EuGH: Bereitschaftszeit als Arbeitszeit?

Bereitschaftszeit kann als Arbeitszeit gelten, wenn Arbeitnehmer durch vorgegebene Einschränkungen ganz erheblich an der Gestaltung ihrer Freizeit gehindert sind. Welche Kriterien bei der Einstufung heranzuziehen sind, hat der EuGH im Fall eines Offenbacher Feuerwehrmannes präzisiert. 

Innerhalb von 20 Minuten in Arbeitskleidung zum Einsatz: Wenn Arbeitnehmer sich auf Abruf für die Arbeit bereithalten müssen, stellt sich immer wieder die Frage, wie diese Zeit rechtlich einzuordnen ist. Arbeitszeit oder Ruhezeit?

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte auf Vorlage des zuständigen Verwaltungsgerichts Darmstadt zu entscheiden, ob die Rufbereitschaft eines Offenbacher Feuerwehrmannes, für die kein bestimmter Ort vorgegeben ist, er aber innerhalb von 20 Minuten an der Stadtgrenze von Offenbach sein muss, als Arbeitszeit zu werten ist.

Mit dem aktuellen Urteil hat der EuGH jetzt Kriterien zur Abgrenzung von Ruhezeit und Arbeitszeit vorgegeben. Maßgeblich kommt es danach auf die konkreten "Einschränkungen" während der Bereitschaft an. Eine Einstufung als Arbeitszeit steht einer geringeren Vergütung jedoch nicht entgegen.

Bereitschaft als Arbeitszeit?

Die Einschränkung sah im konkreten Fall des Offenbacher Feuerwehrmannes folgendermaßen aus: Nach den Vorgaben seines Arbeitgebers muss er sich während seines Rufbereitschaftsdienstes regelmäßig für einen möglichen Einsatz bereithalten. Wo er sich aufhalten muss, hat der Arbeitgeber nicht vorgegeben, sodass er den Ort frei wählen kann. Allerdings muss er im Ernstfall die Stadtgrenze von Offenbach innerhalb von 20 Minuten in Arbeitskleidung mit seinem Einsatzfahrzeug erreichen können. Der Arbeitnehmer möchte, dass diese Zeit, in der er erreichbar und sich bereithalten muss, als Arbeitszeit anerkannt und damit entsprechend vergütet wird. Die Stadt Offenbach als Arbeitgeber hat das abgelehnt. Das zuständige Verwaltungsgericht Darmstadt hatte dem EuGH die Sache vorgelegt.

Bereitschaftszeit: Entweder Arbeitszeit oder Ruhezeit

Der EuGH hat zunächst klargestellt, dass der Bereitschaftsdienst eines Arbeitnehmers entweder als Arbeitszeit oder als Ruhezeit einzustufen ist, da beide Begriffe einander ausschließen. Wenn der Arbeitnehmer in der Zeit des Bereitschaftsdiensts nicht tätig wird, bedeute dies nicht zwingend, dass die Zeit als Ruhezeit zu werten ist. Bereits 2003 hatte der EuGH entschieden, dass eine Bereitschaftszeit - unabhängig vom tatsächlichen Einsatz - "Arbeitszeit" sein kann, wenn der Arbeitnehmer während der Zeit verpflichtet ist, "an seinem Arbeitsplatz, der nicht mit seiner Wohnung identisch ist, zu bleiben und sich dort seinem Arbeitgeber zur Verfügung zu halten".

EuGH: Bereitschaftsdienst kann bei Einschränkungen Arbeitszeit sein

Davon abgesehen können auch Bereitschaftszeiten, bei denen der Arbeitnehmer Rufbereitschaft außerhalb seines Arbeitsplatzes hat, als Arbeitszeit eingestuft werden. Dies ist aus Sicht des EuGH dann der Fall, wenn dem Arbeitnehmer Einschränkungen für die Bereitschaftszeit vorgegeben sind, die ihn "objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen", diese Zeit, in der er sich bereit hält, frei zu gestalten und sich seinen eigenen Interessen zu widmen.

Wenn es keine solche Einschränkungen gibt, soll umgekehrt nur die Zeit als "Arbeitszeit" anzusehen sein, die mit der gegebenenfalls tatsächlich während solcher Bereitschaftszeiten erbrachten Arbeitsleistung verbunden ist. Eine Einstufung der Bereitschaftszeiten als Ruhezeit darf aber nicht dazu führen, dass Arbeitgeber sie so lang oder so häufig einführen, dass sie eine Gefahr für die Sicherheit oder die Gesundheit der Arbeitnehmer darstellen.

Um welche Einschränkungen geht es?

Der Gerichtshof wies darauf hin, dass bei der Beurteilung nur solche Einschränkungen berücksichtigt werden könnten, die dem Arbeitnehmer durch nationale Rechtsvorschriften, durch einen Tarifvertrag oder durch seinen Arbeitgeber auferlegt werden. Unerheblich seien dagegen organisatorische Schwierigkeiten, die eine Bereitschaftszeit infolge natürlicher Gegebenheiten oder der freien Entscheidung des Arbeitnehmers für ihn mit sich bringen kann. Als Beispiel nannten die Richter den Fall, dass der Arbeitnehmer während einer Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft ein Gebiet praktisch nicht verlassen kann, das kaum Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten biete.

Kriterien für nationale Gerichte: Reaktionszeit und Häufigkeit der Einsätze

Der EuGH wies darauf hin, dass die nationalen Gerichte im Einzelfall eine Gesamtwürdigung vornehmen müssen, um über eine Einstufung der Rufbereitschaft als Arbeitszeit oder Ruhezeit zu entscheiden. Vorliegend muss nun also das Verwaltungsgericht Darmstadt in der Sache urteilen. Kriterien, die die Gerichte bei der Beurteilung zu berücksichtigen haben, sind aus Sicht des EuGH die konkreten Fristen, innerhalb derer der Arbeitnehmer seine Arbeit aufnehmen muss.

Schon der zuständige EuGH-Generalanwalt Pitruzella sah im vorliegenden Fall bei einer Reaktionszeit von 20 Minuten eine Beeinträchtigung der Ruhezeit des Feuerwehrmannes. 2018 hatte der EuGH bereits entschieden, dass der Bereitschaftsdienst eines belgischen Feuerwehrmannes, der innerhalb von acht Minuten bereit sein muss, als Arbeitszeit zu sehen ist.

Häufigkeit der Einsätze

Als weiteres Kriterium müsse die Häufigkeit, mit der Einsätze zu erwarten seien, bei der Entscheidung berücksichtigt werden. Hat der Arbeitnehmer grundsätzlich viele Einsätze zu erwarten, spreche dies für eine Einordnung als Arbeitszeit. In solchen Fällen habe der Arbeitnehmer keinen Spielraum, seine Zeit als Freizeit zu planen. 

Arbeitszeit ist unabhängig von Vergütung

Außerdem stellte der EuGH fest, dass die Frage nach der Vergütung von Arbeitnehmern für Bereitschaftszeiten unabhängig von der Einstufung als "Arbeitszeit" ist. Daher könne es aufgrund von innerstaatlichen Rechtsvorschriften, einem Tarifvertrag oder einer Entscheidung des Arbeitgebers eine unterschiedliche Vergütung geben für Zeiten, in denen tatsächlich Arbeitsleistungen erbracht werden, und Zeiten, in denen keine tatsächliche Arbeit geleistet wird. 

Hinweis: EuGH, Urteil vom 9. März 2021, Az: C-580/19


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