Entscheidungsstichwort (Thema)

Neurotischer Beschwerdekomplex

 

Leitsatz (amtlich)

Zum Erfordernis tatsächlicher Feststellungen für die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Neurose des Versicherten dessen Berufsunfähigkeit begründet.

 

Leitsatz (redaktionell)

Wenn der Versicherte die seelischen Hemmungen aus eigener Kraft überwinden kann, dann ist ihm die Überwindung der Hemmungen in jedem Fall zuzumuten. Es geht zu Lasten des Rentenbewerbers, wenn sich trotz sorgfältiger Ermittlungen bei kritischer Würdigung der Verfahrensergebnisse eine Vortäuschung nicht ausschließen läßt.

 

Normenkette

AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 163 Fassung: 1958-08-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 21. Juni 1966 aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin wegen neurotischer Störungen Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht.

Die Klägerin ist 1921 geboren und 1951 von der DDR nach West-Berlin verzogen. Sie war von 1937 bis zum zweiten Weltkrieg als Kontoristin und im Kriege als Luftwaffenhelferin beschäftigt. 1945 heiratete sie, 1952 wurde sie geschieden. Danach arbeitete sie zeitweise noch als Notstandsangestellte. Pflichtbeiträge zur Angestelltenversicherung sind für über 60 Monate für die Klägerin entrichtet worden.

Mit Bescheid vom 6. November 1962 lehnte die Beklagte den im Juni 1962 gestellten Rentenantrag wegen fehlender Berufsunfähigkeit der Klägerin ab. Das Sozialgericht verurteilte die Beklagte, ab 1. Juni 1962 Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Beklagten und die Anschlußberufung der Klägerin, mit der diese Rente wegen Erwerbsunfähigkeit begehrte, zurück. Zur Zurückweisung der Berufung der Beklagten erklärte das LSG, es lege seiner Entscheidung die übereinstimmend erhobenen Feststellungen der Gutachter (Psychiater) Dr. W und Dr. N zugrunde, die auch die Auswirkungen der Folgen übereinstimmend beurteilten. Danach werde der Gesundheitszustand der Klägerin durch einen neurotischen Beschwerdekomplex beeinträchtigt, der zwei Komponenten aufweise: einen neurotischen Kern und eine ihm aufgepfropfte rententendenziöse Kampfhaltung. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (SozR Nr. 11 zu § 1254 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF, BSG 21, 189) stelle bei der Frage nach dem Krankheitswert (der versicherungsrechtlichen Bedeutung) von Neurosen darauf ab, ob dem Versicherten ohne Rücksicht auf seine Erkenntnisfähigkeit trotz seiner Veranlagung noch zugemutet werden könne, die vorhandenen Hemmungen soweit zu überwinden, daß er noch ausreichend erwerbsfähig sei. Das LSG kenne zwar die Auffassung namhafter Psychiater, daß Begehrensvorstellungen und final ausgerichtete Neurosen keine Krankheiten im medizinischen Sinn und deshalb nicht zu "honorieren" seien; es sehe deswegen aber keinen zwingenden Anlaß, von der ständigen Rechtsprechung des BSG abzuweichen. Danach müsse bei der Klägerin Berufsunfähigkeit anerkannt werden. Sie sei infolge ihrer Fehlhaltung nicht in der Lage, mit den Mitteln ihres Willens ihre Hemmungen zu überwinden, auch nicht unter ärztlicher Mithilfe oder dem Druck äußerer Ereignisse, etwa durch Versagung der Rente. Ihre Erwerbsfähigkeit sei seit 1960 geringer als die Hälfte der Erwerbsfähigkeit einer gesunden kaufmännischen Bürokraft. Das LSG ließ die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der entschiedenen Rechtsfrage zu, "ob einer zur Zeit nicht mehr behebbaren Leistungsminderung, die zumindest auf ein zeitweilig bewußt- und zielgerichtetes Verhalten zurückzuführen ist - mit anderen Worten "einer rententendenziösen Kampfhaltung" -, im Sinne der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung versicherungsrechtlich ebenfalls Krankheitswert zukommt".

Mit der Revision beantragt die Beklagte,

unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen.

Sie rügt eine Verletzung des § 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und des § 23 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Die Feststellung des LSG, daß die Klägerin ihre Hemmungen nicht überwinden könne, unterstelle nicht vorhandene Prognosemöglichkeiten und widerspreche außerdem dem Gedanken der Willensfreiheit. Aber selbst die vom LSG getroffenen Feststellungen ergäben keine wesentliche Leistungsminderung der Klägerin. Die vorliegende psychogene Wunsch- und Zweckreaktion habe weder medizinisch noch versicherungsrechtlich einen Krankheitswert. Solche Reaktionen seien grundsätzlich Simulation bzw. Aggravation und darüber hinaus durch aktives Handeln (Rentenbegehren) geformt. Die Klägerin sei für die bewußte Rententendenz und deren Folgen voll verantwortlich. Diese Eigenverantwortlichkeit müsse von der Rechtsprechung stärker gewürdigt werden.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Senat mußte das Urteil des LSG aufheben und den Rechtsstreit zu neuer Entscheidung an das LSG zurückverweisen. Dabei brauchte der Senat auf die Verfahrensrüge der Beklagten nicht einzugehen. Die Entscheidung rechtfertigte sich schon daraus, daß die tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht für die Beurteilung ausreichen, ob die Klägerin seit dem 1. Juni 1962 berufsunfähig ist. Die Feststellungen des LSG enthalten Unklarheiten und Lücken, die das BSG nicht beheben kann.

Aus dem Berufungsurteil ist als Überzeugung des LSG zwar zu entnehmen, daß der Gesundheitszustand der Klägerin durch einen neurotischen Beschwerdekomplex mit einem neurotischen Kern und einer aufgepfropften rententendenziösen Kampfhaltung beeinträchtigt werde. Hierbei stützt sich das LSG auf angeblich übereinstimmende Feststellungen der Gutachter Dr. W und Dr. N die in Wahrheit jedoch nicht bestehen. Nach den im Berufungsurteil wiedergegebenen Ausführungen der Gutachter hat nur Dr. W die erste Komponente des Beschwerdebildes als unbewußten neurotischen Kern bezeichnet, dessen Entwicklung auf die Änderung der Lebensumstände seit 1951 zurückgehe; Dr. N hat demgegenüber jedoch eine Kernneurose angenommen, weil er die Wurzeln der Fehlentwicklung bis in die Kindheit zurückführt. Das LSG hat die Bezeichnung von Dr. W übernommen, ohne auf die unterschiedliche Diagnose einzugehen. Es hat sich aber auch nicht mit der Ansicht Dr. W befaßt, daß die Auswirkungen des neurotischen Kerns auf die Erwerbsfähigkeit der Klägerin keinen wesentlichen Einfluß haben, ihre Erwerbsfähigkeit, wie er in seinem Gutachten mehrfach verdeutlicht, vielmehr nicht beeinträchtigen; ob das LSG diese Auffassung teilt, bleibt zweifelhaft.

Auch bei der zweiten Komponente ist nicht klar, ob die Gutachter bei ihrer Beurteilung übereinstimmen. Dr. W hat sie als rententendenziöse Kampfhaltung bezeichnet, ihm ist das LSG gefolgt; demgegenüber ist in dem Gutachten von Dr. N von "zweck- und wunschbetonten Mechanismen" die Rede, die von der zugrunde liegenden Störung der Erlebnisverarbeitung nur schwer zu trennen seien.

Bei der rechtlichen Beurteilung hat das LSG geglaubt, es stimme mit den Grundsätzen überein, die der Senat im Urteil vom 1. Juli 1964 (BSG 21, 189) entwickelt hat. Dem ist jedoch nicht zuzustimmen. Es ist schon mindestens mißverständlich, wenn es in dem Urteil des LSG heißt, das BSG stelle darauf ab, ob dem Versicherten die Überwindung seiner Hemmungen noch "zugemutet" werden könne. Der Senat hat es für erheblich erklärt, ob der Versicherte die seelischen Hemmungen aus eigener Kraft (oder unter ärztlicher Mithilfe) überwinden kann. Wenn der Versicherte das kann, dann ist ihm die Überwindung der Hemmungen in jedem Fall zuzumuten, dann hat er dazu auch alle verfügbaren "Mittel seines Willens" einzusetzen. Wichtiger noch erscheint jedoch der Hinweis, daß der Senat im Urteil vom 1. Juli 1964 den vorgetäuschten Störungen (Simulationen, Aggravationen) schlechthin jeden Krankheitswert abgesprochen hat. Der Senat hat bei der Prüfung, ob seelische Störungen wirklich vorliegen, einen strengen Maßstab verlangt und darauf hingewiesen, daß es zu Lasten des Rentenbewerbers gehe, wenn sich trotz sorgfältiger Ermittlungen bei kritischer Würdigung der Verfahrensergebnisse eine Vortäuschung nicht ausschließen lasse. In dem angefochtenen Urteil hat das LSG die Vortäuschung von Störungen durch die Klägerin aber überhaupt nicht erörtert. Die Feststellungen der Sachverständigen schließen eine solche keineswegs aus. Nach ihren Darlegungen täuscht die Klägerin offenbar in nicht geringem Maße Störungen vor. Dr. W führt in seinem Gutachten aus, daß ihre Antriebskräfte bei Darstellung und Durchsetzung des Leidensgefühls kräftig mitwirken und daß sie auch ihre Willenskraft dafür nütze. Er spricht von zahlreichen psychogendemonstrativen Fehlleistungen, von demonstrativ-darstellerischer Verhaltensweise, von korrekturbedürftigen Ausführungen bei Funktionsprüfungen (z. B. Heben des Armes nur bis zur Horizontalen), von zeitweilig demonstrativen Husten, von bewußt- und zielgerichteter Tendenz, von aktivem und passivem Widerstand usw.; im Gegensatz zur "nicht bewußten" Fehlhaltung bei der ersten Komponente bezeichnet er die ganze zweite Komponente sogar als eine "bewußte" rententendenziöse Fehlhaltung. Auch nach dem Gutachten von Dr. N ist das Zustandsbild mit groben demonstrativen "aggravations- und simulationsnahen" Tendenzen durchsetzt; er meint, die Klägerin sei nicht arbeitswillig. Er verneint zwar eine "isolierte Simulation", berücksichtigt dabei aber nicht, daß eine Simulation auch vorliegen kann, wenn die Klägerin von der Rechtmäßigkeit ihres Rentenanspruchs überzeugt ist; trotzdem kann sie Störungen simulieren. Die Frage der Vortäuschung von Störungen bedurfte hiernach zumindest einer eingehenden Prüfung. Die Feststellung des LSG, daß die Klägerin infolge ihrer Fehlhaltung nicht in der Lage sei, mit den Mitteln ihres Willens ihre Hemmungen zu überwinden, reicht somit für eine zutreffende rechtliche Beurteilung nicht aus. Es fehlt bisher an einer klaren tatsächlichen Entscheidungsgrundlage. Das LSG muß noch feststellen, inwieweit seelische Störungen wirklich vorhanden sind und inwieweit sie die Erwerbsfähigkeit der Klägerin mindern. Nach den vorliegenden Ausführungen der Sachverständigen mag es sein, daß ein Teil der Störungen (Hemmungen) innerhalb der zweiten Komponente des Beschwerdebildes der Klägerin nicht bewußt ist und daß sie diese weder aus eigener Kraft noch unter ärztlicher Mithilfe überwinden kann. Inwieweit diese Störungen aber die Erwerbsfähigkeit der Klägerin bis zur Berufsunfähigkeit mindern, ist offen. Nur wenn das zu bejahen wäre, bestünde tatsächlicher Anlaß zur Prüfung, ob einer unbewußten rententendenziösen Kampfhaltung ebenfalls Krankheitswert im Sinne des § 23 Abs. 2 AVG beigemessen werden müßte. Möglicherweise wäre dann ein Sachverhalt gegeben, dessen Beurteilung der Senat im Urteil vom 1. Juli 1964, BSG 21, 189, ausdrücklich offengelassen hat. Der Senat ließ damals dahingestellt, wie zu entscheiden ist, wenn ein Versicherter ursprünglich, um Rente zu erlangen, Störungen vorgetäuscht hat, sein Verhalten dann aber der willkürlichen (bewußten) Einwirkung entglitten ist. Nach der Begründung der Revisionszulassung durch das LSG ist es nicht ausgeschlossen, aber auch nicht eindeutig, daß das LSG einen solchen Sachverhalt hat feststellen wollen. In diesem Falle wäre in der Tat ernsthaft zu fragen, ob die Versichertengemeinschaft auch für eine so entstandene Minderung der Erwerbsfähigkeit einstehen müßte.

Das Urteil des LSG war deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Bei der erneuten Entscheidung wird das LSG ferner über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens mitzubefinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2285120

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