Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 12.11.1970)

 

Tenor

Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12. November 1970 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Am 14. Mai 1965 erlitt der Arbeiter Clemens K. in dem von den Klägern zu 1) bis 3) gemeinsam betriebenen Unternehmen, Firma Anton F. und Söhne, einen tödlichen Unfall, als er beim Bedienen eines Baukranes eine Hochspannungsleitung berührte. Die Beklagte gewährte den Hinterbliebenen (Witwe und Waisen) Leistungen aus der Rentenversicherung der Arbeiter. Mit Schreiben vom 10. Februar 1966 und 23. Mai 1967 machte die Beklagte gegen die Kläger einen Ersatzanspruch gemäß § 640 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wegen der von ihr bereits erbrachten und noch zu erbringenden Leistungen geltend, da die Kläger den Unfall grob fahrlässig herbeigeführt hätten.

Die dagegen beim Sozialgericht (SG) bzw. Landessozialgericht (LSG) eingelegte Klage und Berufung sind erfolglos geblichen. Das SG Freiburg (Urteil vom 24. September 1968) und das LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 12. November 1970) haben übereinstimmend den Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit hinsichtlich der Abs. 1 und 2 des § 640 RVO nicht für gegeben erachtet und sich hierfür der herrschenden Meinung angeschlossen.

Die Kläger haben die – vom LSG zugelassene – Revision eingelegt und tragen zur Begründung vor: Der in § 640 Abs. 1 RVO geregelte Rückgriffsanspruch weiche in vielen Einzelheiten von einem zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch ab, die insgesamt die Zugehörigkeit des Anspruchs zum öffentlichen Recht bewirkten. Die Rechtsnatur des § 640 Abs. 1 RVO sei bis heute in der Rechtslehre umstritten. Er sei seinem öffentlich-rechtlichen Rechtscharakter entsprechend systematisch zutreffend in die RVO, einem öffentlich-rechtlichen Sozialgesetz, eingeordnet. Wie bei § 710 RVO verfolge der Sozialversicherungsträger mit der Erhebung des Ersatzanspruchs wegen des deliktischen Verhaltens des Schädigers eine erzieherische Funktion. Der öffentlich-rechtliche Charakter des Anspruchs könne nicht mit dem Hinweis auf ein mangelndes Gewaltunterordnungsverhältnis verneint werden. Auch im öffentlichen Recht gebe es durchaus gleichgeordnete und mitgliedschaftlich organisierte Subjekte und Rechtsträger. Die Regierung habe bei den Beratungen des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzses (UVNG) aus irgendwelchen unerfindlichen, praktikablen Erwägungen heraus gegen die zutreffende Auffassung des Bundesrats keine gesetzliche Änderung der gerichtlichen Zuständigkeit herbeigeführt.

Erst recht müsse § 640 Abs. 2 RVO seinem Charakter und seiner Form nach als Verfahrensregelung im Bereich des Sozialrechts dem öffentlichen Recht zugeordnet werden. Die Begründung zum Gesetzentwurf zeige, daß der Sozialversicherungsträger die Frage des Verzichts gemäß § 640 Abs. 2 RVO mit den Mitteln des ihm eigenen Verwaltungshandelns zu entscheiden habe. Daher sei eine vorhergehende Beschlußfassung der Vertreterversammlung oder des Vorstandes erforderlich. Ein angemessener und sachgerechter Rechtsschutz erfordere eine gerichtliche Nachprüfung des Verwaltungshandelns unter Berücksichtigung des pflichtgemäßen Ermessens durch die speziell für diese Frage eingerichteten Sozialgerichte, die über besondere Erfahrungen in der öffentlichen Verwaltung auf sozialem Gebiet und der Daseinsvorsorge verfügten.

Die Kläger beantragen,

  1. die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12. November 1970 und des Sozialgerichts Freiburg vom 24. September 1968 aufzuheben.
  2. Die Beklagte zu verurteilen, auf Ersatz der bereits erbrachten und noch zu erbringenden Leistungen aus Anlaß des tödlichen Unfalls des Arbeiters Clemens K. vom 14. Mai 1965 zu verzichten,

    hilfsweise,

    festzustellen, daß sie nicht verpflichtet seien, der Beklagten die Leistungen zu erstatten, die sie aus Anlaß des tödlichen Unfalls des Arbeiters Clemens K. vom 14. Mai 1965 erbracht hat und noch erbringen werde,

    weiter hilfsweise,

    die Beklagte zu verurteilen, den Antrag vom 11. Mai 1967 auf Verzicht der Beklagten auf Ersatz der erbrachten und noch zu erbringenden Leistungen durch die Beklagte unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden,

    äußerst hilfsweise,

    anstelle der Anträge zu Ziffer 1) und 2), das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12. November 1970 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Vorhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Baden-Württemerg zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12. November 1970 zurück zuweisen.

Sie halt das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die zugelassene Revision ist nicht begründet.

Für den mit der Klage geltend gemachten Verzicht (§ 640 Abs. 2 RVO) auf den Ersatzanspruch (§ 640 Abs. 1 RVO) ist, wie die Vorinstanzen zutreffend angenommen haben, der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht gegeben. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit entscheiden nach § 51 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der Sozialversicherung. Die Entscheidung über den Verzicht auf den Ersatzanspruch (§ 640 Abs. 2 RVO) steht nach der Auffassung des Senats in einem so engen Sachzusammenhang mit dem Ersatzanspruch des § 640 Abs. 1 RVO, daß die Rechtsnatur der Verzichtsentscheidung maßgeblich von der Rechtsnatur des Ersatzanspruchs beeinflußt wird (vgl. BGHZ 57, 96, 100 ff).

Der Senat sieht in Übereinstimmung mit der in ständiger Rechtsprechung vertretenen Auffassung des Bundesgerichtshofs – BGH – und Bundesarbeitsgerichts – BAG – (BGHZ VersR 1956, 36 ff; 1957, 180 f; 1963, 243 ff; 1968, 64 ff; BGHZ 57, 96 ff; BGHZ MDR 1973, 922 f; BAG VersR 1968, 296 ff = SAE 68, 140 ff) sowie der herrschenden Meinung in der Literatur (Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 23 zu § 640; Gotzen-Doetsch, Kommentar zur Unfallversicherung, S. 179, Anm. zu § 640; Bereiter-Hahn, Unfallversicherung, 2. Aufl., Anm. 1 zu § 640; Haase/Koch, Unfallversicherung, § 640; Miesbach/Baumer, Die gesetzliche Unfallversicherung, Anm. 6 zu § 640; Noell Breitbach, Landwirtschaftliche Unfallversicherung, Anm. 8 zu § 640; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.–7. Aufl., Stand, 15. August 1973, S. 190 h XII u. XIII; Gunkel, Die Haftung von Unternehmern und Betriebsangehörigen, 2. Aufl., S. 47, 60; WzS 1964, 65 ff; Seitz, Die Ersatzansprüche des Sozialversicherungsträgers nach §§ 640 und 1542 RVO, 2. Aufl., S. 213; Elleser, Soz.Vers. 1963, 217; 1964, 38 f; 1967, 42 ff; BB 1964, 1493 ff; BB 1965, 378; BG 1966, 271 ff; Mittelmeier, VersR 1967, 935 ff; 1969, 876 ff; Wolber, Soz.Vers. 1967, 238 f; Brox, DB, 1966, 489 ff; Sieg, DB, 1960, 1327 ff; Bichoff, BG 1968, 112 ff; Marschall von Bieberstein, VersR 1968, 509 ff m. teilw. a. Meinung unter versicherungsrechtlichen Aspekten; Vollmar, VersR 1964, 29 f; Schmalzl, Soz. Vers. 1965, 28; Plessen, WzS 1964, 334 f; Baumeister, Diss., Die Rechtsnatur, der Ausschluß und die Einschränkungen des Rückgriffsanspruchs der Sozialversicherungsträger nach § 640 RVO, 1968; Wussow, Unfallhaftpflichtrecht, 10. Aufl., S. 726; BG 1964, 408 ff; Geigel, Haftpflichtprozeß, 13. Aufl., S. 881. Anderer Meinung: Gitter, SGb 1963, 404 ff; Linthe, BABl 1963, 343; Sanden, VersR 1968, 12 ff; Feyock, NJW 1964, 1706 ff; Ilgenfritz, NJW 1963, 1046 ff; BB 1963, 403 ff; WzS 1964, 257 ff, 335 f; OKK 1966, 297 ff; Neumann-Duesberg, VersR 1969, 103 ff; Sondermann, Der Ersatzanspruch gemäß § 640 RVO, 1970, 4 ff, 52, 53; Hofmann, VersR 1959, 871 ff; Ebel, VersR 1951, 281 ff) den Ersatz- bzw. Rückgriffsanspruch des § 640 Abs. 1 RVO im Hinblick auf seinen Inhalt und rechtlichen Charakter als einen privat-rechtlichen Anspruch an.

Die entscheidenden Gesichtspunkte für die Rechtsnatur des Rückgriffsanspruchs ergeben sich aus dem Zusammenhang der §§ 1542, 636, 637 und 640 RVO. Soweit ein Versicherungsträger bei einem Arbeitsunfall dem Versicherten oder seinen Hinterbliebenen nach der RVO Leistungen gewährt hat, geht deren bürgerlich-rechtlicher Schadensersatzanspruch gegen den Schädiger gemäß § 1542 RVO auf den Versicherungsträger über. Ein solcher Übergang des Schadensersatzanspruchs findet jedoch nicht statt, wenn der Schädiger der Unternehmer ist, in dessen Betrieb der Versicherte beschäftigt ist, oder wenn er ein in demselben Betrieb tätiger Betriebsangehöriger ist, da deren bürgerlich-rechtliche Haftung durch die §§ 636, 637 RVO unter den dort näher geregelten Voraussetzungen beschränkt ist. Statt dessen haften diese Schädiger bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Herbeiführung des Arbeitsunfalls nach § 640 Abs. 1 RVO den Trägern der Sozialversicherung: für alles, was diese nach Gesetz oder Satzung infolge des Arbeitsunfalls aufwenden müssen. Während also die RVO einerseits die bürgerlich-rechtliche Haftung der in den §§ 636, 637 RVO aufgeführten Schädiger gegenüber den Versicherten, deren Angehörigen und Hinterbliebenen beschränkt, bestimmt das Gesetz andererseits zum Ausgleich dafür die Haftung der Schädiger gegenüber den Trägern der Sozialversicherung. Es ist kein einleuchtender Grund ersichtlich, warum der – originäre – Anspruch aus § 640 Abs. 1 RVO eine andere Rechtsnatur haben soll als der, an dessen Stelle er getreten ist. Bei gleicher Zielrichtung sind in beiden Fällen eine nach bürgerlichem Recht zu beurteilende Unfallverursachung und Verantwortlichkeit des Anspruchsgegners Anspruchsvoraussetzung. Dem entsprechend deutet schon die systematische Stellung des § 640 Abs. 1 RVO im Ersten Teil, Dritter Abschnitt des Dritten Buches auf die privat-rechtliche Rechtsnatur des Rückgriffsanspruchs hin. Die in den vorangehenden §§ 636, 637 RVO unter A) geregelte Haftungsbefreiung der Unternehmer und Betriebsangehörigen bezieht sich anerkanntermaßen auf die Haftung nach bürgerlich-rechtlichen Vorschriften, denn es handelt sich um in der Person der Verletzten sowie deren Angehörigen und Hinterbliebenen nach den Haftungsvorschriften außerhalb der RVO entstandene bürgerlich-rechtliche Schadensersatzansprüche. Schon deshalb liegt es nahe, daß sich die unter B) stehenden Vorschriften der RVO, welche die Haftung gegenüber den Trägern der Sozialversicherung betreffen, ebenfalls auf die bürgerlich-rechtliche Haftung beziehen. Dies entspricht auch dem Inhalt des § 640 Abs. 1 RVO, der auf die Haftungsbeschränkung durch die §§ 636, 637 RVO Bezug nimmt und für den Fall eines vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verhaltens eine Haftung gegenüber dem Versicherungsträger statuiert (vgl. Brackmann, aaO, S. 190 h XII; Brox, aaO, S. 489).

Die typenmäßige Einordnung des originär durch die RVO geschaffenen Rückgriffsanspruchs als Anspruch auf Ersatz mittelbaren Schadens (vgl. BGH VersR 1957, 180; BGHZ 57, 314, 317) oder Unterfall der Drittschadensliquidation (vgl. Wussow, BG 1964, 410; Brox, aaO, S. 489) oder Aufwendungsersatzanspruch (vgl. Sieg, DB 1960, 1328, 1329) kann dahingestellt bleiben, da sie den privat-rechtlichen Rechtscharakter des Ersatzanspruchs nicht verändert.

Zwar ist der nur den Sozialversicherungsträgern zustehende Ersatzanspruch nicht abtretbar (vgl. Lauterbach, aaO, § 640, Anm. 23), und der Einwand des Mitverschuldens bleibt ausgeschlossen (vgl. BGHZ 57, 314, 317). Diese Ausgestaltung des Ersatzanspruchs verändert aber nicht seinen privat-rechtlichen Charakter. Der Rückgriffsanspruch ist kein Sonderrecht, das nur den Versicherungsträgern als Hoheitsträgern eingeräumt werden könnte, vielmehr steht den Versicherungsträgern der Ersatzanspruch aufgrund ihrer Vorleistungen an die Verletzten, deren Angehörige und Hinterbliebene zu. Die Beschränkung auf die Anspruchsberechtigten ergibt sich aus der Natur der Sache. Möglicherweise mag bei der Ausgestaltung des Ersatzanspruchs die soziale Funktion und Sonderstellung der Versicherungsträger mit berücksichtigt sein. Aber selbst gewisse Sonderrechte des öffentlich-rechtlichen Rechtssubjektes in im übrigen eindeutig privat-rechtlichen Rechtsverhältnissen verändern deren Rechtscharakter nicht (vgl. Wolff, Verwaltungsrecht I, 6. Aufl., 1965, S. 87).

Die Ziel- und Zweckrichtung des Anspruchs ist bürgerlich-rechtlicher Art. Den Sozialversicherungsträgern ist in erster Linie aus finanziellen Erwägungen ein Ersatzanspruch gegen die Schädiger gegeben. Als Zweck steht ihre Schadloshaltung zum Ausgleich für die infolge des Arbeitsunfalls erwachsenen Aufwendungen im Vordergrund (BGHZ 57, 314, 316; BGH BG 1973, 534). Ohne den Rückgriffsanspruch gemäß § 640 Abs. 1 RVO würde der grob fahrlässig handelnde Schädiger entgegen allen zivilrechtlichen Haftungsregeln aufgrund der in Interesse der Beschäftigten geschaffenen Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung von der Haftung verschont bleiben und letztlich daraus seinen Vorteil ziehen. Derjenige, der den Schaden grob fahrlässig verschuldet hat, soll im Endeffekt jedoch auch dafür einstehen, indem er dem vorleistenden Versicherungsträger seine Aufwendungen ersetzt. Der Grundgedanke des § 640 Abs. 1 RVO entspringt somit eindeutig dem bürgerlichen Recht.

Demgegenüber treten, wie der BGH zutreffend ausgeführt hat (vgl. BGHZ NJW 1968, 251, 252), pönale Elemente sowie der erzieherische Zweck des § 640 RVO, z. B. für die Berufsgenossenschaften Anhaltung zur sorgfältigen Beachtung der Unfallverhütungsvorschriften, zurück und wandeln um so weniger den bürgerlich-rechtlichen Ersatzanspruch in einen öffentlich-rechtlichen um. Zwar mag der Gesetzgeber im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte (BT-Drucks. IV/938 – neu – S. 18) mit dem Rückgriffsanspruch erzieherische sowie sozial-strafrechtliche Zwecke: „§ 639 gründet sich auf die Tatsache, daß der Schädiger ein strafwürdiges Verhalten gezeigt hat” verfolgt haben. Darin kann jedoch zumindest heute nicht mehr der tragende Gedanke der Vorschrift gesehen werden. § 640 Abs. 1 RVO ist als sozial-strafrechtliche Erziehungs-Präventivnorm ungeeignet. Der Umfang der „Strafe” ist ohne Anknüpfung an den Grad des Verschuldens und der Verursachung. Die Ersatzpflicht des in Anspruch Genommenen richtet sich allein nach der Höhe der vom Versicherungsträger erwachsenen Aufwendungen. Erzieherischen Gedanken kommt zudem um so weniger Bedeutung zu, als die Möglichkeit besteht, sich gegen die privat-rechtlichen Ersatzansprüche durch eine Haftpflichtversicherung abzusichern. Das geeignete Mittel, um beispielsweise in der Unfallversicherung die Beachtung der Unfallverhütungsvorschriften zu erzwingen, stellt die speziell dafür geschaffene Ordnungsstrafe gemäß § 710 RVO dar.

Der Ersatzanspruch beruht auch nicht stets auf einem besonderen Gewaltverhältnis zwischen Sozialversicherungsträger und Ersatzpflichtigem. Dies verdeutlicht, wie der BGH zutreffend ausgeführt hat, insbesondere die Neufassung der §§ 903, 899 RVO a.F. durch § 640 RVO. Einmal ist dadurch der Kreis der ersatzpflichtigen Personen erweitert und zum anderen der Ersatzanspruch allen Versicherungsträgern, also auch den Rentenversicherungsträgern, eingeräumt worden. Obwohl der Unternehmer kein Mitglied der Krankenkasse oder des Rentenversicherungsträgers ist, steht diesen Körperschaften der Rückgriffsanspruch zu. Soweit die Unternehmer hinsichtlich der Beitragszahlung öffentlich-rechtliche Pflichten erfüllen; stehen diese in keinem Zusammenhang mit dem Ersatzanspruch. Zudem gibt es auch Fälle, in denen der Unternehmer nicht einmal Beiträge abzuführen hat, beispielsweise für Mitglieder von Ersatzkassen (§ 520 RVO).

Aus den Materialien zum UVNG ergibt sich zudem der Wille des Gesetzgebers, an dem Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten für den Rückgriffsanspruch festzuhalten. Die Bundesregierung hat den Vorschlag des Bundesrats, die Streitigkeiten über Ersatzansprüche ausdrücklich den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zuzuweisen, mit der Begründung abgelehnt, bei einem Streit über den Rückgriffsanspruch sei nur über Verschulden und Kausalität, nicht über Fragen des Sozialversicherungsrechts zu entscheiden (vgl. BT-Drucks. 11/3318, Bd. 49, Nr. 78, S. 143). Hätte der Gesetzgeber die Entscheidung über die Ersatzansprüche den ordentlichen Gerichten entziehen wollen, wäre im Hinblick auf die jahrzehntelange einhellige Praxis der Rechtsprechung eine entsprechende gesetzliche Regelung zu erwarten gewesen.

Für den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten laßt sich auch die Verweisung des § 642 Abs. 2 RVO auf § 638 RVO anführen. Hiernach gilt die Bindung des Gerichts auch für den Anspruch aufgrund des § 640 RVO. § 638 RVO setzt voraus, daß ein anderes Gericht als ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit über den Ersatzanspruch entscheidet (Brackmann, aaO, S. 190 h XIII). Zwar sind in § 638 RVO abweichend von § 901 RVO a.F. nicht mehr die „ordentlichen” Gerichte aufgeführt. Der Zusatz „ordentliches” Gericht wurde aber nur gestrichen, weil neben den ordentlichen Gerichten inzwischen auch die Gerichte für Arbeitssachen in ihrem Bereich über Schadensersatzansprüche gemäß §§ 636, 637 RVO zu befinden haben.

Für die bürgerlich-rechtliche Rechtsnatur des Rückgriffsanspruchs wird mit Recht auch angeführt, daß die Haftpflichtversicherung ihn von jeher als privat-rechtlichen Anspruch angesehen und gedeckt hat (vgl. BGHZ BG 1969, 318 f). Der Deckungsschutz durch die regelmäßig von den Unternehmern abgeschlossene Haftpflichtversicherung könnte entfallen, wenn man im Rückgriffsanspruch einen öffentlich-rechtlichen Anspruch sähe. Da es sich bei Ersatzansprüchen regelmäßig um erhebliche Beträge handelt, z. B. Rentenleistungen, könnten sich hieraus in erster Linie für die Versicherten ungedeckte Risiken ergeben.

Ausgehend von der privat-rechtlichen Rechtsnatur des Rückgriffsanspruch rechnet der Senat im wesentlichen in Übereinstimmung mit dem BGH (vgl. BGHZ VersR 1968, 373 ff; BGHZ 57, 96 ff) und der Literatur (vgl. Lauterbach, aaO, § 640, Anm. 45 unter Aufgabe früherer gegenteiliger Meinung; Bereiter-Hahn, aaO, § 640, Anm. 6; Gunkel, WzS 1964, 65 ff, 67, 68; ders., „Die Haftung von Unternehmern und Betriebsangehörigen”, 2. Aufl., S. 47, 61; Wolber, Soz.Vers. 1967, 238, 239 unter Aufgabe der früheren Meinung VersR 1967, 437; Elleser, Soz.Vers. 1967, 42, 43; BB 1965, 378 f; Benz, VersR 1970, 109 ff, 110, 111; Seitz, „Die Ersatzansprüche der Sozialversicherungsträger nach § 640 und 1542 RVO”, 212 ff, 237 f; Mittelmeier, VersR 1969, 876 ff, 878, 879; Schuck, BG 1964, 369 f; Vollmar, VersR 1973, 298 ff, 302; Schmalzl, Soz.Vers. 1965, 28. Anderer Auffassung: Feyock, NJW 1964, 1706 ff, 1708; Linthe, BABl 1963, 343 ff, 349; Ilgenfritz, OKK 1966, 297 ff, 300 f; ders., WzS 1964, 257 ff; Asanger, VersR 1966, 954 f; Neumann/Duesberg, VersR 1969, 103 ff, 108; Gitter, SGb 1963, 404 ff, 407; Pohl, WzS 1963, 162 ff, 166; Haase/Koch, „Die Unfallversicherung”, 1963, Anm. 10 zu § 640 i.V.m. Anm. 5 zu § 554; Sondermann, „Der Ersatzanspruch der Berufsgenossenschaft gemäß § 640 RVO”, S. 70 ff; Gregor, DB 1965, 999 ff, 1000; Miesbach/Baumer, Die gesetzliche Unfallversicherung, Anm. 10 zu § 640; Baumeister, aaO, S. 50 ff) auch die Entscheidung über den Verzicht nach § 640 Abs. 2 RVO dem fiskalischen Handeln des Versicherungsträgers im privat-rechtlichen Bereich zu.

Zwar ist der Wortlaut des § 640 Abs. 2 RVO – die Verzichtsentscheidung ist in das billige Ermessen des Versicherungsträgers gestellt – nicht entscheidend. Der Begriff des billigen Ermessens wird sowohl in Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), z. B. 847, als auch im öffentlichen Recht, z. B. § 577 RVO, verwendet.

Die Neufassung des § 906 RVO a.F. durch § 640 Abs. 2 RVO aber deutet schon verstärkt auf einen privat-rechtlichen Anspruch hin. Obwohl die Frage des Rechtswegs wahrend des Gesetzgebungsverfahrens umstritten war (vgl. oben), ist für die Geltendmachung und den Verzicht auf den Ersatzanspruch das förmliche Vorverfahren, das für den Rückgriff die Mitteilung eines schriftlichen Vorstandsbeschlusses und dagegen die fristgebundene Anrufung der Vertreterversammlung vorgesehen hatte, in der Neufassung ersatzlos aufgehoben worden.

Die entscheidenden Gesichtspunkte für die privat-rechtliche Rechtsnatur des Verzichts ergeben sich insbesondere aus dem engen Zusammenhang zwischen § 640 Abs. 1 und 2 RVO. Der Verzicht bezieht sich darauf, ob der nach den obigen Ausführungen bürgerlich-rechtliche Ersatzanspruch des § 640 Abs. 1 geltend gemacht werden soll. Es ist also ein unmittelbarer Sachzusammenhang zwischen § 640 Abs. 1 und Abs. 2 RVO gegeben. Ohne die in § 640 Abs. 2 RVO geschaffene Verzichtsmöglichkeit wäre der Versicherungsträger im Hinblick auf den in § 640 Abs. 1 RVO uneingeschränkt normierten Ersatzanspruch grundsätzlich verpflichtet, gegen den Schädiger Rückgriff zu nehmen (§ 30 ff RVO, § 14 Selbstverwaltungsgesetz – SVwG –). § 640 Abs. 2 RVO bezweckt daher, wie der Wortlaut „können verzichten” zeigt, die Versicherungsträger zu ermächtigen, unter bestimmten Voraussetzungen von der Geltendmachung dieses Ersatzanspruchs abzusehen. Die Organe der Versicherungsträger erhalten damit die Möglichkeit, wie natürliche Personen sich am allgemeinen Vermögensrechtsverkehr zu betätigen.

Darüber hinaus bezweckt § 640 Abs. 2 RVO unter gewissen Voraussetzungen einen wirtschaftlichen Schutz der in Anspruch Genommenen. Die Entstehungsgeschichte des § 640 Abs. 2 RVO laßt erkennen, daß der Gesetzgeber fürsorgerische Gesichtspunkte gegenüber sozial Schwachen und wirtschaftlich nicht Leistungsfähigen berücksichtigt wissen wollte. Bei den Ausschußberatungen zu § 640 RVO wurde die Befürchtung geäußert, der Rückgriffsanspruch könne insbesondere bei sozial schwachen Personen zur Existenzvernichtung führen; so hart solle nicht gestraft werden (BT-Drucks. IV/938 zu § 639). Aus dem eingeräumten Ermessensspielraum gemäß § 640 Abs. 2 RVO ergibt sich demnach für den Versicherungsträger gleichzeitig die Pflicht, auf den Ersatzanspruch zu verzichten, wenn billiges Ermessen das gebietet. Der Rückgriff nach § 640 Abs. 1 RVO steht also unter dem Vorbehalt des Verzichts. Es sind hierbei keine speziell sozialrechtlichen Vorschriften zugrunde zu legen, sondern wirtschaftliche Fragen und Verhältnisse zu klären, die ebenso gut vor den ordentlichen Gerichten überprüft werden können. Da die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schädigers nicht zuletzt durch die Höhe der Ersatzansprüche beeinflußt werden, liegt es von der Sache her nahe, daß die ordentlichen Gerichte, die über die Höhe des Anspruchs nach § 640 Abs. 1 RVO zu entscheiden haben, auch zur Überprüfung und Entscheidung nach § 640 Abs. 2 RVO berufen sind. Die wirtschaftlichen Verhältnisse werden allerdings nur selten von Anfang an überschaubar sein, da der Rückgriff zumeist zu laufenden Leistungen über längere Zeiträume führt. Es wird daher kaum abgesehen werden können, ob ein späterer Rückgriff gegen den Schädiger unzumutbar oder ggf. wegen der veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse im beschränkten Umfang doch zumutbar sein wird. Aber auch ein zeitliches Auseinanderfallen zwischen dem Entstehen des Ersatzanspruchs nach § 640 Abs. 1 RVO und einem Verzicht aufgrund des § 640 Abs. 2 RVO ändert grundsätzlich nichts daran, daß der Versicherungsträger im Anschluß an die Klärung der Anspruchsvoraussetzungen des § 640 Abs. 1 RVO die Frage nach dem Verzicht auf diesen Anspruch prüfen muß.

Zwar hat der Versicherungsträger im Rahmen seiner Ermessensentscheidung gemäß § 640 Abs. 2 RVO fürsorgerische Gesichtspunkte gegenüber den Schädigern zu berücksichtigen. Ihnen kommt jedoch nur untergeordnete Bedeutung zu, und sie vermögen nicht den der Natur der Sache nach privat-rechtlichen Charakter der fiskalischen Maßnahme in Frage zu stellen. Zudem kommt fürsorgerischen Gedanken, die dem bürgerlichen Recht, insbesondere dem Arbeitsrecht nicht fremd sind, im Hinblick auf die in vielen Fällen eingreifende Haftpflichtversicherung nur noch untergeordnete Bedeutung zu. Sie verändern die privat-rechtliche Ziel- und Zweckrichtung der Norm, Schadloshaltung der Versicherungsträger, nicht.

Auch die schutzwürdigen Interessen der Schädiger an einer gerichtlichen Nachprüfung der unter Umständen für ihre wirtschaftliche Existenz bedeutsamen Entscheidung gemäß § 640 Abs. 2 RVO rechtfertigen es nicht, den Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zu eröffnen (vgl. BVerwGE 3, 258, 262). Die Ermessensentscheidung der Versicherungsträger ist vor den ordentlichen Gerichten der richterlichen Überprüfung nicht völlig entzogen. Gemäß § 242 BGB hat das ordentliche Gericht zumindest unter dem Gesichtspunkt u. a. einer unzulässigen Rechtsausübung die Entscheidungen der Sozialversicherungsträger darauf zu überprüfen, ob sie sich noch in dem durch das rechtliche Gebot der Billigkeit in § 640 Abs. 2 RVO vorgezeichneten Rahmen halten (vgl. BGHZ 57, 96, 99). Fälle einer Existenzvernichtung durch einen Sozialversicherungsträger sind demnach auch vor den ordentlichen Gerichten ausgeschlossen, so daß dem eigentlich Sinn und Zweck des § 640 Abs. 2 RVO entsprechend die schutzwürdigen Interessen der Schädiger hinreichend berücksichtigt werden.

Schließlich könnte ein unterschiedlicher Rechtsweg für Streitigkeiten aufgrund der Abs. 1 und 2 des § 640 RVO in vielen Fällen zu einem widersprüchlichen Gerichtsverfahren führen und den Grundsätzen der Prozeßwirtschaftlichkeit widersprechen (vgl. BVerwGE 6, 86, 89; 16, 289; 293). Die alleinige Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte bietet ferner in den Fällen, in denen sehen im Rückgriffsstreit die für die Entschließung über den Versieht maßgebenden Verhältnisse insgesamt abschließend beurteilt werden können, den Vorteil, daß die Entscheidung über den Ersatzanspruch und über den Verzicht in demselben Rechtsstreit getroffen werden können. Solche Fälle sind nicht selten, da die Begründetheit des Rückgriffsanspruchs bzw. das Bestehen der Verzichtspflicht häufig davon abhängt, ob die Haftpflichtversicherung dem Schädiger Deckungsschutz gewährt.

Die Revision der Kläger war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Unterschriften

Brackmann, Richter Dr. Krasney ist infolge einer Dienstreise verhindert, das Urteil zu unterschreiben., Brackmann, Friedrich

 

Fundstellen

Haufe-Index 928056

BSGE, 20

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge