Entscheidungsstichwort (Thema)

Kein Vertrauensschutz in die unrichtige Feststellung einer Krankheit. Rücknahme. Aufhebung. Umdeutung. Frist

 

Leitsatz (amtlich)

1. Werden die nachteiligen Auswirkungen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes wesentlich geringer bewertet als in einem einige Zeit vorher erlassenen Verwaltungsakt, besteht die Vermutung, daß sie geringer geworden sind und nicht ursprünglich unrichtig bewertet worden sind.

2. Ein Rücknahmebescheid ist im Gerichtsverfahren in einen Änderungsbescheid umzudeuten, wenn die ursprüngliche Unrichtigkeit des zu berichtigenden Bescheids nicht nachgewiesen werden kann.

 

Orientierungssatz

1. Eine Umdeutung scheidet aus, wenn der GdB ursprünglich zu hoch bewertet wurde und keine wesentliche Änderung stattgefunden hat.

2. Grundsätzlich ist bei der Entscheidung über den Nachteilsausgleich "G" erneut zu prüfen, ob eine Schwerbehinderung vorliegt, so daß durch die erneute Überprüfung und Entscheidung eine neue Zweijahresfrist iS des § 45 Abs 3 S 1 SGB 10 läuft.

 

Normenkette

SGB X § 43 Abs. 1, 3, § 48 Abs. 1 S. 1, § 45 Abs. 1, 3 S. 1; SchwbG § 3; SchwbG 1979-10-08 § 3 Abs. 4 Fassung:; SchwbG § 58 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1983-12-22; SGB X § 45 Abs. 2

 

Verfahrensgang

SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 07.04.1989; Aktenzeichen S 3 Vs 844/88)

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 22.08.1991; Aktenzeichen L 7 Vs 1079/89)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte einen Feststellungsbescheid nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) auch hinsichtlich solcher Feststellungen aufheben durfte, die er bereits in einem früheren, länger als zwei Jahre zurückliegenden Bescheid getroffen hatte.

Der Beklagte hatte bei dem 1933 geborenen Kläger mit Bescheid vom 28. November 1984 als Behinderung nach dem SchwbG "Morbus Bechterew" und eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50 vH festgestellt. Auf den Widerspruch des Klägers erließ er den Teil-Abhilfebescheid vom 4. April 1985, mit welchem er eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ("Merkzeichen G") anerkannte und die übrigen Feststellungen wiederholte.

Ermittlungen im Zusammenhang mit einem Neufeststellungsantrag des Klägers vom Mai 1986 überzeugten den Beklagten davon, daß bei diesem statt eines "Morbus Bechterew" von jeher andere Leidenszustände ("degenerative Veränderungen und Deformierungen der Wirbelsäule, Schulter-Arm-Syndrom") vorgelegen hätten, die - jedenfalls derzeit - nur einem Grad der Behinderung (GdB) von 30 bewirkten. Außerdem hielt der Beklagte die seinerzeit angenommene "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" nicht mehr für gegeben, sondern nur noch eine "äußerlich erkennbare dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit" iS des § 33b Einkommensteuergesetz (EStG) 1987. Nach Anhörung des Klägers nahm der Beklagte mit Bescheid vom 24. März 1987 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 1988 den Bescheid vom 4. April 1985 mit Wirkung für die Zukunft zurück und stellte als Behinderungen die nunmehr angenommenen Diagnosen, einen GdB von 30 und die Voraussetzungen für den genannten steuerrechtlichen Nachteilsausgleich fest. Dabei stützte er sich auf § 45 des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - (SGB X). Auch die mit Bescheid vom 4. April 1985 lediglich wiederholten Feststellungen hätten noch zurückgenommen werden können, obwohl sie bereits mit Bescheid vom 28. November 1984 getroffen worden seien und dieser Bescheid mehr als zwei Jahre zurückliege. Denn die Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X sei durch den Bescheid vom 4. April 1985 auch insoweit neu in Lauf gesetzt worden.

Die Klage ist ohne Erfolg geblieben (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Freiburg vom 7. April 1989), die Berufung des Klägers hatte Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 22. August 1991 das Urteil des SG abgeändert und den Rücknahmebescheid des Beklagten sowie den dazu ergangenen Widerspruchsbescheid aufgehoben, soweit darin eine Rücknahme der Feststellung eines Morbus Bechterew und eines GdB von 50 enthalten waren. Im übrigen, dh hinsichtlich der Rücknahme des "Merkzeichens G" wies es die Berufung zurück. Die bereits mit Bescheid vom 28. November 1984 getroffenen, für den Kläger günstigen Feststellungen habe der Beklagte nicht mehr zurücknehmen dürfen, weil diese früher als zwei Jahre vor dem Aufhebungsbescheid getroffen worden seien (§ 45 Abs 3 Satz 1 SGB X).

Gegen dieses Urteil richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Beklagten. Er vertritt in erster Linie die Auffassung, daß § 45 Abs 3 SGB X im Verwaltungsverfahren nach dem SchwbG nicht anwendbar sei. Diese Bestimmung passe nur auf Bescheide über wiederkehrende Geldleistungen. Das zeige sich besonders deutlich bei der Zuerkennung von Merkzeichen, bei denen eine analoge Anwendung des § 48 Abs 3 SGB X ausscheide. Selbst wenn § 45 Abs 3 SGB X anwendbar sei, habe das LSG diese Vorschrift nicht zutreffend angewandt, weil die Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X wegen der festgestellten Behinderung und des GdB erst seit dem Zugang des Bescheides vom 4. April 1985 zu berechnen sei.

Er beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. August 1991 abzuändern und die Berufung des Klägers in vollem Umfang zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist iS einer Zurückverweisung der Sache an das LSG erfolgreich. Für eine abschließende Entscheidung sind noch Ermittlungen erforderlich, die das LSG durchzuführen hat.

Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, den angefochtenen Bescheid insoweit aufzuheben, wie er den GdB des Klägers von 50 auf 30 vH herabsetzt. Das LSG hat unterstellt, nicht aber festgestellt, daß der Bescheid vom 28. November 1984, in dem es die letzte Entscheidung über den GdB sieht, von Anfang an unrichtig war; es ist nicht ausgeschlossen, daß der GdB erst später auf 30 herabgesunken und der Bescheid unrichtig geworden ist. Von der Klärung dieser tatsächlichen Frage hängt es ab, ob für die Herstellung des rechtmäßigen Zustandes der fristgebundene Weg des Widerrufs (§ 45 SGB X) oder der nicht fristgebundene Weg des Änderungsbescheides (§ 48 SGB X) einzuschlagen war.

Das LSG durfte nicht ohne eigene Prüfung unterstellen, daß die Festsetzung des GdB auf 50 im Jahre 1984 fehlerhaft war. Von der eigenen Überzeugungsbildung war das LSG nicht dadurch befreit, daß schon der Beklagte dies zugunsten des Klägers unterstellt hat. Denn aus der Sicht des Beklagten stand diese Unterstellung der Aufhebung nicht entgegen. Da das LSG diese Ansicht nicht teilt, war es verpflichtet, die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides unter allen denkbaren Gesichtspunkten zu prüfen. Dazu gehört auch die Umdeutung (§ 43 SGB X) des angefochtenen auf § 45 SGB X gestützten Widerrufsbescheids in einen Änderungsbescheid nach § 48 SGB X. Die Umdeutung ist nicht nur Aufgabe der Verwaltung sondern auch der Gerichte (BSG SozR 3-4100 § 63 Nrn 1 und 2). Das gilt jedenfalls dann, wenn die Umdeutung nichts an der Regelung, sondern nur an der Begründung des angefochtenen Verwaltungsakts ändert, dessen Bestätigung die Verwaltung beantragt. Dann steht die Umdeutung auch nicht im Ermessen des Gerichts, sondern ist seine Verpflichtung (vgl Stelkens/Bonk/Leonhardt, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl § 47 RdNr 6 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu dem mit § 43 SGB X übereinstimmenden § 47 VwVG). Die nach § 43 Abs 4 iVm § 24 SGB X erforderliche Anhörung wird durch die gerichtliche Anhörung nach § 62 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫ ersetzt. Diese ist durch das LSG nach Zurückverweisung zu gewähren.

Die Ausführungen des LSG zu der anfänglichen Unrichtigkeit des Bescheids vom 28. November 1984 enthalten keine erheblichen Tatsachenfeststellungen. Daß der Beklagte damals von der Bechterewschen Krankheit ausgegangen ist, die sich als Fehldiagnose erwiesen hat, zeigt noch nicht, daß der GdB falsch festgesetzt wurde. Der GdB wäre nur dann falsch festgesetzt, wenn die Folgen der Funktionsbeeinträchtigung falsch eingeschätzt worden wären. Die fehlerhafte Beurteilung der Krankheit, die der Funktionsbeeinträchtigung zugrunde liegt, ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Bescheides ohne Bedeutung. Das hat der Senat bereits mehrfach entschieden (SozR 3870 § 3 Nr 26; SozR 3870 § 4 Nr 3). Unter der Behinderung, die nach § 4 Abs 1 SchwbG festzustellen ist, ist nicht der regelwidrige körperliche, geistige oder seelische Zustand, also eine Krankheit, zu verstehen, sondern die nachteiligen Folgen dieses Zustandes für das Erwerbsleben und den gesellschaftlichen Bereich (§ 3 SchwbG). Die in einen Bescheidtext aufgenommene Krankheitsdiagnose ist kein Verfügungssatz, der bestandskräftig werden könnte, sondern lediglich Teil der Begründung für die Verwaltungsentscheidung über die Behinderung und deren Grad. Eine Fehldiagnose allein macht den Bescheid über den GdB nicht fehlerhaft. Die entgegenstehende Auffassung des LSG ist nicht allein eine tatsächliche Feststellung, an die das Bundessozialgericht (BSG) gebunden wäre, sondern in erster Linie eine fehlerhafte Rechtsauffassung, auf der seine Beweiswürdigung erst aufbaut.

Es ist allerdings möglich, daß die damalige ungünstige Diagnose die Gutachter in der Einschätzung der Funktionsbeeinträchtigungen beeinflußt hat. Davon kann aber nicht ohne weitere Prüfung ausgegangen werden. Es ist vielmehr bis zum Beweis des Gegenteils davon auszugehen, daß die Gutachter so vorgegangen sind, wie es das Gesetz (§ 3 SchwbG) verlangt und daß sie nur die Funktionsbeeinträchtigungen geprüft und beurteilt haben. Bis zum Beweis des Gegenteils ist auch davon auszugehen, daß diese Beurteilung zutreffend war. Dieser Grundsatz folgt zunächst daraus, daß die Festsetzung eines GdB im wesentlichen ein Akt der Bewertung ist. Sie setzt eine ärztliche Bemessung der tatsächlichen Funktionsbeeinträchtigungen voraus; aufgrund dieser Bemessung sind die Auswirkungen im Erwerbsleben und im gesellschaftlichen Bereich zu bewerten. Eine Fehlerhaftigkeit dieser Bewertung ist kaum nachweisbar, wenn das Gesetz beachtet und die danach maßgebenden Tatsachen, insbesondere die festgestellten und vom Kläger glaubhaft behaupteten Funktionsbeeinträchtigungen gewürdigt worden sind. Mit den Krankheiten, die den Funktionsstörungen zugrunde liegen, ändern sich auch die Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen. Deshalb spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, daß ein GdB, der bei einer späteren Untersuchung geringer ist als bei einer früheren Festsetzung, auf eine Besserung und nicht auf einen Fehler bei der früheren Festsetzung zurückzuführen ist. Wegen des ungeschriebenen Vorbehalts jederzeitiger Änderung in den Verhältnissen, die für die Beurteilung einer Krankheit und ihrer Folgen, zB des GdB oder der Behandlungsbedürftigkeit, maßgeblich sind, haben sich auch in der Rechtsprechung zur Krankenversicherung durch den 3. Senat des BSG (BSGE 63, 107) Besonderheiten ergeben: Er veranschlagt den Vertrauensschutz in die Anerkennung und Behandlungsbedürftigkeit einer Krankheit geringer als den Vertrauensschutz bei Leistungsbescheiden mit Dauerwirkung, für die der Vertrauensschutz in erster Linie gedacht ist.

Wenn die Richtigkeit des Bescheids vom 28. November 1984 nicht durch weitere Ermittlungen widerlegt werden kann, steht fest, daß sich die Funktionsbeeinträchtigungen und damit der GdB bis 1987 geändert haben. Aufgrund dieser Änderung durfte der angefochtene Bescheid ergehen. Er ist rechtmäßig. Daß er nicht auf § 48 SGB X, sondern auf § 45 SGB X gestützt ist, ist zwar ein Fehler. Dieser Fehler führt aber nicht zur Aufhebung sondern zur Umdeutung.

Nach § 43 Abs 1 SGB X kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlaß erfüllt sind. Da der auf § 45 SGB X gestützte Bescheid nicht die rückwirkende Aufhebung, sondern nur die Aufhebung für die Zukunft verfügt, ist er auf das gleiche Ziel gerichtet wie ein auf § 48 SGB X gestützter Bescheid, der hier ebenfalls nur für die Zukunft ergehen könnte (vgl § 48 Abs 1 SGB X). Ein auf § 48 SGB X gestützter Bescheid hätte vom Versorgungsamt in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig ergehen können. Ein Verwaltungsakt, der auf § 48 SGB X gestützt ist, aber einen von Anfang an rechtswidrigen Verwaltungsakt aufhebt, der nur nach § 45 SGB X aufgehoben werden könnte, ist, wie der Senat bereits entschieden hat (SozR 1300 § 43 Nr 1), allerdings nicht mittels Umdeutung aufrechtzuerhalten. Das folgt aus § 43 Abs 3 SGB X, wonach eine Entscheidung, die nur als gesetzlich gebundene Entscheidung ergehen kann, nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden kann. Anders ist dies aber in dem hier vorliegenden umgekehrten Fall: Wenn die Verwaltung irrtümlich annimmt, die Beseitigung eines Verwaltungsakts erst nach einer Interessenabwägung, einer Verschuldensprüfung und einer Ermessensentschließung (§ 45 Abs 2 SGB X) verfügen zu dürfen, und dies auch tut, aber die Voraussetzungen des § 48 SGB X für einen Verwaltungsakt derselben Zielrichtung gegeben sind, ist die Umdeutung nach § 43 Abs 1 SGB X grundsätzlich möglich. Daß der Kläger bei seiner Anhörung nach § 24 SGB X nicht auf § 48 SGB X, sondern nur auf § 45 SGB X hingewiesen worden ist, begründet keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Umdeutung, weil beide Bescheide auf die Herabsetzung ab einem bestimmten Zeitpunkt gerichtet sind. Die Rechtsfolgen des umgedeuteten Verwaltungsaktes sind für den Kläger auch nicht ungünstiger, als die eines rechtmäßigen auf § 45 SGB X gestützten Verwaltungsakts.

Hat die Versorgungsverwaltung den GdB 1984 zu hoch bewertet, hat zwischen 1984 und 1987 keine wesentliche Änderung stattgefunden; eine Umdeutung scheidet dann aus. Die Beseitigung dieses von Anfang an vorliegenden Fehlers ist nur nach § 45 SGB X unter Beachtung der Zweijahresfrist des Abs 3 Satz 1 möglich. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Fristberechnung muß aber nicht der Bescheid vom 28. November 1984 sein. Das ist dann nicht der Fall, wenn festgestellt werden kann, daß der Beklagte mit dem Bescheid vom 4. April 1985 damals erneut über den GdB entschieden hat. Entgegen der Meinung des LSG war der Beklagte hierzu verpflichtet. Ob er es wirklich getan hat, ist durch das LSG noch zu klären.

Bei der Entscheidung über den Anspruch auf "G" (erhebliche Gehbehinderung) war erneut zu prüfen, ob der GdB 50 beträgt, der Kläger also Schwerbehinderter ist. Die Meinung des LSG, der 1984 festgesetzte GdB von 50 sei die unangreifbare Grundlage für die 1985 getroffene Entscheidung über das Merkzeichen "G" gewesen, trifft nicht zu. Die Entscheidung über den GdB ist im Verhältnis zu der Entscheidung über "G" nicht mit den Grundlagenbescheiden zu vergleichen, die etwa bei Rentenanpassungen oder Einkommensanrechnungen nicht mehr in Frage zu stellen sind, wie der Senat mehrfach entschieden hat (BSG SozR 1300 § 45 Nrn 25 und 37; SozR 3-3100 § 62 Nr 1). Für "G" ist die Schwerbehinderteneigenschaft nicht die feststehende Grundlage, sondern die zu prüfende Voraussetzung (§ 59 Abs 1 Satz 1 SchwbG), die bei der Gewährung von "G" tatsächlich vorliegen muß. Der Verwaltungsbeamte, der über "G" zu entscheiden hat, kann allerdings in aller Regel davon ausgehen, daß eine erst einige Monate vorher festgestellte Schwerbehinderung noch besteht. Aber selbst in diesem Fall würde er den die Schwerbehinderung feststellenden Bescheid inhaltlich überprüfen, dh eine erneute Beweiswürdigung vornehmen. Käme nämlich der Verwaltungsbeamte zu dem Ergebnis, daß die Schwerbehinderung inzwischen fortgefallen ist (§ 48 SGB X) oder - im Ausnahmefall - nie bestanden hat, so wäre er verpflichtet, wenn die Voraussetzungen im übrigen vorliegen, den alten Bescheid zu Lasten des Behinderten abzuändern und - danach - die Erteilung des Merkzeichens "G" abzulehnen. Die Übernahme der im alten Bescheid getroffenen Regelung beruht daher - jedenfalls innerhalb der Zweijahresfrist des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X - in der Regel auf einer erneuten sachlichen Prüfung. "G" setzt überdies eine Funktionsbeeinträchtigung voraus, die sich grundsätzlich nicht abstrakt aus bereits festgestellten Behinderungen ableiten läßt. Eine solche Ableitung ist nur in den besonders geregelten Fällen der Hilflosigkeit und Gehörlosigkeit (§ 59 Abs 1 Satz 1 SchwbG) möglich; sie war möglich, als bei einer MdE von 80 vH "G" ohne weitere Prüfung zu erteilen war (§ 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG idF vom 8. Oktober 1979, BGBl I 1649). Grundsätzlich ist aber eine Entscheidung über "G" nicht ohne Prüfung der Frage möglich, wie sich die Funktionsbeeinträchtigungen im einzelnen und in ihrer Gesamtheit auf die Gehfähigkeit auswirken (§ 60 Abs 1 Satz 1 SchwbG). Dabei hat das Versorgungsamt die dabei gewonnenen neuen Erkenntnisse über den GdB zur Geltung zu bringen. Das gilt nur dann nicht, wenn das Versorgungsamt nach § 4 Abs 2 SchwbG an die Festsetzung des GdB durch andere Stellen gebunden ist (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 4). Abgesehen von diesen Ausnahmefällen hat das Versorgungsamt bei seinen Entscheidungen den jeweiligen tatsächlichen Stand der Entwicklung zu berücksichtigen; es soll sogar regelmäßig überprüfen, ob wesentliche Veränderungen vorliegen (vgl auch die Regelung über die Gültigkeitsdauer des Schwerbehindertenausweises, § 6 AusweisVO-SchwbG idF vom 25. Juli 1991, BGBl I 1739).

Daß bei erneuter Überprüfung und Entscheidung eine neue Zweijahresfrist iS des § 45 Abs 3 Satz 1 SGB X läuft, steht dieser Auslegung nicht entgegen. Das erweist sich nur für solche Behinderte als nachteilig, bei denen der GdB zunächst fehlerhaft zu hoch anerkannt worden ist. Die Chance, daß eine zu Unrecht erfolgte Zuerkennung eines GdB bestandskräftig wird, ist aber nicht schutzwürdig und gebietet keine Einschränkung der jederzeitigen Prüfkompetenz der Verwaltung im Schwerbehindertenrecht.

Die Kostenentscheidung ist der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174718

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