Mai 1954 (Breithaupt 1954, 1014), auf die das LSG Bezug genommen hat, berücksichtigen nach der Auffassung des erkennenden Senats die Entwicklung des Unternehmensbegriffs seit dem Inkrafttreten des 6. ÄndG nicht ausreichend (vgl. auch BSG 1, 258, 260). Tätigkeiten eines versicherten Unternehmers sind jedenfalls dann dem Unternehmen zuzurechnen, wenn das Vorhandensein des Unternehmens ein wesentlicher Anlaß für die Tätigkeit ist und diese auch für das Unternehmen Bedeutung hat (vgl. hierzu auch Spiecker in Betriebsberater 1955, 642, Anmerkung zu einem Urteil des Bayerischen LSG vom 17. März 1955). Der erkennende Senat hält auch die Auffassung der Revision nicht für gerechtfertigt, daß insoweit zwischen einer der Abwicklung des Unternehmens, das stillgelegt werden soll oder bereits stillgelegt ist, und der Verwertung des Unternehmens als Ganzes durch Verkauf oder Verpachtung zu unterscheiden sei. Auch Verhandlungen, die wie im vorliegenden Fall das Ziel haben, die Weiterführung eines in Schwierigkeiten geratenen Unternehmens dadurch zu ermöglichen, daß es insgesamt, d. h. einschließlich des für die Zwecke des Unternehmens benützten Grundstücks auf einen Käufer oder Pächter übertragen wird, sind Tätigkeiten des Unternehmers, die mit dem Unternehmen noch in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang stehen.

Das SG hat deshalb mit Recht sowohl die Fahrt von Wiesmoor nach Neuenburg als auch die anschließende Fahrt zur Verhandlung mit der Brauerei in Jever der versicherten Tätigkeit des Ehemannes der Klägerin als Unternehmer der Gastwirtschaft zugerechnet.

Die Revision der Klägerin ist begründet. Das Urteil des LSG mußte aufgehoben und die Berufung gegen das im Ergebnis zutreffende Urteil des SG zurückgewiesen werden.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens und des Revisionsverfahrens ergeht auf Grund von § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379816

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