Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsunfall. weitläufiges Baugelände. Unaufklärbarkeit. unfallbedingte Erinnerungslücke. objektive Beweislast

 

Orientierungssatz

1. Läßt sich trotz Ausschöpfung aller Beweismittel nicht feststellen, daß der Verletzte bei einer versicherten Tätigkeit verunglückt ist und sind verschiedene gleichwertige Fallgestaltungen denkbar, dann kann vor allem im Hinblick auf eine weitläufige Baustelle und einen weitab vom zugewiesenen Arbeitsplatz gelegenen Unfallort von einem typischen Geschehensablauf keine Rede sein. Das schließt eine Beweisführung nach dem ersten Anschein für das Vorliegen versicherter Tätigkeit von vornherein aus.

2. Die tatsächliche Ungewißheit über die zum Unfall geführte Tätigkeit schließt zugleich jeden Nachweis des für den Versicherungsschutz maßgebenden inneren Zusammenhangs mit der Betriebstätigkeit oder dem Beschäftigungsverhältnis aus. Es ist in der allgemeinen Unfallversicherung grundsätzlich kein Raum für die Annahme eines sogenannten Betriebsbanns, nach dem der Versicherungsschutz im Falle der Einwirkung besonderer, einem Betrieb eigentümlicher Gefahren auch auf Tätigkeiten erstreckt wird, die sonst dem privaten Lebensbereich zugerechnet werden (vgl BSG vom 22.1.1976 - 2 RU 101/75 = SozR 2200 § 548 Nr 15).

3. Den Nachteil aus der tatsächlichen Unaufklärbarkeit anspruchsbegründender Tatsachen, hat der Verletzte nach den Regeln der objektiven Beweislast zu tragen.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs 1, § 550 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 05.07.1989; Aktenzeichen L 3 U 153/88)

SG Speyer (Entscheidung vom 03.10.1988; Aktenzeichen S 6 U 154/87)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Entschädigung eines Unfalls des Klägers als Arbeitsunfall.

Der Kläger war bei einer Bauunternehmung als Bauhelfer beschäftigt. Er wurde auf einer weitläufigen Baustelle eingesetzt, auf der ein Altbau umgebaut werden sollte. Neben dem Altbau war eine große und tiefe Baugrube ausgehoben worden. Außer den Bauarbeiten der Arbeitgeberin des Klägers ließ auch eine Betonbohrgesellschaft Betonsägearbeiten an dem Altbau verrichten.

Am 21. August 1986 nach der Frühstückspause wurde der Kläger in der Baugrube im Bereich einer durch die Mauern des Altbaus gebildeten Ecke, in der sich auch ein Durchgang zum Altbau befand, von einem aus der Betonuntergeschoßwand herabgefallenen Betonteil auf den Kopf und das rechte Bein getroffen. Dadurch erlitt er schwere Verletzungen.

Die Beklagte lehnte es ab, dem Kläger Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren, weil er nicht bei einer versicherten Tätigkeit verunglückt sei. Während der Frühstückspause habe er zu einem nicht näher aufklärbaren Zweck, der jedenfalls nicht im inneren Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit gestanden habe, einen Weg unternommen, der ihn durch den Altbau geführt habe. Deshalb habe er nicht unter Unfallversicherungsschutz gestanden, als er durch den Durchgang an der Unfallstelle die Baugrube betreten habe (Bescheid vom 19. Mai 1987).

Vor dem Sozialgericht (SG) Speyer, das den Kläger persönlich gehört und mehrere Zeugen vernommen hat, sowie vor dem Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz ist der Kläger ohne Erfolg geblieben (Urteile vom 3. Oktober 1988 und 5. Juli 1989). Das LSG hat ausgeführt, es könne nicht feststellen, daß der Kläger am Unfalltag in der abgesperrten Baugrube eine versicherte Tätigkeit ausgeübt habe. Nach Aussage seines Mitarbeiters, des Kranführers H       , sei er unmittelbar vor dem Unfall aus dem Altbau herausgetreten. Was der Kläger an der Unfallstelle tatsächlich gemacht habe und zu welchem Zweck, lasse sich nicht mehr feststellen. Damit fehle es an dem Nachweis einer versicherten Tätigkeit als anspruchsbegründende Tatsache mit der Folge, daß der Kläger nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast die Nachteile der Unaufklärbarkeit zu tragen habe.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

Seine Wege nach und von der Baustelle in der Schlachthofstraße seien Betriebswege gewesen, die der versicherten Tätigkeit auf der Baustelle gleichgestanden hätten. Selbst wenn er in der Frühstückspause eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit verrichtet hätte, wäre sein Rückweg zum Arbeitsplatz ein versicherter Betriebsweg gewesen oder der Weg hätte zumindest als gemischte Tätigkeit unter Versicherungsschutz gestanden. Abgesehen davon liege ein typischer Geschehensablauf darin, daß ein Arbeitnehmer auf der Arbeitsstelle während der Arbeitszeit einen Unfall erleide. Wenn, wie bei ihm, sich der Unfall während der Arbeitszeit am Arbeitsplatz ereignet habe, spreche der Beweis des ersten Anscheins dafür, daß der Arbeitnehmer auch bei einer versicherten Tätigkeit verunglückt sei. Werde auch dieser Gesichtspunkt abgelehnt, dann könne aber auch nicht als erwiesen angesehen werden, daß er im inneren Zusammenhang mit einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit verunglückt sei. Vielmehr sei dann erwiesen, daß er während der Arbeitspause einem betriebsbezogenen Gefahrenumstand erlegen sei. Das werde vom Unfallversicherungsschutz grundsätzlich erfaßt. Selbst wenn er während der Pause zu eigenwirtschaftlichen Zwecken tätig gewesen wäre, hätte das den Versicherungsschutz nicht unterbrochen. Bejahe man auch nur im Sinne einer Mitbedingung, daß seine zum Unfall geführte Tätigkeit durch die Betriebstätigkeit verursacht worden sei, dann sprächen die Regeln der objektiven Beweislast zu seinen Gunsten. Denn darauf, daß nicht betriebsbezogene Umstände von überwiegender Bedeutung für den Unfall gewesen seien, was nicht aufgeklärt werden könne, berufe sich die Beklagte (BSGE 43, 110). Zu seinen Lasten dürften die Regeln über die objektive Beweislast auf keinen Fall angewendet werden. Denn nur weil er unfallbedingt eine Erinnerungslücke habe, sei es zur Unaufklärbarkeit gekommen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die angefochtenen Urteile sowie den angefochtenen Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, seinen Unfall vom 21. August 1986 als Arbeitsunfall zu entschädigen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg, weil das LSG trotz Ausschöpfung aller Beweismittel nicht festzustellen vermocht hat, daß der Kläger bei einer versicherten Tätigkeit verunglückt ist und deshalb einen Arbeitsunfall erlitten hat.

Der Kläger war nach § 539 Abs 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Unfallversicherung gegen Arbeitsunfall versichert, weil er als Bauhelfer bei einer Bauunternehmung beschäftigt war. § 548 Abs 1 RVO setzt für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls voraus, daß sich ein Unfall bei der versicherten Tätigkeit ereignet. Dazu ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet, einerseits zur versicherten Tätigkeit zu rechnen ist (Wertung), und daß diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat (haftungsbegründende Kausalität). Zunächst muß also eine sachliche Verbindung mit der im Gesetz genannten versicherten Tätigkeit, hier der Betriebstätigkeit und dem Beschäftigungsverhältnis (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO), bestehen, der sogenannte innere Zusammenhang, der es rechtfertigt, das betreffende Verhalten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen (BSG SozR 2200 § 548 Nr 82; BSGE 63, 273, 274). Der innere Zusammenhang ist wertend zu ermitteln, indem untersucht wird, ob die jeweilige Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (BSGE 58, 76, 77). Für die tatsächlichen Grundlagen dieser Wertentscheidung ist der volle Nachweis zu erbringen; dh es muß bei vernünftiger Abwägung des Ergebnisses des Verfahrens der volle Beweis für das Vorliegen versicherter Tätigkeit als erbracht angesehen werden können (BSGE 58, 80, 83), es muß also sicher feststehen, daß eine versicherte Tätigkeit ausgeübt wurde (BSGE 61, 127, 128). Daran fehlt es dem Klageanspruch.

Das LSG hat in dem angefochtenen Urteil die tatsächlichen Feststellungen getroffen, daß der Kläger am Morgen des Unfalltages vor der Frühstückspause auf Weisung des Baupoliers damit beschäftigt war, einen Pfad mit einer Treppe anzulegen, damit die Bauarbeiter an der tiefen Baugrube sicher vorbeigehen konnten, ohne hinein zu fallen. Bereits seit einigen Tagen hatte die Betonbohrgesellschaft an dem Altbau Betonsägearbeiten durchführen lassen. Deshalb war die Baugrube mit einem weiß-roten Flatterband gegen unbefugtes Betreten abgesperrt und der Durchgang vom Altbau in die Baugrube mit einem Holzkreuz abgesichert. Wegen der Gefährlichkeit der Betonsägearbeiten hatte der Baupolier keine Arbeiten in diesem Gefahrenbereich ausführen lassen und mit dem die Sägearbeiten ausführenden Arbeiter besprochen, zu seinen gefährlichen Arbeiten insbesondere die Frühstückspausen zu nutzen. Allen Baustellenarbeitern war bekannt, in welchem Bereich die gefährlichen Betonsägearbeiten ausgeführt wurden. Angesichts dessen, so hat das LSG weiterhin festgestellt, ist trotz eingehender Vernehmung des Baupoliers und seiner Mitarbeiter nicht mehr aufzuklären, wie und zu welchem Zweck der Kläger an die Unfallstelle gelangt ist und was er dort zum Unfallzeitpunkt gemacht hat. Nachgewiesen ist lediglich, daß er am Unfallmorgen keine angewiesene Betriebstätigkeit in der Baugrube verrichtet hat.

An diese Feststellungen ist der Senat gebunden, weil der Kläger dagegen keine begründeten Revisionsrügen vorgebracht hat (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Insbesondere hat das LSG seine Beweiswürdigung in den Grenzen des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gehalten, was der Kläger auch nicht leugnet. Seine unfallbedingte Erinnerungslücke erklärt, daß er nicht zur Aufklärung der zum Unfall geführten Tätigkeit beitragen konnte. Das hat das LSG bei der Frage der erforderlichen Sachermittlung und Beweiswürdigung angemessen berücksichtigt. Weitere Rechtsfolgen zu Lasten des Trägers der Unfallversicherung können sich aus einer solchen unfallbedingten Erinnerungslücke nicht ergeben.

Zutreffend zieht das LSG die rechtliche Schlußfolgerung, daß keine tatsächlichen Grundlagen nachgewiesen sind, die die Wertung zulassen, der Kläger sei bei einer versicherten Tätigkeit verunglückt. Denkbar aber nicht festzustellen ist sowohl, daß der Kläger irgend eine unbekannte und nicht näher zu vermutende, nach § 548 Abs 1 RVO oder § 550 Abs 1 RVO versicherte Tätigkeit verrichtete, als auch, daß er eine private und eigenwirtschaftliche Tätigkeit ausübte, die nicht unter Unfallversicherungsschutz stand. Er kann auf der einen Seite auch ohne Anweisung in der Baugrube eine versicherte Bauarbeit verrichtet oder einen versicherten Betriebsweg zurückgelegt haben und genauso gut auf der anderen Seite aus privatem Interesse an der Unfallstelle eigenwirtschaftlich tätig geworden sein oder einen Weg zurückgelegt haben, der, wie zB beim neugierigen Umhergehen im Altbau oder bei Privatbesorgungen, eigenwirtschaftlichen Zwecken gedient hat.

Der festgestellte Sachverhalt unterscheidet sich somit tatsächlich und in seiner darauf beruhenden rechtlichen Beurteilung wesentlich von den anderen Fällen, in denen der Versicherte wegen einer unfallbedingten Erinnerungslücke die zum Unfall führende betriebliche Verrichtung nicht angeben kann, Fälle, in denen der Versicherte innerhalb des von ihm häufig aufzusuchenden Arbeitsbereichs oder kleineren Betriebsgeländes verunglückt, ohne daß an dem Ort oder zu der Zeit des Unfalls Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, daß der Versicherte die Verrichtung oder den Weg nicht aus betrieblichen Gründen verrichtet oder unternommen hat.

Die vorliegende tatsächliche Unaufklärbarkeit steht allen Lösungsversuchen des Klägers entgegen und schließt es auch aus, eine nur geringfügige, versicherungsunschädliche Unterbrechung des Unfallversicherungsschutzes anzunehmen (s das Urteil des Senats vom 5. Februar 1980 - 2 RU 75/79 - mwN in HVGBG RdSchr VB 87/80). Die verschiedenen gleichwertig denkbaren Fallgestaltungen machen deutlich, daß vor allem im Hinblick auf die weitläufige Baustelle und den weitab vom zugewiesenen Arbeitsplatz gelegenen Unfallort von einem typischen Geschehensablauf keine Rede sein kann. Das schließt eine Beweisführung nach dem ersten Anschein für das Vorliegen versicherter Tätigkeit von vornherein aus. Da noch nicht einmal festgestellt werden kann, ob der Kläger bei einer stationären Tätigkeit oder auf einem Weg verunglückte, läßt sich der Klageanspruch auch weder auf einen Betriebsweg oder einen Weg zum Ort der Tätigkeit oder eine gemischte Tätigkeit noch auf einen Unfallversicherungsschutz während einer Betriebspause stützen (s zum letzteren das Urteil des Senats vom 5. Februar 1980 aaO); der Unfallort war auch nicht zum Verweilen während der Arbeitspause bestimmt oder geeignet. Schließlich ist auch nicht nachgewiesen, daß der Kläger während einer nur geringfügigen Unterbrechung der versicherten Tätigkeit verunglückte, weil weder die Art noch der Zweck noch die Dauer der Unterbrechung aufklärbar ist (s insbesondere zu den engen Grenzen einer nur vorübergehenden Unterbrechung ua Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl S 486p, 487e).

Die tatsächliche Ungewißheit über die zum Unfall geführte Tätigkeit schließt zugleich jeden Nachweis des für den Versicherungsschutz maßgebenden inneren Zusammenhangs mit der Betriebstätigkeit oder dem Beschäftigungsverhältnis aus. Es ist in der allgemeinen Unfallversicherung grundsätzlich kein Raum für die Annahme eines sogenannten Betriebsbanns, nach dem der Versicherungsschutz im Falle der Einwirkung besonderer, einem Betrieb eigentümlicher Gefahren auch auf Tätigkeiten erstreckt wird, die sonst dem privaten Lebensbereich zugerechnet werden (BSG SozR 2200 § 548 Nr 15 mwN).

Den Nachteil aus dieser tatsächlichen Unaufklärbarkeit anspruchsbegründender Tatsachen, auf die sich der Kläger stützen muß, hat er nach den Regeln der objektiven Beweislast zu tragen. Das haben das SG und das LSG entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Senats (s BSGE 19, 52, 54; 58, 76, 79; BSG, Urteil vom 28. Juni 1984 - 2 RU 54/83 - mwN in: HV-Info 1984 Nr 15 S 40; Brackmann, aaO S 480n mwN) zu Recht entschieden und die Klage abgewiesen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1667389

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