Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 06.03.1990)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. März 1990 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Beigeladenen auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin oder der beklagte Gemeindeunfallversicherungsverband der für die Entschädigung aus Anlaß des Arbeitsunfalls des Beigeladenen vom 8. November 1985 zuständige Träger der gesetzlichen Unfallversicherung ist.

Der Beigeladene ist selbständiger Landwirt. Er ist Halter eines Pferdes, das er überwiegend bei Holzrückarbeiten einsetzt. Er stellt seit mehreren Jahren sein Pferd für den alljährlich stattfindenden, von der Ortsgemeinde H. … durchgeführten St.-Martins-Zug unentgeltlich zur Verfügung. Dabei führt er während des Umzuges das von dem Darsteller des St. Martin gerittene Pferd am Zügel.

Auf eine Bitte eines Mitglieds des Gemeinderates hin übernahm der Beigeladene diese Aufgabe auch im Jahre 1985. Nach Beendigung des Umzugs führte er das Pferd zu dem Anhänger zurück, in dem es nach Hause gefahren werden sollte. Dabei wurde er von einem Pkw angefahren und schwer verletzt.

Mit Bescheid vom 26. September 1986 übernahm die Klägerin gegenüber dem Beigeladenen für den Unfall vom 8. November 1985 die vorläufige Fürsorge gem § 1735 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und gewährte für die Zeit ab 1. April 1986 eine vorläufige Rente (§ 1585 Abs 1 RVO) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 vH.

Der Beklagte lehnte es gegenüber der Klägerin ab, die endgültige Unfallentschädigung des Beigeladenen zu übernehmen.

Daraufhin hat die Klägerin am 1. Dezember 1986 vor dem Sozialgericht (SG) die Feststellung begehrt, daß der Beklagte der für die Entschädigung des Arbeitsunfalls des Beigeladenen vom 8. November 1985 zuständige Träger der gesetzlichen Unfallversicherung ist.

Das SG hat mit Urteil vom 14. Juni 1989 dem Klageantrag entsprochen, da der Beigeladene nicht für seinen Holzrückbetrieb, sondern ehrenamtlich für die Gemeinde H. … tätig gewesen sei.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 6. März 1990). Es ist in Übereinstimmung mit der Auffassung des SG davon ausgegangen, daß der Beigeladene bei der Veranstaltung der Ortsgemeinde ehrenamtlich tätig gewesen sei. Eine unentgeltliche Tätigkeit für eine Gemeinde könne auch dann als ehrenamtliche Tätigkeit unfallversicherungsrechtlich geschützt sein, wenn sie nur gelegentlich ausgeübt werde. Ob dem Urteil des 9b-Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 26. Oktober 1983 (SozR 2200 § 539 Nr 95) zu folgen sei, daß eine ehrenamtliche Tätigkeit auch dann vorliege, wenn ein Amt iS der Rechtsprechung nicht wahrgenommen werde, könne dahinstehen; denn der Beigeladene habe ein Amt auch iS der Rechtsprechung ausgeübt.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Beklagte weiterhin geltend, die Rechtsprechung des BSG gehe bis auf das Urteil des 9b-Senats vom 26. Oktober 1983 (aa0) davon aus, daß eine ehrenamtliche Tätigkeit nicht schon dann vorliege, wenn sie unentgeltlich verrichtet werde, sondern es müsse die Ausübung eines Amtes hinzukommen. Im Gegensatz zu den von der Revision zitierten Entscheidungen des BSG habe der Beigeladene jedoch keinen das Ehrenamt kennzeichnenden Pflichtenkreis übertragen erhalten. Dem Urteil des BSG vom 26. Oktober 1983 (aa0) könne schon deshalb nicht gefolgt werden, weil der Gesetzgeber bewußt nicht jede im öffentlichen Interesse ausgeübte Tätigkeit versichert sehen wollte, wie sich daraus ergebe, daß Tätigkeiten zum Wohle der Allgemeinheit immer dann nicht unter Versicherungsschutz stünden, wenn der einzelne nicht aus Eigeninitiative heraus tätig werde, sondern im Rahmen eines Vereins. Aber selbst wenn man von diesem Urteil ausgehe, so ergebe sich aus der Gemeindeordnung von Rheinland-Pfalz kein Anhaltspunkt dafür, daß die Mitwirkung des Beigeladenen bei dem St.-Martins-Zug eine ehrenamtliche Tätigkeit bei der Wahrnehmung von Aufgaben einer Gemeinde iS der Gemeindeordnung gewesen sei. Auch ein Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO scheide aus.

Der Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts vom 6. März 1990 und das Urteil des Sozialgerichts vom 14. Juni 1989 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Beigeladene hat sich in der Sache nicht geäußert.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist nicht begründet.

Die Vorinstanzen haben mit Recht einen Versicherungsschutz des Beigeladenen nach § 539 Abs 1 Nr 13 RVO angenommen. Nach dieser Vorschrift sind gegen Arbeitsunfälle ua versichert, die für den Bund, ein Land, eine Gemeinde, einen Gemeindeverband oder eine andere Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts ehrenamtlich Tätigen, wenn ihnen nicht durch Gesetz eine laufende Entschädigung zur Sicherstellung ihres Lebensunterhaltes gewährt wird.

Der Beigeladene ist, wie schon viele Jahre vorher, auch beim St.-Martins-Zug im Jahre 1985 für die Gemeinde H. … tätig geworden. Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Mitwirkung des Beigeladenen am St.-Martins-Zug dazu bestimmt war, der Durchführung der Veranstaltung der Gemeinde H. … zu dienen. Insoweit unterscheiden sich die tatsächlichen Verhältnisse wesentlich von denen, die dem Urteil des Senats vom 22. September 1988 zugrunde liegen (SozR 2200 § 539 Nr 129). Daß der Beigeladene auch sein Pferd zur Verfügung stellte, rechtfertigt keine andere Entscheidung. Maßgebend ist hierbei, welchem Unternehmen seine Tätigkeit zuzurechnen ist. Es ist nicht ersichtlich und von der Revision auch nicht dargelegt, weshalb die Mitwirkung am St.-Martins-Zug dem Unternehmen des Beigeladenen zu dienen bestimmt gewesen sein sollte.

Die Gemeinde hat den St.-Martins-Zug im Bereich ihrer hoheitlichen Aufgaben organisiert und durchgeführt. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist es insoweit nicht entscheidend, ob Ziel dieser Veranstaltung eine für die Gemeinde wesentliche Förderung des Fremdenverkehrs war (s BSG SozR 2200 § 539 Nr 95). Christliches Brauchtum zu pflegen, kann auch dann als eine Kulturaufgabe der Gemeinde angesehen werden, wenn sie wesentlich dem kulturellen Leben der Gemeindebürger selbst dient.

Der Beigeladene ist ehrenamtlich für die Gemeinde H. … tätig geworden. Hierbei ist es rechtlich unerheblich, ob er auf Bitten oder im ausdrücklichen Auftrag der Gemeinde mitwirkte; denn der Versicherungsschutz nach § 548 iVm § 539 Abs 1 Nr 13 RVO beschränkt sich nicht auf Tätigkeiten, zu denen der Betroffene verpflichtet und mit denen er beauftragt worden ist, sondern umfaßt auch die, um die ihn eine Gemeinde bitten muß. Es sind Sinn und Zweck des § 539 Abs 1 Nr 13 RVO keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, daß ein Bürger, der zB aus persönlichen Gründen – ua wegen Erreichens einer Altersgrenze – eine früher ausgeübte ehrenamtliche Tätigkeit ablehnen könnte, aber sie dennoch weiter ausübt nur deshalb – wie der Beklagte meint – nicht mehr unter Versicherungsschutz stehen soll, weil er der Gemeinde „einfach ein ‚Nein’ hätte entgegenhalten können”. Ein Bürger, der ehrenamtlich mehr als seine Pflicht tut, kann deshalb nicht vom Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 13 RVO ausgeschlossen sein. Dem Versicherungsschutz stände dann auch nicht entgegen, wenn – wie der Beklagte meint -Förmlichkeiten bei der Bestellung für das Ehrenamt – aus den Umständen des vorliegenden Falles hier sogar verständlicherweise – nicht beachtet worden wären. Ob eine ehrenamtliche Tätigkeit iS des § 539 Abs 1 Nr 13 RVO ausgeübt worden ist, beantwortet sich nach der Auslegung der Tatbestandsmerkmale dieser Vorschrift (s BSGE 34, 163, 166).

Der erkennende Senat und der 8. Senat des BSG haben bereits mehrfach entschieden, daß der ehrenamtlichen Tätigkeit nicht nur die Ehre, sondern auch das „Amt” eigen ist; ein ehrenamtlich Tätiger nimmt ein Amt ehrenhalber wahr (s BSGE 34, 163, 164; 39, 24, 27; 40, 139, 142; BSG SozR 2200 § 539 Nr 29; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 474 k ff). Deshalb reicht es für die Annahme einer ehrenamtlichen Tätigkeit nicht aus, daß sie unentgeltlich geleistet wird (BSGE 34, 163, 165; BSG SozR 2200 § 539 Nr 95). Sonst wäre jede unentgeltliche Tätigkeit für eine Anstalt oder Körperschaft des öffentlichen Rechts sogleich eine ehrenamtliche. Der Senat hat in seinen hier zitierten Entscheidungen nicht abschließend zu den einzelnen Begriffsmerkmalen der ehrenamtlichen Tätigkeit iS des § 539 Abs 1 Nr 13 RVO Stellung zu nehmen brauchen. Im vorliegenden Fall bedarf es ebenfalls keiner abschließenden Klärung der Begriffsbestimmung. Dies gilt auch im Hinblick auf die tragenden Gründe der Entscheidung des für Angelegenheiten der gesetzlichen Unfallversicherung nunmehr nicht mehr zuständigen 9b-Senats des BSG vom 26. Oktober 1983 (SozR 2200 § 539 Nr 95), wonach eine unentgeltliche Tätigkeit für eine Gemeinde auch dann unfallversicherungsrechtlich nach § 548 iVm § 539 Abs 1 Nr 13 RVO geschützt sein kann, wenn sie nur gelegentlich ausgeübt wird. In den Entscheidungen des erkennenden und des – ebenso wie der 9b-Senat nicht mehr für Angelegenheiten der gesetzlichen Unfallversicherung zuständigen – 8. Senats des BSG sind keine Anhaltspunkte für eine andere Auffassung erkennbar, worauf auch der 9b-Senat in seinem Urteil vom 26. Oktober 1983 ausdrücklich hinweist und deshalb gleichfalls feststellt, daß er von der Rechtsprechung des erkennenden Senats nicht abweicht. Selbst eine nur einmalig ausgeübte Tätigkeit für eine Gemeinde, wie zB anläßlich einer Bundestagswahl das Amt eines Beisitzers in einem Wahllokal, kann entgegen der Auffassung des Beklagten auch dann eine ehrenamtliche iS des § 539 Abs 1 Nr 13 RVO sein, wenn aus einem besonderen Grund von vornherein abzusehen ist, daß der betreffende Besitzer dieses Amt nur einmal und auch nur für wenige Stunden ausüben wird. Der Beklagte geht deshalb zu Unrecht davon aus, der bisherigen Rechtsprechung des 2. und des 8. Senats des BSG sei als ein „übereinstimmendes Beurteilungskriterium” zu entnehmen, die ehrenamtliche Tätigkeit müsse sich über längere Zeit hinziehen. In seinem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil vom 30. April 1991 (2 RU 68/90) hat der Senat ebenfalls eine ehrenamtliche Tätigkeit nicht deshalb verneint, weil das zum Unfall führende Böllerschießen nur jährlich einmal verrichtet wurde.

Der ehrenamtlichen Tätigkeit des Beigeladenen steht nicht entgegen, daß, anders als zB bei der ehrenamtlichen Tätigkeit anläßlich einer Wahl zu einem Parlament, das Führen eines Pferdes selbst bei der Wahrnehmung öffentlich-rechtlicher Aufgaben auch in einem privaten Arbeits- oder Dienstverhältnis zur Gemeinde verrichtet werden könnte, zB wenn sich kein ehrenamtlicher Helfer gefunden hätte. Maßgebend ist, wie sie im Einzelfall ausgeübt wird. Die Mitwirkung des Beigeladenen bei dem St.-Martins-Zug liegt schon grundsätzlich eher im Bereich der Dienste, zu denen die Gemeinde ehrenamtlich Tätige heranzieht, als im Bereich von Beschäftigungen, deren Besonderheit auch einen Anhalt für die Zuordnung nach § 539 Abs 2 RVO bieten kann (BSG SozR 2200 § 539 Nr 95). Die seit vielen Jahren unentgeltlich übernommene Mitwirkung des Beigeladenen am St.-Martins-Zug unterstützt die Bewertung seiner Tätigkeit als ehrenamtlich iS des § 539 Abs 1 Nr 13 RVO ebenso wie der Umstand, daß er sein Pferd zur Verfügung stellte, ohne daß die Tätigkeit, wie bereits ausgeführt, den Interessen seiner Pferdehaltung zu dienen bestimmt war. Unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere des Anlasses, der Art und der Durchführung der dem Beigeladenen obliegenden Aufgaben, kann im Anschluß an die Entscheidungen der Vorinstanzen auch noch von einem das Ehrenamt mit kennzeichnenden unmittelbaren Aufgabenkreis gegenüber der Gemeinde ausgegangen werden. Allerdings würde die von dem Beklagten vertretene Gegenmeinung, hier liege die Wahrnehmung eines Ehrenamtes nicht vor, im Ergebnis zu keiner abweichenden Entscheidung führen. Da der Beigeladene nicht für sein Unternehmen der Pferdehaltung tätig geworden ist, läge dann eine Tätigkeit wie ein bei der Gemeinde H. … Beschäftigter iS des § 539 Abs 2 iVm Abs 1 Nr 1 RVO vor, so daß die Zuständigkeit des Beklagten ebenfalls gegeben wäre.

Die Revision des Beklagten war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

NZA 1992, 239

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