Entscheidungsstichwort (Thema)

Kriegsblinder. Anspruch auf ein Lesesprechgerät

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Lesesprechgerät ist einem Kriegsblinden schon dann nach § 13 BVG und § 1 iVm §§ 16ff OrthV zu liefern, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen eine Krankenkasse einem vergleichbaren Mitglied das Gerät als Hilfsmittel zu leisten hätte. Strengere Leistungsvoraussetzungen der OrthV, insbesondere ein verschärfter Bedarfsmaßstab „dringendes Angewiesensein”), haben insoweit außer Betracht zu bleiben, weil sie gegen die ihnen zugrundeliegende Ermächtigungsnorm (§ 24a Buchst a BVG) verstoßen.

Stand: 24. Oktober 2002

 

Normenkette

SGB V § 33 Abs. 1 S. 1; BVG § 11 Abs. 1 S. 1 Nr. 8, S. 2, Abs. 3, §§ 13, 18 Abs. 1, 4 S. 1, § 24a Buchst. a; OrthV § 16 S. 2, § 17a Abs. 2, § 18 Abs. 1 S. 1; BVG § 35 Abs. 1 S. 5

 

Verfahrensgang

SG Frankfurt am Main (Urteil vom 30.05.1996; Aktenzeichen S 24 V 4466/95)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 30. Mai 1996 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte und die Beigeladene haben dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob das beklagte Land dem kriegsblinden Kläger die Kosten für ein Lese-Sprechgerät zu erstatten hat.

Der Kläger beantragte beim Beklagten im Dezember 1994 die Lieferung eines Lese-Gerätes „LeseFix Open-Eurovox mit Sprachausgabe” der Firma A. … mit Zubehör zum Preise von 13.803,00 DM. Er sei als lizenzierter Funkamateur und geschichtlich interessierter Laie auf die Lektüre entsprechender Fachzeitschriften und Fachliteratur angewiesen, die weder in Blindenschrift noch auf Kassette zur Verfügung stünden. Seine Ehefrau sei einer Vorlesetätigkeit im benötigten Umfang gesundheitlich nicht gewachsen. Das Optakon-Lesegerät (ein Gerät zur analogen Umwandlung von sichtbaren in tastbare Zeichen), das er seit Frühjahr 1985 im Besitz habe, sei technisch überholt und defekt.

Mit Bescheid vom 29. August 1995 idF des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 1995 lehnte der Beklagte den Antrag ab. Der Kläger erfülle die Voraussetzungen der Orthopädieverordnung (OrthV) nicht, wonach „sonstige Hilfsgeräte” nur zu liefern seien, wenn der Behinderte bei nichtberuflichen Verrichtungen des täglichen Lebens dringend auf sie angewiesen sei, um Folgen der Behinderung zu erleichtern. Der überdurchschnittliche Lese- und Informationsbedarf des Klägers gehe auf eine Hobbytätigkeit zurück.

Nach Erhebung der zunächst auf „Gewährung” eines elektronischen Lesegerätes mit Sprachausgabe gerichteten Klage beschaffte sich der Kläger mit Hilfe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen das „Texterkennungssystem Lisa” mit Sprachausgabe für 9.970,50 DM. Von diesen Kosten trug er 4.984,00 DM selbst.

Mit Urteil vom 30. Mai 1996 verurteilte das Sozialgericht (SG) den Beklagten unter Aufhebung seiner Bescheide antragsgemäß zur Erstattung dieses Betrages. In den Entscheidungsgründen führt das SG im wesentlichen aus: Der Kläger habe nach § 17a Abs 2 OrthV Anspruch auf Lieferung eines Lese-Sprechgerätes gehabt. Diese Bestimmung sei – unter Beachtung des höherrangigen § 11 Abs 1 Satz 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) – dahin auszulegen, daß der Behinderte bereits dann auf das Gerät „dringend angewiesen” sei, wenn nach den Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung Anspruch auf das Hilfsmittel bestünde. Dies treffe hier zu, weil der Kläger die nach der Rechtsprechung des für die Krankenversicherung zuständigen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) für die Lieferung eines Lese-Sprechgerätes aufgestellten Voraussetzungen erfülle. Insbesondere benutze er das Gerät seinen glaubhaften Angaben zufolge drei bis fünf Stunden täglich. Der Inhalt seines Lesestoffs dürfe aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 5 Grundgesetz ≪GG≫) nicht ausschlaggebend sein. Der Umstand, daß er von der ihm zustehenden Pflegezulage der Stufe III eine familienfremde Vorlesekraft entlohnen könne, sei unerheblich, weil er – ebenfalls aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art 2 Abs 1 GG) – auf eine solche Kraft nicht verwiesen werden könne. Da die Beklagte die Lieferung des Gerätes rechtswidrig abgelehnt habe, sei sie zur Erstattung der entsprechenden Beschaffungskosten im geltend gemachten Umfang zu verurteilen.

Gegen dieses Urteil hat der Beklagte die zugelassene Revision eingelegt. Er macht geltend, das SG habe § 11 Abs 1 Satz 2 BVG und § 17a der OrthV unrichtig angewandt. § 11 Abs 1 Satz 2 BVG normiere (auch) einen gesetzeseigenen Leistungsumfang. Die OrthV konkretisiere den Umfang und die Voraussetzungen der Hilfsmittelgewährung nach dem BVG umfassend und abschließend. Die gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung eingeschränkten Voraussetzungen des § 17a OrthV für die Lieferung eines Lese-Sprechgerätes erfülle der Kläger nicht, weil er es für eine reine Hobbytätigkeit benötige. Gegenüber Zivilblinden sei er deswegen nicht schlechtergestellt, weil er – im Gegensatz zu diesen – Anspruch auf Beschädigtenrente und Pflegezulage habe. Mit diesen Leistungen und den übrigen Leistungen der Heilbehandlung sei sein Versorgungsbedarf abgedeckt.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 30. Mai 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die vom Senat beigeladene Bundesrepublik Deutschland schließt sich den Ausführungen des Beklagten an. Sie weist ergänzend darauf hin, daß der Gesetzgeber die Bundesregierung mit § 24a Buchst a BVG ermächtigt habe, Art, Umfang und besondere Voraussetzungen der Versorgung mit Hilfsmitteln zu regeln. Diese Ermächtigung stelle eine besondere gesetzliche Regelung iS des § 11 Abs 1 Satz 2 BVG dar. Der Verordnungsgeber habe daher die Versorgung mit Hilfsmitteln abschließend und für den Leistungsberechtigten ungünstiger als in der gesetzlichen Krankenversicherung regeln dürfen. Im übrigen beruft sich die Beigeladene auf das Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 19. August 1994 (BABl 1994 Nr 10 S 155).

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des SG für zutreffend. Außerdem meint er die Voraussetzungen des § 17a BVG auch unabhängig von den Leistungsmaßstäben der gesetzlichen Krankenversicherung zu erfüllen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Sprungrevision des Beklagten ist nicht begründet. Zu Recht hat das SG den Beklagten im geltend gemachten Umfang zur Erstattung der Kosten für das vom Kläger erworbene Lese-Sprechgerät verurteilt.

Diesem stand wegen der anerkannten Schädigungsfolge „Verlust beider Augen” ein Anspruch auf Heilbehandlung (§ 10 Abs 1 BVG) zu, der auch die Versorgung mit Hilfsmitteln umfaßt (§ 11 Abs 1 Satz 1 Nr 8 BVG) und der des näheren in § 13 BVG und der dazu aufgrund der Ermächtigungsvorschrift des § 24a Buchst a BVG ergangenen OrthV vom 4. Oktober 1989 (BGBl I S 1834) idF der Verordnung vom 17. Oktober 1994 (BGBl I S 3009) geregelt ist. Der Anspruch auf Hilfsmittelversorgung richtet sich freilich grundsätzlich auf eine Sachleistung (§ 18 Abs 1 BVG). Hat aber der Behandlungsberechtigte eine an sich geschuldete Heilbehandlungsmaßnahme selbst durchgeführt – was auch durch die eigenhändige Beschaffung eines Hilfsmittels geschehen kann (§ 11 Abs 1 Satz 1 Nr 8 BVG) –, so sind ihm die Kosten im angemessenen Umfang zu erstatten, wenn unvermeidbare Umstände die Inanspruchnahme der Verwaltungsbehörde unmöglich machten (§ 18 Abs 4 Satz 1 BVG). Solche Umstände sind insbesondere dann anzunehmen, wenn die zuständige Behörde – hier die orthopädische Versorgungsstelle (§ 18c Abs 1 Sätze 1 und 2 BVG; § 2 der Verordnung vom 20. Mai 1963 – BGBl I 367) – die Sachleistung zu Unrecht abgelehnt hat (vgl Verwaltungsvorschrift Nr 3 zu § 18 BVG; Fehl in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, Komm, 7. Aufl 1992, RdNr 11 zu § 18 BVG). Ein solcher Fall liegt hier vor: Denn der Beklagte hätte die Lieferung des beantragten Lese-Sprechgerätes nicht ablehnen dürfen, sondern hätte dieses als „Hilfsmittel” iS des § 11 Abs 1 Nr 8, § 13 BVG und der §§ 1 und 16 ff OrthV liefern müssen.

Zu Unrecht beruft sich der Beklagte auf einen aus § 18 Abs 1 Satz 1 OrthV für „sonstige Hilfsgeräte” allgemein und in § 17a Abs 2 OrthV für Lese-Sprechgeräte im besonderen herzuleitenden, gegenüber den Leistungsvoraussetzungen der gesetzlichen Krankenversicherung (§§ 12, 33 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – ≪SGB V≫) strengeren Bedarfsmaßstab, den der Kläger nicht erfülle. Nach § 17a Abs 2 OrthV erhalten Blinde Geräte, die Texte in Sprache umsetzen, wenn sie bei nichtberuflichen Verrichtungen im täglichen Leben dringend darauf angewiesen sind. Diese Regelung ist auch im Rahmen des § 16 Satz 2 OrthV von Belang. Nach dieser Bestimmung werden als andere Hilfsmittel auch Hilfsmittel geliefert, zu deren Lieferung die Krankenkasse ihren Mitgliedern verpflichtet ist (§ 11 Abs 1 Satz 2 BVG), vorausgesetzt allerdings, daß ihre Lieferung nicht durch andere Vorschriften der OrthV geregelt ist. Als solche besondere Regelungsvorschrift der Verordnung ist aber § 17a OrthV in bezug auf das Lese-Sprechgerät anzusehen.

Es mag sein, daß die genannten Vorschriften der OrthV, insbesondere § 17a Abs 2 OrthV, gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung verschärfte Leistungsvoraussetzungen aufstellen (vgl dazu Amtliche Begründung der OrthV zu § 18 in BArbBl 11/1989 S 70; Fehl in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl 1992, § 13 BVG RdNr 75; RdSchr des BMA vom 19. August 1994 in BArbBl 10/1994 S 155). Gleichwohl berechtigen sie den Träger der orthopädischen Versorgung nicht, die Lieferung eines Hilfsmittels abzulehnen, das eine Krankenkasse ihren Mitgliedern leisten müßte, vielmehr ist ein solches Hilfsmittel dem Versorgungsberechtigten im Rahmen der Heilbehandlung ebenfalls zu leisten. Soweit die genannten Vorschriften der OrthV der Lieferung eines derartigen Hilfsmittels entgegenstehen, verstoßen sie gegen die ihnen zugrundeliegende Ermächtigungsnorm (§ 24a Buchst a BVG).

Wie der Senat bereits in seinem – zur Veröffentlichung bestimmten – Urteil vom 9. April 1997 (9 RV 15/95) ausgeführt hat, enthält § 24a Buchst a BVG – jedenfalls seit Inkrafttreten des Gesundheits-Reformgesetzes (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I S 2477) – nur noch die Ermächtigung des Verordnungsgebers zur Ausweitung des bereits durch die Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung gegebenen Leistungsrahmens. Das ergibt sich aus folgenden Überlegungen:

Beschädigte sollen nach der das BVG erkennbar beherrschenden Grundvorstellung des Gesetzgebers im Rahmen der Heilbehandlung wegen Schädigungsfolgen mehr, zumindest aber nicht weniger Leistungen erhalten, als die Krankenkassen ihren Mitgliedern im Rahmen der Krankenbehandlung (vgl § 11 Abs 1 Nr 4, §§ 27 ff SGB V) schulden. Das gilt auch für die Versorgung mit Hilfsmitteln. Dafür spricht schon § 11 Abs 3 BVG, wonach den Heilbehandlungsberechtigten nicht nur die Versorgung mit Hilfsmitteln (§ 11 Abs 1 Satz 1 Nr 8 BVG), sondern „als Ergänzung” dazu noch Anspruch auf Ersatzleistungen zustehen soll. Das ergibt sich ferner aus § 11 Abs 1 Satz 2 BVG, wonach die Vorschriften für die Leistungen, zu denen die Krankenkasse (§ 18c Abs 2 Satz 1 BVG) ihren Mitgliedern verpflichtet ist, für die Leistungen nach § 11 Abs 1 Satz 1 BVG (also auch die Versorgung mit Hilfsmitteln) entsprechend gelten, soweit das BVG nichts anderes bestimmt. § 11 Abs 1 Satz 2 BVG ist – wie § 24a BVG – durch Art 37 des GRG neu gefaßt worden, wobei beide Novellierungen als gegenseitig bedingt aufgefaßt wurden (vgl Amtliche Begründung in BR-Drucks 200/88 zu Nr 2 Buchst a, Buchst aa des Art 35 des Entwurfs – S 262 – und zu Nr 14 Buchst a, aaO, S 264). Dabei sollten die damaligen Änderungen im BVG einerseits der Aufrechterhaltung des Leistungsumfanges der Heil- und Krankenbehandlung der Versorgungsberechtigten, andererseits aber der Einbeziehung der Versorgungsberechtigten in die durch das SGB V geschaffenen Leistungsverbesserungen dienen (vgl BR-Drucks, aaO, S 262 oben). Eine Einschränkung dieses gesetzgeberischen Ziels für die Versorgung mit Hilfsmitteln ist nicht erkennbar.

§ 11 Abs 1 Satz 2 BVG gilt nicht etwa nur insoweit, wie die Durchführung der Heilbehandlung den Krankenkassen übertragen ist (§ 18c Abs 1 Satz 3 BVG), sondern auch in dem Fall, daß der Versorgungsträger die Leistungen – wie hier – selbst zu erbringen hat (vgl für die orthopädische Versorgung § 18c Abs 1 Sätze 1 und 2 BVG; Fehl in Wilke, Soziales Entschädigungsrecht, 7. Aufl 1992, § 11 BVG RdNr 3; Schulin in Sozialrechtshandbuch, 2. Aufl 1996, B 25 RdNrn 83 und 84; Urteil des Senats in SozR 3100 § 11 Nr 13 S 10). Allerdings enthält die Bestimmung den Vorbehalt: „soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt”. Dieser Gesetzesvorbehalt wird aber im BVG selbst nirgends in der Weise ausgefüllt, daß eine Einschränkung der Versorgung mit Hilfsmitteln nach diesem Gesetz gegenüber dem entsprechenden Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung erkennbar würde. § 13 BVG enthält zwar in Abs 2 Satz 2 und Abs 3 gewisse allgemeine Einschränkungen, die sich aber weitgehend mit denen der gesetzlichen Krankenversicherung decken (vgl § 33 Abs 5 SGB V). Die im BVG gemachten Einschränkungen weisen somit nicht darauf hin, daß der Gesetzgeber die Absicht verfolgte, bei der Versorgung mit Hilfsmitteln den entsprechenden Leistungsrahmen der gesetzlichen Krankenversicherung zu unterschreiten. Daher ist auch die Ermächtigungsvorschrift des § 24a Buchst a BVG in diesem Sinn auszulegen, zumal sie den Verordnungsgeber zwar ermächtigt, „Art, Umfang und besondere Voraussetzungen der Versorgung mit Hilfsmitteln einschließlich Zubehör” näher zu bestimmen, aber – anders als etwa § 34 SGB V – keinerlei Hinweis darauf enthält, daß sie die Schaffung von Vorschriften bezweckt, welche den bereits in den vorausgegangenen Vorschriften (§ 11 Abs 1 Satz 2 und § 13 BVG) eingeräumten Leistungsrahmen wieder einschränken sollen. Die Ermächtigungsvorschrift findet sich im Gegenteil im Regelungszusammenhang mit einer Ermächtigung, die offensichtlich auf eine Ausweitung der Versorgungsleistungen gegenüber den Ansprüchen aus der gesetzlichen Krankenversicherung abzielt, weil sie dem Verordnungsgeber die Schaffung von Vorschriften über „ergänzende” Leistungen (Ersatzleistungen) neben der schon ohnehin eingeräumten Versorgung mit Hilfsmitteln gestattet.

Für die in § 24a Buchst a BVG hier gegebene Auslegung spricht auch, daß durch Art 37 GRG die auf das Dritte Neuordnungsgesetz vom 28. Dezember 1966 (BGBl I S 750) zurückgehende Ermächtigung des § 24a Buchst b BVG aF zum 1. Januar 1989 ersatzlos entfallen ist. In der weggefallenen Vorschrift wurde der Verordnungsgeber über den in § 24a Buchst a BVG gezogenen Rahmen hinaus ermächtigt, „näher zu bestimmen, was als Hilfsmittel … iS des § 13 Abs 1 BVG gilt”. Wie der Senat in seiner oben zitierten Entscheidung vom 9. April 1997 ausgeführt hat, ist der Verordnungsgeber jedenfalls seitdem nicht mehr befugt, der Verordnung das Enumerationsprinzip zugrunde zu legen, dh durch die OrthV die Leistungspflicht für die Hilfsmittelversorgung auf diejenigen Hilfsmittel zu beschränken, die in dieser Verordnung ausdrücklich aufgeführt sind. Darüber hinaus ist aber die Streichung des Buchst b in § 24a BVG durch das GRG ein Indiz dafür, daß der Verordnungsgeber überhaupt gehindert sein sollte, die Leistungsvoraussetzungen für die Versorgung mit Hilfsmitteln nach der OrthV gegenüber denen der gesetzlichen Krankenversicherung zu verschärfen.

Für die vom Senat vertretene Auslegung der Ermächtigungsnorm des § 24a Buchst a BVG spricht des weiteren, jedenfalls soweit – wie hier – die Versorgung von Beschädigten wegen Schädigungsfolgen in Rede steht, daß grundsätzlich jeder Beschädigte – auch der gesetzlich krankenversicherte (vgl § 10 Abs 7 BVG, wo auch für Buchst d nicht auf § 10 Abs 1 BVG verwiesen wird) – wegen seiner Schädigungsfolgen einen umfassenden Anspruch auf Heilbehandlung (§ 1 Abs 1, § 10 Abs 1 BVG) haben soll, der letztlich auf Kosten des Bundes als des endgültigen Trägers der Versorgungslast (vgl dazu Art 120 Abs 1 GG; BVerfGE 9, 305, 323 ff; § 1 Abs 1 Nr 8 und § 21 Abs 1 Satz 1 des Ersten Überleitungsgesetzes idF vom 28. April 1955 ≪BGBl I S 193≫) zu erfüllen ist. Diesem Grundsatz entspricht es, daß die nach dem BVG vorgesehenen Heilmaßnahmen auf Kosten des Trägers der Versorgungslast durchgeführt werden. Bei denjenigen Leistungen, welche die Versorgungsbehörden selbst erbringen (§ 18 Abs 1 Sätze 1 und 2 BVG), ergibt sich das schon aus der Natur der Sache. Bei den Leistungen, die kraft gesetzlichen Auftrages (§ 18c Abs 1 Satz 3 BVG) von den Krankenkassen zu erbringen sind, ist – jedenfalls grundsätzlich – ein Anspruch auf Kostenerstattung (§§ 19, 20 BVG) gegeben. Dagegen haben die Krankenkassen keinen Anspruch auf Erstattung von Kosten, die durch eine nur nach ihrem Leistungsrecht – und nicht auch nach dem BVG – zu erbringende Behandlung von schädigungsbedingten Leiden verursacht worden sind. Der Grundsatz der umfassenden Heilbehandlung auf Kosten des Trägers der Versorgungslast wird somit nur verwirklicht, wenn sämtliche von der Krankenkasse im Rahmen der Krankenbehandlung für Schädigungsfolgen zu bewirkenden Leistungen auch nach dem BVG zu erbringen sind, weil die Krankenkasse im anderen Fall – entgegen dem dargestellten Grundsatz – schädigungsbedingte Behandlungskosten endgültig tragen müßte. Im übrigen hat der Senat bereits in einer früheren Entscheidung zur orthopädischen Versorgung ausgesprochen, daß Hilfsmittel in der Krankenversicherung nach einem engeren Maßstab als in der Kriegsopferversorgung zu gewähren sind (vgl BSG SozR 3614 § 4 Nr 3 auf S 7 oben; ähnlich BSG SozR 3614 § 1 Nr 4 ≪insoweit nicht abgedruckt≫ = Breithaupt 1982, 792 ff).

Wegen der iS der vorgenannten Ausführungen eingeschränkten Ermächtigungsgrundlage des § 24a Buchst a BVG durfte der Gesetzgeber – jedenfalls seit dem 1. Januar 1989 – in die OrthV keine Regelung aufnehmen, welche für die Versorgung mit Hilfsmitteln geringere Ansprüche der Heilbehandlungsberechtigten vorsieht, als sie den Mitgliedern der gesetzlichen Krankenkassen gegen ihren Leistungsträger zustehen. Der Verordnungsgeber durfte den Anspruch auf ein Hilfsmittel also auch nicht davon abhängig machen, daß weitergehende Leistungsvoraussetzungen vorliegen, als sie für die Gewährung desselben Hilfsmittels nach den Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung bestehen. Die genannten Vorschriften (§ 18 Abs 1 und § 17a Abs 2 OrthV) sind daher ermächtigungskonform in der Weise auszulegen, daß der vom Verordnungsgeber darin vorausgesetzte gesteigerte Behandlungsbedarf nur insoweit gilt, wie der Verordnungsgeber in der OrthV die Leistung von Hilfsmitteln vorsieht, die nach den Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung nicht zu leisten wären, etwa weil sie Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens sind (vgl dazu Urteil des Senats vom 9. April 1997 – 9 RV 23/95 – zur Veröffentlichung vorgesehen). Ein Hilfsmittel ist mithin bereits dann zu liefern, wenn es die in § 33 Abs 1 SGB V genannten Voraussetzungen erfüllt und für eine ausreichende und zweckentsprechende Heil- oder Krankenbehandlung notwendig und nicht unwirtschaftlich ist (§ 12 Abs 1 SGB V). Entsprechend ist auch § 16 Satz 2 OrthV auszulegen. Die Versorgung mit Hilfsmitteln, zu deren Lieferung die Krankenkasse ihren Mitgliedern verpflichtet ist, wird also in keinem Fall dadurch ausgeschlossen, daß die OrthV für dieses Hilfsmittel eine Sonderregelung trifft, die strengere Leistungsvoraussetzungen als das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung vorsieht.

Das vom Kläger beanspruchte Lese-Sprechgerät wäre nach den Vorschriften der gesetzlichen Krankenversicherung (§ 33 Abs 1 SGB V) von der Krankenkasse ihren Mitgliedern zu leisten. Das ergibt sich aus dem Urteil des 3. Senats des BSG vom 23. August 1995 (SozR 3-2500 § 33 Nr 16). Nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Seh- und Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung auszugleichen, soweit das Hilfsmittel nicht als allgemeiner Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen ist. Wie das BSG aaO ausgeführt hat, ist das Lese-Sprechgerät weder ein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens noch nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen. Es ist ein geeignetes Hilfsmittel zum Ausgleich einer Behinderung iS der 2. Alt des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V, weil es als ein sonstiges Hilfsmittel anzusehen ist, das ein behinderungsbedingt erheblich beeinträchtigtes Grundbedürfnis des Behinderten – nämlich das Informationsbedürfnis – abdeckt.

Das vom Kläger selbst beschaffte Gerät ist auch als wirtschaftlich anzusehen. Das gilt zunächst insoweit, als die Kosten und der Gebrauchsvorteil des Hilfsmittels in einer begründbaren Relation stehen (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 4). Nach den Feststellungen des SG nutzt der Kläger das Gerät täglich drei bis fünf Stunden. Dabei kann, wie das BSG aaO überzeugend ausgeführt hat, dem Kläger der von ihm ausgewählte Lesestoff nicht anspruchshindernd entgegengehalten werden (Art 5 GG). Auch soweit der Kläger im Rahmen seines Anspruchs auf Kostenerstattung „in angemessenem Umfang” (§ 18 Abs 4 Satz 1 BVG) möglicherweise nur die Kosten eines Gerätes in Standardausführung (vgl dazu BSG SozR 3-2500 § 33 Nr 5) und – bei mehreren Anbietern gleich tauglicher Geräte – nur die Kosten des zum niedrigsten Preis angebotenen Gerätes verlangen könnte, bestehen gegen den Umfang der Verurteilung des Beklagten durch das SG keine Bedenken. Denn der Kläger hat ohnehin nur einen Erstattungsbetrag geltend gemacht, der offensichtlich weit unterhalb der Anschaffungskosten auch für das billigste seinerzeit marktgängige Lese-Sprechgerät lag (vgl dazu auch die von der Beigeladenen in der Revisionsinstanz vorgelegte – nicht veröffentlichte – Anlage zum zitierten Rundschreiben des BMA vom 19. August 1994, die eine Übersicht über Hersteller, Eigenschaften und Preise der seinerzeit angebotenen Lese-Sprechgeräte enthält).

Das Gerät ist auch „im Einzelfall erforderlich” iS des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V. Seine Erforderlichkeit entfällt auch nicht deswegen, weil der Kläger durch die ihm geleistete Pflegezulage der Stufe III in Höhe von derzeit 1.138,00 DM in der Lage wäre, eine bezahlte Vorlesekraft anzustellen, abgesehen davon, daß eine Vorlesekraft in dem zeitlichen Umfang, in dem der Kläger das Gerät benötigt, schwerlich für diesen Betrag zur Verfügung gestellt werden könnte.

Auch unter versorgungsrechtlichen Gesichtspunkten darf der Bezug der Pflegezulage – als Barleistung, die gemäß § 35 Abs 1 Satz 5 BVG ohne Nachprüfung ihrer Verwendung geleistet wird – dem Kläger im Rahmen der Heilbehandlung und der Versorgung mit Hilfsmitteln nicht entgegengehalten werden. Denn der Anspruch des Beschädigten auf Heilbehandlung besteht unabhängig von seinen Ansprüchen auf Barleistungen. Das zeigt insbesondere die Vorschrift des § 18 Abs 1 Satz 2 BVG, wonach auch noch so hohe Barleistungen der Beschädigtenversorgung nicht zum Verlust oder auch nur zur Minderung der Ansprüche auf volle Versorgung (ohne Eigenbeteiligung) führen, etwa bei den Ansprüchen auf Lieferung von Arznei- und Verbandmitteln oder auf die Versorgung mit Zahnersatz. Dem Grundsatz, daß Heilbehandlung unabhängig von der finanziellen Lage und damit auch von den Versorgungsbezügen des Beschädigten zu gewähren ist, würde es widersprechen, wenn ihm der Bezug der Pflegezulage der Stufe III anspruchsvernichtend oder auch nur anspruchsmindernd entgegengehalten werden könnte.

Über die Kosten hat der Senat nach § 193 SGG entschieden.

 

Fundstellen

SozR 3-3100 § 13, Nr.2

SozSi 1998, 279

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