Entscheidungsstichwort (Thema)

Kassen-, Vertragsarzt. Wirtschaftlichkeitsprüfung. Beschwerdeausschuß, -kommission. Bescheid. verspätete Absetzung. Fehlen von Gründen. Fünf-Monats-Frist

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Bescheid der Beschwerdeinstanz in der kassen- bzw vertrags (zahn)ärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung ist als nicht mit Gründen versehen anzusehen, wenn er später als fünf Monate nach der Beschlußfassung zum Zwecke der Zustellung zur Post gegeben wird (Anschluß an und Fortführung von BSGE 72, 214 = SozR 3-1300 § 35 Nr 5).

 

Normenkette

SGB X §§ 35, 42; ZPO §§ 516, 552

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 18.05.1994; Aktenzeichen L 7 Ka 530/93)

SG Frankfurt am Main (Urteil vom 07.04.1993; Aktenzeichen S 28 Ka 3049/90)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Mai 1994 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger dessen Aufwendungen für das Revisionsverfahren zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Kläger ist seit Anfang 1986 als Frauenarzt zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Die Prüfungskommission für Ersatzkassen bei der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) setzte gegen den Kläger für die Quartale IV/86 und II/87 Arzneimittelregresse wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise in Höhe von 1.512,-- DM und 1.322.-- DM fest (Bescheide vom 5. Januar 1988 und 10. Juni 1988). Für das Quartal I/87 sah die Prüfungskommission von einer Prüfung ab (Bescheid vom 7. April 1988). Der Kläger legte gegen die Prüfbescheide für die Quartale IV/86 und II/87 jeweils Widerspruch ein. Gegen den Bescheid für das Quartal I/87 erhob der zu 1) beigeladene Ersatzkassenverband Widerspruch. Die Prüfungskommission half den Widersprüchen nicht ab. Nach mündlicher Verhandlung beschloß die Beschwerdekommission am 7. Februar 1990, auf die Widersprüche des Klägers die angefochtenen Bescheide abzuändern und die Arzneimittelregresse auf 661,50 DM für IV/86 und 266,40 DM für II/87 festzusetzen. Auf den Widerspruch des Beigeladenen zu 1) setzte die Beschwerdekommission für das Quartal I/87 einen Regreß in Höhe von 1.333,80 DM fest. Der schriftliche Bescheid vom 23. August 1990 wurde dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 24. August 1990 zugestellt.

Während das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen hat (Urteil vom 7. April 1993), hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG sowie den Beschluß der Beschwerdekommission vom 7. Februar 1990 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, über die eingelegten Widersprüche neu zu entscheiden (Urteil vom 18. Mai 1994). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, gemäß § 35 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) sei ein schriftlicher Verwaltungsakt schriftlich zu begründen. Der angefochtene Beschluß der Beklagten sei als nicht mit Gründen versehen anzusehen, weil die am 7. Februar 1990 gefaßte Entscheidung erst am 23. August 1990 und damit mehr als fünf Monate nach der Entscheidung schriftlich niedergelegt und den Beteiligten zugestellt worden sei. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ (Urteil vom 21. April 1993 – 14a RKa 11/92) seien hinsichtlich der Abfassung der tragenden Gründe der Entscheidung der Beschwerdekommission dieselben Anforderungen wie an ein Urteil zu stellen. Nach der Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 27. April 1993 (GmS-OGB 1/92) sei hierfür eine Zeitspanne von fünf Monaten als zulässig anzusehen. Diese Frist sei auf die Absetzung von Entscheidungen der Beschwerdekommission zu übertragen. Die ausführliche Protokollierung vor der Beschwerdekommission rechtfertige keine andere Beurteilung. Auch in diesen Fällen könne mit Ablauf der Zeit das Erinnerungsvermögen daran nachlassen, auf welche Gründe das Beratungsergebnis gestützt worden sei, zumal das Protokoll über die Sitzung der Beschwerdekommission keine Angaben zu den Gründen der Entscheidung enthalte. Bei der Anwendung der Fünf-Monats-Frist auf die Entscheidung des Beklagten handele es sich nicht um die Einführung einer neuen Verfahrensfrist. Vielmehr werde erst nachträglich beurteilt, ob die angefochtene Entscheidung mit Gründen versehen sei, so daß sich die Beklagte nicht auf einen Vertrauensschutz für die ihr zur Verfügung stehende Zeit zum Absetzen der Entscheidung berufen könne.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung materiellen Rechts. Die für die Absetzung gerichtlicher Entscheidungen geltende Fünf-Monats-Frist könne nicht schematisch auf die Frist zur Absetzung von Verwaltungsentscheidungen übertragen werden. Anders als die gerichtliche Verfahrensordnung enthalte das Verwaltungsverfahrensgesetz keine Regelung, nach der Tatbestand und Entscheidungsgründe alsbald nachträglich niederzulegen seien. Zwar sei eine Vergleichbarkeit der Entscheidungen der Beschwerdekommission mit der Entscheidung eines Gerichts insoweit gegeben, als in beiden Fällen ein Kollegialorgan die Entscheidung treffe und im Hinblick auf die Übereinstimmung zwischen der Beschlußfassung und der schriftlichen Niederlegung der Gründe eine Frist festzulegen gewesen sei, nach der eine solche Entscheidung als nicht mehr mit Gründen versehen anzusehen sei. Um den gewünschten Zweck zu erreichen, sei aber die bisher von der Rechtsprechung gewährte Ein-Jahres-Frist zur Absetzung der Entscheidung ausreichend. Eine Verkürzung der Frist auf fünf Monate erweise sich nicht als sachgerecht. Selbst wenn man im Anschluß an die Entscheidung des GmS-OGB auch für das Verfahren vor dem Beschwerdeausschuß eine Absetzungsfrist von fünf Monaten annehmen wolle, könne dies im vorliegenden Fall nicht zur Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides führen. Die rückwirkende Anwendung einer anderen Verfahrensfrist außerhalb von gerichtlichen Verfahren sei überraschend und deshalb unzulässig.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Mai 1994 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 7. April 1993 zurückzuweisen,

hilfsweise, das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Beigeladene zu 1) schließt sich den Ausführungen der Beklagten an.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Zutreffend hat das LSG entschieden, daß der Bescheid der Beschwerdekommission rechtswidrig ist, weil er auf Grund des Zeitraums von mehr als fünf Monaten zwischen Beschlußfassung und Absetzung des schriftlichen Bescheides entgegen § 35 Abs 1 SGB X nicht mit Gründen versehen ist. Das ergibt sich aus folgendem:

Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 21. April 1993 – 14a RKa 11/92 – ≪BSGE 72, 214 = SozR 3-1300 § 35 Nr 5≫ und – 14a RKa 5/92 – ≪nicht veröffentlicht≫) war ein Bescheid des Beschwerdeausschusses bzw der Beschwerdekommission in der kassen- bzw vertrags(zahn)ärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht mit Gründen versehen und deshalb wegen eines Verstoßes gegen § 35 Abs 1 SGB X rechtswidrig, wenn zwischen Beschlußfassung und Zustellung des schriftlichen Bescheides ein Jahr oder mehr vergangen war. Das BSG hatte insoweit die – frühere – Rechtsprechung mehrerer oberster Gerichtshöfe des Bundes, nach der ein Urteil nicht mit Gründen versehen war, wenn zwischen seinem Erlaß und seiner Zustellung ein Jahr oder mehr vergangen war, auf die Absetzung von Bescheiden des Beschwerdeausschusses bzw der Beschwerdekommission im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung übertragen. Zur Begründung hat das BSG in den genannten Entscheidungen darauf hingewiesen, es sei ein wesentliches Merkmal der kassen- bzw vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung nach der Methode des statistischen Vergleichs, daß den Prüfgremien Beurteilungs- und Ermessensspielräume eingeräumt seien. Wegen der deshalb nur eingeschränkt möglichen gerichtlichen Überprüfung dieser Bescheide seien, ausgehend von den Anforderungen an die Begründung von Ermessensentscheidungen (§ 35 Abs 1 Satz 3 SGB X), an die Begründung der die Wirtschaftlichkeitsprüfung abschließenden Entscheidung der Beschwerdeinstanz besondere Anforderungen zu stellen. Aus ihnen ergäben sich auch zeitliche Grenzen für die Abfassung und Zustellung von Bescheiden des Beschwerdeausschusses bzw der Beschwerdekommission. Die auf den Inhalt der Begründung konzentrierte gerichtliche Überprüfung setze voraus, daß die dem Bescheid beigefügte Begründung mit dem Inhalt des von den Mitgliedern des Beschwerdeausschusses bzw der Beschwerdekommission kollegial gefaßten Beschlusses übereinstimme. Dem Bescheid komme ebenso wie dem gerichtlichen Urteil in besonderer Weise eine Beurkundungsfunktion zu. Die Begründung eines Bescheides, die keine Gewähr dafür biete, daß sie das Abstimmungsergebnis in der jeweiligen Beschwerdeinstanz und die hierfür maßgebenden Gründe verläßlich wiedergebe, sei für eine gerichtliche Überprüfung untauglich. Eine erhebliche zeitliche Verzögerung bei der Bescheidabfassung begründe Zweifel an dem Erinnerungsvermögen derjenigen, die den Bescheid abgefaßt hätten. Deshalb sei die Übertragung der für die Absetzung von Urteilen geltenden Frist geboten. Dem stünden Besonderheiten des Verwaltungsverfahrens nicht entgegen, weil hier – anders als sonst üblich – Kollegialorgane mit quasi-justitiellen Funktionen Verwaltungsentscheidungen träfen (BSGE 72, 214, 216 ff = SozR 3-1300 § 35 Nr 5).

Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Er führt sie in Anknüpfung an die danach ergangene Entscheidung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (Beschluß vom 27. April 1993 – BVerwGE 92, 367 = SozR 3-1750 § 551 Nr 4) dahin fort, daß ein Bescheid des Beschwerdeausschusses bzw der Beschwerdekommission im Rahmen der kassen- bzw vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung dann nicht mit Gründen iS des § 35 Abs 1 SGB X versehen ist, wenn zwischen Beschlußfassung und Aufgabe des Bescheides zur Post zum Zwecke der Zustellung an die Beteiligten mehr als fünf Monate vergangen sind. Der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat in dem genannten Beschluß entschieden, daß die Zeit für die nachträgliche Abfassung, Unterzeichnung und Übergabe eines bei Verkündung noch nicht vollständig abgesetzten Urteils auf längstens fünf Monate zu begrenzen ist. Aus der Regelung in den §§ 516, 552 Zivilprozeßordnung ergebe sich, daß nach Auffassung des Gesetzgebers die den Urteilsgründen zukommende Beurkundungsfunktion bei einer um mehr als fünf Monate verzögerten Absetzung nicht mehr in jedem Fall gewährleistet sei. Ein Urteil, bei dem Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht innerhalb der Fünfmonatsfrist schriftlich niedergelegt, von den Richtern unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden seien, müsse deshalb so behandelt werden, als ob es nicht mit Gründen versehen sei. Dieser Rechtsprechung hat sich das BSG in mehreren Urteilen angeschlossen (vgl Urteil vom 14. September 1994 – 3/1 RK 36/93 – ≪BSGE 75, 74, 75 = SozR 3-2500 § 33 Nr 12, mwN). Nachdem sich an den Gründen für die Übertragung der für die Urteilsabsetzung geltenden Grundsätze auf die Abfassung von Beschlüssen der Beschwerdeausschüsse und Beschwerdekommissionen im Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung nichts geändert hat, ist es geboten, aus Gründen der Rechtsvereinheitlichung und Rechtsklarheit nunmehr auch insoweit eine Frist von fünf Monaten anstelle der bisherigen Jahresfrist vorzusehen. Wird diese Frist zwischen der Beschlußfassung des Beschwerdeausschusses bzw der Beschwerdekommission und der Aufgabe des schriftlich ausgefertigten Bescheides zur Post zum Zwecke der Zustellung überschritten, ist der Bescheid nicht ordnungsgemäß begründet und damit rechtswidrig. Er kann dann auch nicht unter Berufung auf § 42 Satz 1 SGB X aufrechterhalten werden, weil im Hinblick auf die den Prüfgremien bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung zustehenden Beurteilungs- und Ermessensspielräume die Möglichkeit einer abweichenden Sachentscheidung nicht auszuschließen ist.

Im vorliegenden Fall ist der angefochtene Bescheid nicht innerhalb einer Fünf-Monats-Frist seit der Beschlußfassung zur Post gegeben worden. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Beschwerdekommission den Beschluß am 7. Februar 1990 getroffen. Der Bescheid ist aber erst unter dem Datum vom 23. August 1990 ausgefertigt und frühestens zu diesem Zeitpunkt zur Post gegeben worden. Er ist deshalb zu Recht vom LSG aufgehoben worden.

Nach allem war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 946337

BSGE, 300

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