Beteiligte

Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob die Beklagte dem Kläger eine sogenannte "Treppenraupe" als Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen hat.

Der Kläger ist seit Mai 1975 als Rentner bei der Beklagten pflichtversichert. Seit 1971 leidet er an progressiver spinaler Muskelatrophie, die seit etwa 1977 so weit fortgeschritten ist, daß er sich nur mit Hilfe eines Rollstuhls fortbewegen kann. Schon vor dieser Zeit hatte der Kläger mit seiner Ehefrau und seinen beiden Kindern in B… eine zu ebener Erde liegende Eigentumswohnung bezogen. Nach seinen Angaben gehört dazu ein im Kellergeschoß des Gebäudes liegendes Zimmer, das von ihm öfters als Schlafraum benutzt wird. Von der Haustür führen sechs Treppenstufen abwärts in den Garten, von diesem aus steigen 15 Stufen zur Straße aufwärts. Die Verrichtungen des täglichen Lebens gelingen dem Kläger nur mit Hilfe seiner Ehefrau. Für die notwendigen häufigen Arztbesuche ist ein Transport mit einem Krankenfahrzeug erforderlich.

Dem Antrag des Klägers auf Übernahme der Kosten für ein hausärztlich verordnetes Zusatzgerät zu seinem Rollstuhl, mit dessen Hilfe die innerhalb und außerhalb der Wohnung befindlichen Treppen überwunden werden können ("Treppenfahrer oder Treppenraupe") lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 8. Dezember 1980 mit der Begründung ab, ein derartiges Gerät sei kein Hilfsmittel i.S. des § 182b der Reichsversicherungsordnung (RVO). Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 11. März 1981).

Das Sozialgericht (SG) München gab der hiergegen erhobenen Klage statt (Urteil des SG München vom 9. November 1981). Die hiergegen eingelegte Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg (Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts - LSG - vom 11. Mai 1983). Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt, die Treppenraupe sei entgegen der Auffassung der Beklagten ein Hilfsmittel i.S. des § 182b Satz 1 RVO. Sie diene nicht nur dazu, eine besondere Beschaffenheit der Wohnung des Klägers zu verändern, sondern sei geeignet, dem Kläger das Erreichen und Verlassen sowie die Fortbewegung in einer auf allgemein übliche Weise ausgestatteten Wohnung zu ermöglichen. Damit werde eine krankheitshalber ausgefallene Körperfunktion ersetzt, die der Befriedigung von Grundbedürfnissen des täglichen Lebens diene, Es entspreche der allgemeinen Lebenserfahrung, daß in Wohngebäuden üblicherweise die Überwindung von Höhenunterschieden erforderlich sei, die auch im allgemeinen über Treppen erfolge. Dem könne nicht entgegengehalten werden, daß es die Möglichkeit gebe, Wohngebäude stufenlos auszuführen oder nachträglich vorhandene Treppen zu beseitigen. Bei privaten Wohngebäuden sei die stufenlose Ausführung die Ausnahme. Es treffe deshalb nicht zu, daß die Treppenraupe der behindertengerechten Ausstattung der Wohnung des Klägers diene.

Die Beklagte rügt mit der zugelassenen Revision eine Verletzung des § 182b RVO sowie der gleichlautenden Vorschrift des § 14 Abs. 5 ihrer Versicherungsbedingungen. Die Treppenraupe diene wie der Treppenlift nicht der Fortbewegung überhaupt - dazu diene der Krankenfahrstuhl-, sondern der Fortbewegung in einem bestimmten, begrenzten Bereich innerhalb der Wohnung und des Wohnungsgrundstücks. Die Treppenraupe ersetze wie ein Treppenlift die für den Kläger nicht benutzbaren Treppen, sei also wie diese Teil der Wohnung oder des Wohnungsgrundstücks. Sie sei von deren Beschaffenheit abhängig und nur zur Erleichterung des Transports des Rollstuhls von Bedeutung. Bei einer ebenerdigen Wohnung und einem flachen Wohnungsgrundstück wäre die Treppenraupe nicht erforderlich; sie sei zudem nicht für jede Treppenkonstruktion verwendbar. Daß sie auch außerhalb des Wohnbereichs zur besseren Beförderung des Rollstuhls dienen könne, könne nicht dazu führen, jedem Behinderten, der auf einen Rollstuhl angewiesen sei, auch eine Treppenraupe zur Überwindung hierzu geeigneter Treppen zur Verfügung zu stellen. Dies würde das Maß des Erforderlichen i.S. von § 182b RVO und das Maß des Notwendigen i.S. von § 182 Abs. 2 RVO, der auch im Rahmen des J 182b RVO Anwendung finde, überschreiten. Der unbeschränkte Ausgleich von Krankheitsfolgen gehöre nicht zu den Aufgaben der Krankenversicherung. Insbesondere müsse die Hilfsmitteleigenschaft verneint werden, wenn dieses dem Behinderten keine größere Selbständigkeit und Unabhängigkeit verschaffe, sondern Hilfsdienste Dritter nicht nur nicht entbehrlich, sondern im Gegenteil zusätzlich notwendig mache.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. Mai 1983 sowie das Urteil des Sozialgerichts München vom 9. November 1981 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten kostenpflichtig zurückzuweisen.

Er hält den Vergleich mit dem Treppenlift für unzutreffend und trägt zur Notwendigkeit des Hilfsmittels ergänzend vor, durch die Ausstattung mit einer Treppenraupe werde die Hilfe von bisher jeweils zwei fremden Personen entbehrlich, weil seine Ehefrau die Treppenraupe ohne weiteres bedienen könne. Damit verleihe ihm die Treppenraupe durchaus auch eine größere Unabhängigkeit.

II

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht haben die Vorinstanzen den Anspruch des Klägers auf Ausstattung mit einer Treppenraupe bejaht. Sie ist für ihn ein notwendiges Hilfsmittel i.S. von §§ 182b, 182 Abs. 2 RVO.

Nach § 182b Satz 1 RVO, der hier in der bis 31. Dezember 1981 gültig gewesenen Fassung anzuwenden ist und der gemäß § 507 Abs. 4 RVO auch für die Ersatzkassen gilt, hat der Versicherte einen Anspruch auf Ausstattung mit Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die erforderlich sind, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen, den Erfolg der Heilbehandlung zu sichern oder eine körperliche Behinderung auszugleichen. Eine gleichlautende Regelung enthält § 14 Abs. 5 der Versicherungsbedingungen der Beklagten i.d.F. des hier anzuwendenden 24. Nachtrags. Im vorliegenden Fall kommt nur der Ausgleich einer Behinderung in Betracht.

Eine Treppenraupe ist geeignet, bei einem Gehunfähigen diese Behinderung wenigstens zum Teil auszugleichen. Hierbei handelt es sich nach den Feststellungen des LSG um ein Gerät, das es auf elektromechanischem Wege ermöglicht, den Behinderten mit seinem Rollstuhl über Treppenstufen fortzubewegen. Ohne eine solche Treppenraupe kann die bei der Pflege behilfliche Ehefrau des Versicherten diesen nicht aus der Wohnung heraus oder in diese zurückbefördern oder den Versicherten in Räume des Souterrains bringen. Er selbst ist infolge der fortgeschrittenen Muskelatrophie auf einen Rollstuhl angewiesen und kann sich nur mit dessen Hilfe fortbewegen.

Durch die Treppenraupe wird die krankheitsbedingt ausgefallene Gehfähigkeit des Klägers bezüglich der Überwindung von Höhenunterschieden bzw. bei der Fortbewegung über Treppen ersetzt. Daß damit dieses Gerät die körperliche Behinderung nur in geringem Umfang oder in einem bestimmten Teilbereich auszugleichen vermag, schließt den Anspruch auf Ausstattung mit dem Hilfsmittel der Treppenraupe nicht aus. Denn begrifflich muß ein Hilfsmittel nicht dazu dienen, die natürlichen Funktionen eines nicht oder nicht mehr voll funktionsfähigen Körperorgans wiederherzustellen; es reicht vielmehr aus, daß das Hilfsmittel die beeinträchtigte oder ausgefallene Funktion ermöglicht, ersetzt, erleichtert oder ergänzt (BSGE 51, 206, 207 = SozR 2200 § 182b Nr. 19; SozR 2200 § 182b Nrn. 12, 13, 17 und 24). Hierzu genügt auch der nur mittelbare Ersatz der ausgefallenen Funktion in einem geringen - funktionellen und räumlichen - Teilbereich, wie etwa bei der ausgefallenen Gehfähigkeit die begrenzte Beweglichkeit durch einen Badhelfer oder Krankenlifter (BSG SozR 2200 § 187 Nr. 3; 2200 § 182b Nr. 20). Wie für diese Geräte, die nur dem Heben vom Rollstuhl in das Bett bzw. in die Badewanne dienen, anerkannt ist, reicht es auch für die Hilfsmitteleigenschaft der Treppenraupe aus, daß sie nur zu einem beschränkten Funktionsausgleich führt und nicht - wie der Rollstuhl selbst - allgemein die Fortbewegung ermöglicht.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Treppenraupe auch nicht lediglich eine Hilfe bei der Beschaffung und Erhaltung einer den besonderen Bedürfnissen des Behinderten entsprechenden Wohnung, für die nach § 29 Abs. 1 Nr. 3 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) i.V.m. § 40 Abs. 1 Nr. 6a Bundessozialhilfegesetz (BSHG) nicht die Träger der Krankenversicherung, sondern ausschließlich die Sozialhilfeträger zuständig wären. Anders als z.B. der Einbau eines Treppenlifts (vgl. BSG SozR 2200 § 182b RVO Nr. 23) dient die Treppenraupe nicht dazu, eine besondere Beschaffenheit der Wohnung des Klägers zu verändern bzw. seinen besonderen Bedürfnissen anzupassen, sondern ist generell geeignet, dem Kläger das Erreichen und Verlassen jeder auf übliche Weise eingerichteten Wohnung zu ermöglichen. Es handelt sich nach den Feststellungen des LSG um ein mobiles Gerät, das weder mit der Wohnung des Klägers fest verbunden ist noch nach seiner Beschaffenheit auf den Gebrauch innerhalb der konkreten Wohnung des Klägers bzw. seines Wohnungsgrundstücks beschränkt ist; die Treppenraupe ist vielmehr geeignet, bei jeder gewöhnlichen Treppe eingesetzt zu werden und kann - jedenfalls innerhalb der Wohnung und des Wohnungsgrundstücks des Klägers, aber auch außerhalb dieses Bereichs - variabel zur Überwindung vorhandener Treppen benutzt werden. Der Umstand, daß die Treppenraupe auf gekrümmten Treppen, insbesondere Wendeltreppen, und auf Treppen, die mit losem Stoff bespannt sind, nicht verwendbar ist, begrenzt den Einsatz des Gerätes nicht auf die klägerische Wohnung. Denn dadurch wird die Verwendbarkeit für sonstige allgemein üblich gestaltete Wohnungen nicht eingeschränkt. Daß es auch Wohnungen gibt, die für Rollstuhlfahrer die Benutzung einer Treppenraupe nicht erfordern, macht dieses Gerät nicht zu einem Mittel der behindertengerechten Zurichtung der Wohnung. Abgesehen davon, daß diese regelmäßig mit einer Änderung der Wohnung selbst verbunden ist (vgl. BSG SozR 2200 § 182b Nr. 10), handelt es sich um derartige Mittel der Wohnungsfürsorge im Rahmen der Eingliederungshilfe für Behinderte nur dann, wenn es nur in der konkreten Wohnung (Wohngrundstück) wegen deren besonderer Beschaffenheit erforderlich ist, nicht aber, wenn es typischerweise und erfahrungsgemäß auch in anderen Wohnungen bzw. Wohngebäuden eines solchen Hilfsmittels bedarf. Das ist aber, wie das LSG zutreffend und unangegriffen angenommen hat, der Fall; denn in Wohngebäuden ist, wenn nicht in der Wohnung selbst, so doch jedenfalls beim Verlassen und Wiedererreichen der Wohnung im allgemeinen die Überwindung von Höhenunterschieden erforderlich, die auch üblicherweise über Treppen erfolgt. Stufenlose Wohnungen bzw. Wohngrundstücke sind jedenfalls zur Zeit noch keineswegs allgemein üblich. Deshalb ist die Treppenraupe nicht wegen einer "besonderen Beschaffenheit" der Wohnung bzw. des Wohnungsgrundstücks des Klägers erforderlich. Sie ist auch nicht Teil der Wohnung oder des Grundstücks, sondern als "Zusatzgerät" zum Rollstuhl wie dieser ein selbständiges Hilfsmittel i.S. von § 182b RVO.

Die Ausstattung des Klägers mit einer Treppenraupe verstößt auch nicht gegen das Gebot des § 182 Abs. 2 RVO, der auch im Rahmen des § 182b RVO Anwendung findet. Sie ist ausreichend und zweckmäßig und überschreitet nicht das Maß des Notwendigen. Ein Behinderter hat Anspruch auf diejenige Leistung, die geeignet ist, das Ziel der Krankenpflege im Hinblick auf Art und Schwere der Erkrankung am wirtschaftlichsten herbeizuführen (BSG SozR 2200 § 182b Nr. 9). Im vorliegenden Fall erfüllt nur eine Treppenraupe diese Voraussetzungen, weil nur dieses Gerät den Kläger in die Lage versetzt, ohne Hilfe Außenstehender die Wohnung zu verlassen und zu ihr zurückzukehren und ihm damit ermöglicht, elementare Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Zu Recht hat das LSG insoweit angenommen, daß es zu den Grundbedürfnissen des Menschen gehört, seine Wohnung verlassen zu können. Damit wird zugleich sein Freiraum im Rahmen einer normalen Lebensführung erweitert und nicht nur ein Ausgleich der Folgen und Auswirkungen der Behinderung in besonderen Lebensbereichen bewirkt, der außerhalb des Aufgabenbereichs der Krankenversicherung liegt (vgl. BSG SozR 2200 § 182b Nr. 17). Daß der Kläger seinen Rollstuhl bei Einsatz der Treppenraupe nicht durch eigene Kraft bewegen kann, sondern auf die Hilfe seiner Ehefrau und den elektromechanischen Antrieb der Treppenraupe angewiesen ist, ist sowohl für die Frage der Hilfsmitteleigenschaft als auch für die Frage der Notwendigkeit des Hilfsmittels unerheblich (BSG SozR 2200 § 182b Nr. 16). Es mag sein, daß - wie die Beklagte meint - die Selbständigkeit und der Freiraum des Behinderten durch die Treppenraupe nur relativ unwesentlich erweitert wird. Die Beurteilung dieser Frage kann jedoch nur unter Berücksichtigung des Grades der Behinderung erfolgen, die im vorliegenden Fall nach Art und Stärke derart ist, daß zur Überwindung von Treppen jeweils zwei Personen - derzeit Hilfskräfte des Roten Kreuzes - angefordert werden müssen, um den Behinderten aus dem Rollstuhl zu heben und über die Treppen zu tragen. Insoweit bedeutet die durch die Treppenraupe verminderte Abhängigkeit von fremden Hilfspersonen - mag sie auch nur geringfügig sein - für den Behinderten einen erheblichen Freiraum, denn sie bewirkt eine Unabhängigkeit von fremden Pflegekräften, weil die Ehefrau nunmehr allein die Treppenraupe bedienen und den Kläger mit dem Rollstuhl über die Treppe befördern kann. Die Ehefrau und die Kinder des Klägers sind nach den Feststellungen des LSG nicht in der Lage, den Kläger aus eigener Kraft ohne Hilfsmittel über die vorhandenen Treppen zu befördern. Bei dieser Sachlage hat das LSG dahingestellt sein lassen können, ob die Notwendigkeit eines derartigen Hilfsmittels auch dann noch zu bejahen wäre, wenn ständig männliche erwachsene Familienangehörige anwesend wären, die den Kläger über die vorhandenen Treppen tragen könnten.

Nach allem war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.8 RK 27/83

Bundessozialgericht

Verkündet

am 22. Mai 1984

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518499

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