Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 28.03.1990)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. März 1990 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die Entschädigung eines Unfalls als Arbeitsunfall.

Der im Jahre 1936 geborene Kläger ist selbständiger Versicherungsvertreter und bei der Beklagten freiwillig versichert. Er hatte sich für den 19. März 1988 gegen 21.30 Uhr mit Versicherungskunden in einer Gaststätte in Schweinfurt verabredet, um den Abschluß neuer Versicherungsverträge zu besprechen. Die Kunden erschienen jedoch nicht, ohne den Kläger darüber zu unterrichten. Gegen 0.35 Uhr begab er sich auf den Heimweg, zunächst als Mitfahrer in einem Pkw. Auf dem weiteren Heimweg zu Fuß sprach er die Zeugin M …, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite in entgegengesetzter Richtung lief, an, ob sie „allein sei oder schon einen Freier” habe. Sie erwiderte, sie sei ohne Begleitung und auf dem Weg in eine nahegelegene Diskothek. Daraufhin überquerte der Kläger schräg die Straße in entgegengesetzter Richtung. Nach einer Strecke von ungefähr 13 Metern kurz vor Erreichen des jenseitigen Gehsteiges blieb er plötzlich stehen, wurde von einem Pkw erfaßt und schwer verletzt. An den Unfall und die Umstände, warum er die Straße überquerte, kann sich der Kläger nach seinen Einlassungen nicht mehr erinnern.

Mit Bescheid vom 27. September 1988 lehnte die Beklagte Entschädigungsleistungen ab. Vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht (LSG) ist die Klage ohne Erfolg geblieben (Urteile vom 19. Januar 1989 und 28. März 1990). Das LSG hat ausgeführt, der Kläger habe den an sich als Betriebsweg zur versicherten Tätigkeit gehörenden Weg (§ 548 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) aus privaten Gründen nicht nur geringfügig unterbrochen. Zwar bleibe der Versicherungsschutz grundsätzlich solange erhalten, wie der Versicherte bei einem eingeschobenen Weg aus privaten Gründen den öffentlichen Verkehrsraum nicht verlassen habe. Die versicherungsrechtlich unschädliche Bewegungsfreiheit innerhalb des öffentlichen Verkehrsraumes ende jedoch dort, wo eine dem versicherten Weg entgegengesetzte oder von diesem fortführende Richtung eingeschlagen werde. Dies stelle eine so gravierende Zäsur dar, daß es auch auf die Distanz des zurückgelegten Weges nicht ankomme. Hinsichtlich des damit nicht mehr entscheidungserheblichen zeitlichen Kriteriums bei der Beurteilung der Geringfügigkeit der Unterbrechung könne aus den festgestellten Fakten keinesfalls abgeleitet werden, daß der Kläger nur eine zeitlich geringfügige eigenwirtschaftliche Unterbrechung vorgehabt hätte. Es bestehe daher insoweit ein Zustand der Beweislosigkeit. Die objektive Beweislast für das Vorliegen der den Versicherungsschutz erhaltenden Geringfügigkeit der eigenwirtschaftlichen Unterbrechung trage aber der Kläger.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 548 RVO und des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Durch das Überqueren der Straße sei der Versicherungsschutz nicht unterbrochen worden. Im Zeitpunkt des Unfalls sei er nur leicht von seinem bisherigen Heimweg abgewichen. Dies und auch der Umstand, daß er schräg zurückgegangen sei, stelle keine deutliche Zäsur als Voraussetzung der Unterbrechung des Versicherungsschutzes dar. Zudem habe er den öffentlichen Verkehrsraum nicht verlassen. Im übrigen habe das LSG den Grundsatz der objektiven Beweislast falsch ausgelegt. Die einzig mögliche Erklärung, warum er auf der Straße plötzlich stehen geblieben sei, bestehe darin, daß er habe umkehren wollen. Die hier bestehende Beweisnot gebiete, dies als erwiesen anzusehen. Damit habe er sich wieder auf dem versicherten Heimweg befunden. Davon abgesehen habe das LSG unter Verstoß gegen § 103 SGG keinen Beweis darüber erhoben, ob sich aus der Art der Verletzungen entnehmen lasse, daß er sich bereits wieder dem Heimweg zugewendet habe.

Der Kläger beantragt,

die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Entschädigungsleistungen aus dem Unfall vom 20. März 1988 zu gewähren.

Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt und sich auch nicht zur Sache geäußert.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist nicht begründet.

Der Kläger hat keinen Anspruch, wegen des Unfallereignisses vom 20. März 1988 aus der gesetzlichen Unfallversicherung entschädigt zu werden. Wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben, erlitt der Kläger keinen Arbeitsunfall, als er von dem Pkw angefahren wurde und sich dabei Verletzungen zuzog.

Arbeitsunfall ist nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in §§ 539, 540, und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Nach § 550 Abs 1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit.

Aufgrund der Feststellungen des LSG läßt sich zwar nicht feststellen, ob der Kläger sich auf dem Heimweg von einer Betriebsstätte (hier die Gaststätte in Schweinfurt) – Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO – oder auf einem Betriebsweg – Versicherungsschutz nach § 548 Abs 1 RVO – (zur Abgrenzung s Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung,

11. Aufl,S 481q/r) befand. Diese Frage kann indessen dahinstehen. Denn nach den vom Senat zum Versicherungsschutz auf Wegen nach und von dem Ort der Tätigkeit entwickelten und grundsätzlich – mit den hier nicht wesentlichen Einschränkungen – auch für Betriebswege anwendbaren Grundsätzen (s BSG Urteil vom 31. Januar 1984 – 2 RU 83/82 – USK 8410 und Brackmann aaO S 481 t, 482 b) bestand jedenfalls im Zeitpunkt des Unfalls für den Kläger kein Unfallversicherungsschutz. Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, hat der Kläger den an sich zur versicherten Tätigkeit gehörenden Weg nach Hause aus privaten Gründen unterbrochen, indem er die Fahrbahn überquerte und dabei eine Richtung einschlug, die ihn von seiner Wohnung wegführte. Durch diese Änderung des zunächst eingeschlagenen Weges hat der Kläger den inneren Zusammenhang zur geschützten Tätigkeit und damit seinen Versicherungsschutz unterbrochen.

Allerdings hat das Bundessozialgericht (BSG) im Anschluß an das Reichsversicherungsamt (RVA) in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß ganz kurze und geringfügige Unterbrechungen den Zusammenhang des Weges mit der Betriebstätigkeit selbst dann nicht beseitigen, wenn sie eigenwirtschaftlicher Natur sind. Es kommt darauf an, ob die Unterbrechungen üblicherweise örtlich und zeitlich noch als Teile des Weges in seiner Gesamtheit angesehen werden können (BSG SozR Nrn 5 und 28 zu § 543 RVO aF; BSG Urteil vom 29. August 1974 – 2 RU 177/72 – USK 74119; BSG SozR 3 2200 § 550 Nr 1; s RVA EuM 30, 321, 322; Brackmann aaO S 487e mwN). Das ist in „natürlicher Betrachtungsweise” (BSG Urteil vom 18. Dezember 1974 – 2 RU 37/73 – USK 74212) wertend zu entscheiden; dabei sind Unterbrechungen, die wesentlich allein dem privaten Bereich zuzurechnen sind, grundsätzlich nur dann noch als Teile des versicherten Weges in seiner Gesamtheit anzusehen, wenn sie zeitlich und räumlich nur ganz geringfügig waren und Verrichtungen dienten, die „im Vorbeigehen” und „ganz nebenher” erledigt werden (BSG SozR 2200 § 550 Nr 44; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung,

3. Aufl, § 550 Anm 17; Brackmann aaO S 487f mwN). Diese Voraussetzungen sind nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht nachweisbar.

Der Richtungswechsel innerhalb eines grundsätzlich versicherten Heimweges, mit dem der Versicherte sich von seiner Wohnung entfernt, bewirkt eine deutliche Zäsur, weil er sich damit, anders als etwa der Umweg, sowohl nach seiner Zielrichtung als auch nach seiner Zweckbestimmung von dem zunächst eingeschlagenen Heimweg unterscheidet. Dies allein reicht für die Unterbrechung des Versicherungsschutzes aus, so daß es auf die Länge eines solchen „Abweges” grundsätzlich nicht mehr ankommt (BSG Urteil vom 30. Januar 1963 – 2 RU 7/60 –; Lauterbach/Watermann aaO § 550 Anm 19 Ziff 5; KassKomm-Ricke § 550 RVO RdNr 24). Dementsprechend hat der Senat eine in den Heimweg eingeschobene Rückfahrt von 10 bis 40 Metern als rechtlich bedeutsame Unterbrechung des geschützten Weges angesehen (Urteil vom 31. Juli 1985 – 2 RU 63/84 – USK 85252).

Die Revision weist zwar zutreffend darauf hin, daß die infolge einer privaten Verrichtung notwendige – räumliche -Unterbrechung des Weges grundsätzlich erst dann beginnt, wenn der Versicherte den öffentlichen Verkehrsraum verlassen hat (BSG SozR 2200 § 550 Nr 77; BSGE 49, 16, 18). Bleibt allerdings der Versicherte zwar im Bereich des öffentlichen Verkehrsraums auf seinem Weg, aber auch nicht mehr zur Fortsetzung seines Weges von dem Ort der Tätigkeit in der bisherigen Richtung zu seiner Wohnung, sondern geht er auf diesem Weg in entgegengesetzter Richtung eine Strecke nur aus privaten Gründen und nicht nur zu einer Verrichtung so „im Vorbeigehen” zurück, so ist eine rechtlich erhebliche Unterbrechung eingetreten, die regelmäßig nicht als geringfügig anzusehen ist (BSG SozR 2200 § 550 Nr 24; BSG Urteil vom 26. Mai 1977 – 2 RU 97/75 – USK 77139; Brackmann aaO S 487e mwN). Nach den Feststellungen des LSG hat hier der Kläger die Straße weder in Richtung seiner Wohnung noch bei Fortsetzung seines Heimweges rechtwinklig (s BSG Urteil vom 31. Januar 1984 – 2 RU 83/82 – USK 8410), sondern in entgegengesetzter Richtung überquert. Bereits mit dem ersten Schritt in entgegengesetzter Richtung zu einer nicht nur geringfügigen Unterbrechung wird der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit gelöst und der Versicherungsschutz entfällt, auch wenn der öffentliche Verkehrsraum nicht verlassen wird. Zwar kann aus der Richtung des Abweges allein nicht zwangsläufig auf eine nur geringfügige Unterbrechung geschlossen werden. Das LSG hat aber auch insoweit die gesamten Umstände des vorliegenden Falles berücksichtigt. Es ist dabei in verfahrensrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, daß auch die sonstigen Umstände nicht darauf schließen lassen, daß die nachgewiesene Unterbrechung vom Kläger als nur geringfügig vorgesehen war. Die objektive Beweislast für das Vorliegen der Tatsachen, welche die Annahme einer nur geringfügigen Unterbrechung gestatten, trägt jedoch der Kläger (Brackmann aaO S 479 h VI ff).

Entgegen der Auffassung der Revision ist es dementsprechend auch unerheblich, ob der Kläger im Augenblick des Zusammenpralls mit dem Pkw sich bereits umgedreht hatte, um wieder weiter nach Hause zu gehen. Selbst in diesem Fall wäre die Unterbrechung des Heimweges noch nicht beendet gewesen. Damit geht auch die in diesem Zusammenhang von der Revision erhobene Rüge fehlerhafter Ermittlungen durch das LSG (§ 103 SGG) fehl. Die durch einen „Abweg” bewirkte Unterbrechung des Weges endet erst dann, wenn der Versicherte wieder den Ausgangspunkt oder eine sonstige dem Versicherungsschutz unterliegende Wegstrecke erreicht hat. Die Geringfügigkeit oder Erheblichkeit einer Unterbrechung kann nur bei Berücksichtigung ihrer Gesamtheit richtig beurteilt werden. Demzufolge darf die Unterbrechung bei der anschließenden rechtlichen Wertung nicht wieder in Teile von unterschiedlicher rechtlicher Bedeutung zerlegt werden. Anderenfalls werden dem Weg von oder zur Arbeitsstätte oder dem versicherten Betriebsweg willkürlich Abschnitte zugerechnet, denen der innere Zusammenhang mit der Tätigkeit des Versicherten fehlt (BSG Urteil vom 31. Juli 1985 – 2 RU 63/84 – USK 85252). Bei einem „Abweg” in der hier vorliegenden Form bedeutet dies, daß sowohl der Hinweg zu dem eingeschobenen Ziel als auch der Rückweg zum Ausgangspunkt als Einheit den Unterbrechungstatbestand ausfüllen. Denn der gesamte eingeschobene Weg, wozu auch der Rückweg gehört, wird geprägt durch die Eigenwirtschaftlichkeit als das die Unterbrechung verursachende Element.

Die Revision des Klägers ist deshalb unbegründet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173571

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