Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz während der Arbeitspause bei eigenwirtschaftlichen Tätigkeiten

 

Leitsatz (amtlich)

Entfernt sich ein Beschäftigter zu einer privaten Zwecken dienenden Verrichtung von seinem Arbeitsplatz und verunglückt er dabei durch einen Betriebsvorgang, dem er ohne die Unterbrechung seiner Betriebsarbeit nicht ausgesetzt gewesen wäre, so besteht kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall.

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Unfallversicherungsschutz schließt die Arbeitspause auf der Arbeitsstätte grundsätzlich ein; benutzt der Versicherte die Arbeitspause jedoch, um Betriebseinrichtungen für private Zwecke zu gebrauchen, so ist der Unfallversicherungsschutz grundsätzlich ausgeschlossen, wenn nicht betriebsbedingte Gefahren den Unfall wesentlich mitbewirkt haben.

 

Orientierungssatz

Zur Frage der Terminverlegung bei Verhinderung des Prozeßbevollmächtigten durch andere Gerichtstermine

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30; SGG § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 227 Abs. 1 S. 1, Abs. 3

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19. Juni 1975 wird aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 13. April 1973 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der Kläger ist bei der Firma D AG, Stuttgart, als Installateur in der Installationsabteilung beschäftigt. Am 30. September 1971 erlitt er bei einem Unfall in der Lackiererei einen komplizierten Unterschenkelbruch links. Er wurde zwischen zwei Personenkraftwagen, von denen der eine ein sog. "Rechtslenker" mit Gaspedal links war, eingeklemmt. Anläßlich der Untersuchung des Unfalls gab der Kläger an, er habe im Augenblick den Unfalls Reparaturarbeiten als Installateur verrichtet. Die Firma D AG teilte der Beklagten später mit, wie erst jetzt habe in Erfahrung gebracht werden können, habe sich der Kläger in der Lackierhalle 131 b, wo es zu dem Unfall gekommen sei, etwas Lack für private Zwecke besorgen wollen. Weder im Bereich dieser Halle noch in deren näheren Umgebung habe der Kläger im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit etwas zu tun gehabt.

Mit Bescheid vom 28. August 1972 lehnte die Beklagte eine Entschädigung aus Anlaß des Unfalls des Klägers vom 30. September 1971 ab, weil der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls eigenwirtschaftlich tätig gewesen sei.

Der Kläger hat Klage erhoben.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 13. April 1973 die Klage abgewiesen, da der Kläger im Zusammenhang mit einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit den Unfall erlitten habe.

Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 19. Juni 1975 das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 30. September 1971 die gesetzlichen Leistungen zu gewähren. Es hat zur Begründung u. a. ausgeführt: Die Angaben des Klägers vom 17. Dezember 1971 vor der Ortsbehörde, er habe im Unfallzeitpunkt Reparaturarbeiten als Installateur verrichtet, seien nicht erwiesen. Ebenso sei die Behauptung des Klägers in seiner Klageschrift und in der mündlichen Verhandlung, er habe beabsichtigt, im Auftrag des Zeugen M Polierpaste zu holen, unrichtig. Abgesehen davon, daß der Zeuge M gegenüber dem Kläger überhaupt nicht weisungsbefugt gewesen sei, habe er bei seiner Einvernahme glaubhaft bekundet, er habe dem Kläger am 30. September 1971 keinen entsprechenden Auftrag erteilt. Es könne lediglich davon ausgegangen werden, daß der Kläger mit einer Dose das Gebäude 134 c verlassen und hierbei gegenüber dem Zeugen geäußert habe, er gehe Paste holen. Es sei somit nicht geklärt, zu welchem Zweck der Kläger die Polierpaste habe beschaffen wollen. Polierpaste finde bei Arbeiten eines Installateurs im allgemeinen keine Verwendung; es bestehe lediglich eine denkbare Verwendungsmöglichkeit bei Warmwassergeräten. Sei sonach nicht erwiesen und auch nicht aufklärbar, zu welchem Zweck der Kläger Polierpaste habe beschaffen wollen, so stehe andererseits fest, daß sich der Unfall auf dem Betriebsgelände der Firma D-B ereignet habe, und zwar durch die Fahrlässigkeit einer zu Werksfahrten ermächtigten Betriebsangehörigen, der bei dem rechts gesteuerten Pkw Brems- und Gaspedal verwechselt habe. Da hiernach eine Betriebseinrichtung wesentlich mitwirkende Ursache des Unfalls gewesen sei, habe ein Arbeitsunfall im Sinne des § 548 RVO vorgelegen.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.

Sie trägt vor: Ein Unfall sei nicht schon ein Arbeitsunfall, weil eine Betriebseinrichtung mitgewirkt habe. Immer müsse vielmehr eine Betriebsbeziehung vorliegen, durch die der Verunglückte mit der Betriebseinrichtung in Berührung gekommen sei. Das sei aber aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht anzunehmen. Der Kläger sei bei seiner eigenwirtschaftlichen Tätigkeit nicht anders zu stellen gewesen als ein Dritter, der durch einen Betriebsvorgang auf der Betriebsstätte geschädigt worden sei.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG vom 13. April 1973 zurückzuweisen,

hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Er trägt vor: Das LSG habe nicht den Begriff des Arbeitsunfalls verkannt. Es habe nur den Begriff der betriebsbezogenen Tätigkeit erweitert und deshalb unentschieden gelassen, ob der Kläger im dienstlichen Auftrag oder ohne einen solchen in eigenwirtschaftlicher Tätigkeit den Unfall erlitten habe. Dem LSG sei auch darin zuzustimmen, daß die typische Betriebsgefahr der Betriebseinrichtung eines rechtsgelenkten Kraftfahrzeuges den Versicherungsschutz nicht aufhebe, zumal wenn nicht feststehe, daß die Tätigkeit des Verletzten eigenwirtschaftlich gewesen sei. Dies habe er vielmehr stets bestritten. Der Zeuge M habe unrichtige Angaben gemacht, weil er nach eigenen Bekundungen befürchte, er werde bei richtiger Darstellung seines Auftrags haftpflichtig gemacht. Allein deshalb habe er sich schriftlich so geäußert. Das Gericht wäre gehalten gewesen, bei der ausschlaggebenden Bedeutung der Aussage diesen Zeugen persönlich zu vernehmen.

 

Entscheidungsgründe

Dem Antrag des Klägers, den Verhandlungstermin zu verlegen, weil sein Prozeßbevollmächtigter am 22. Januar 1976 eine umfangreiche Beweisaufnahme beim Landgericht Stuttgart wahrzunehmen habe, konnte der Senat im Hinblick auf die Geschäftslage und die Belastung in den nächsten Sitzungen nicht stattgeben. Der Umstand, an einem Tage mehrere zeitlich nicht vereinbarte Termine wahrnehmen zu sollen, wird auch unter Berücksichtigung der Situation des Prozeßbevollmächtigten regelmäßig nicht als erheblicher Grund im Sinne des § 227 der Zivilprozeßordnung - ZPO - (hier i. V. m. § 202 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) für eine Verlegung des Termins angesehen (vgl. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 34. Aufl. 1976, § 227 Anm. 2 B). Die Ladung zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat ist dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers wegen eines anschließenden Wochenendes zwar etwas später als voraussehbar, aber noch innerhalb der z. B. im Rahmen des § 217 ZPO vorgesehenen Frist zugegangen. Dem Kläger war vorher aufgrund der Verfügungen des Senats vom 29. Oktober und 8. Dezember 1975 ausreichend Gelegenheit zur schriftlichen Äußerung gegeben.

Die zulässige Revision ist begründet.

Das LSG hat aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens nicht feststellen können, daß der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls aus betrieblichen Gründen in der Lackiererei gewesen ist. Diese Feststellung des Berufungsgerichts hat der Kläger nicht mit begründeten Verfahrensrügen angegriffen. Soweit er meint, der Zeuge M habe aus Angst vor einer Schadensersatzpflicht unrichtig ausgesagt, hält er lediglich ein anderes Beweisergebnis als das LSG für zutreffend, ohne darzulegen, das Berufungsgericht habe die gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung verletzt. Die Rüge, das LSG wäre wegen der Bedeutung der Aussage gehalten gewesen, den Zeugen M persönlich zu vernehmen, ist schon deshalb unbegründet, weil nach der Sitzungsniederschrift dieser Zeuge in Anwesenheit des Klägers und dessen Prozeßbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 19. Juni 1975 vernommen worden ist.

Das LSG hat einen Arbeitsunfall auch für den Fall angenommen, daß der Kläger aus privaten Gründen die Lackiererei aufgesucht und im Unfallzeitpunkt somit eine privaten Zwecken dienende Tätigkeit verrichtet hat. Dieser Auffassung tritt der erkennende Senat nicht bei.

Arbeitsunfall ist ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 - 545 RVO angeführten Tätigkeiten erleidet (§ 548 Abs. 1 Satz 1 RVO). Es muß ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall bestehen. Als Ursache und Mitursache sind nach der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur die Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer Beziehung zu dem Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (s. BSG 1, 72, 76 - ständige Rechtsprechung). Welche Bedingungen wesentlich und deshalb rechtlich als Ursache oder Mitursache anzusehen sind, ist eine Wertentscheidung. Ob eine Bedingung wesentlich ist, richtet sich nach den besonderen Umständen des Einzelfalles.

Ein Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit des Klägers und dem Unfall am 30. September 1971 ist allerdings nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls keine betriebliche Tätigkeit verrichtet hat. So besteht Versicherungsschutz auch während der Arbeitspause auf der Arbeitsstätte (vgl. RVA EuM 44, 9; BSG 11, 267, 269; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-8. Aufl., S. 481; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 548 Anm. 68); denn die Arbeitspause auf der Arbeitsstätte steht mit dem Beschäftigungsverhältnis im Zusammenhang. Dies gilt auch dann, wenn der Versicherte während der Pause eine privaten Zwecken dienende Tätigkeit verrichtet (s. BSG aaO; Brackmann aaO). Wird er dabei z. B. durch eine Explosion oder ausströmendes Gas verletzt, so handelt es sich um einen mit der versicherten Tätigkeit im Zusammenhang stehenden Arbeitsunfall. Verunglückt der Arbeitnehmer jedoch nicht nur während, sondern bei einer Tätigkeit, die er während der Pause ausübt, steht also der Unfall im ursächlichen Zusammenhang mit dieser Tätigkeit, so ist zu prüfen, ob diese Tätigkeit dem Betrieb dient (BSG Urteil vom 19. Dezember 1968 - 2 RU 245/66; LSG Baden-Württemberg Breithaupt 1967, 109; Brackmann aaO S. 482). Ebenso wird außerhalb der Arbeitspause während einer Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit bei einer privaten Zwecken dienenden Verrichtung Versicherungsschutz in der Regel nicht gegeben sein; er ist aber nicht schlechthin ausgeschlossen. Der Kausalzusammenhang mit der versicherten Tätigkeit kann dabei auch darauf beruhen, daß betriebsbedingte Gefahren - z. B. fahrlässiges Verhalten eines Arbeitskollegen - den Unfall wesentlich mitbewirkt haben (vgl. BSG SozR Nr. 21 zu § 548 RVO). Da jedoch die versicherte Tätigkeit Mitursache des Unfalls nur ist, wenn sie diesen wesentlich bedingt hat, kann bei einer privaten Zwecken dienenden Verrichtung nicht allein deshalb, weil eine Betriebseinrichtung oder ein Betriebsvorgang an dem Unfallgeschehen mit beteiligt waren, stets und ohne Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles angenommen werden, die versicherte Tätigkeit sei eine Mitursache des Unfalls (s. BSG 14, 295, 296; Brackmann aaO S. 480 s I; Lauterbach aaO § 548 Anm. 50). Es ist in der allgemeinen gesetzlichen Unfallversicherung grundsätzlich kein Raum für die Annahme eines sog. Betriebsbanns, nach dem der Versicherungsschutz im Falle der Einwirkung besonderer, einem Betrieb eigentümlicher Gefahren auch auf Tätigkeiten erstreckt wird, die sonst dem privaten Lebensbereich zugerechnet werden (vgl. u. a. Brackmann aaO; Vollmar, Sozialversicherung 1963, 184). Deshalb hat der Senat eine Spielerei oder Neckerei erwachsener Beschäftigter grundsätzlich als ein den Zwecken des Betriebes zuwiderlaufendes Verhalten und im Verhältnis zu dem Umstand, daß der Verletzte während des Unfalls im Betrieb beschäftigt war und eine Betriebseinrichtung zum Zustandekommen des Unfalls mit beigetragen hat, rechtlich als die alleinige Ursache angesehen (vgl. u. a. BSG SozR Nr. 55, 74 zu § 542 RVO aF; BSG SozR Nr. 2 zu § 548 RVO; Brackmann aaO S. 484 s; Lauterbach aaO § 548 Anm. 59). Der Versicherungsschutz ist jedoch auch bei einer Spielerei gegeben wenn eine Betriebseinrichtung oder ein Betriebsvorgang nicht nur zu dem Zustandekommen des Unfalls mit beigetragen, sondern diesen wesentlich bedingt haben.

Nach diesen Grundsätzen ist auch zu entscheiden, ob die versicherte Tätigkeit des Klägers dessen Unfall am 30. September 1971 wesentlich bedingt hat.

War der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls unterwegs, um sich Lack für private Zwecke zu besorgen, so hatte er seine versicherte Tätigkeit unterbrochen. Er hatte sich - losgelöst von seiner betrieblichen Tätigkeit - zu dieser privaten Zwecken dienenden Verrichtung in eine andere Werkshalle und damit in den Gefahrenbereich des Betriebsvorganges begeben, der zu dem Unfall geführt hat. Bei seiner versicherten Tätigkeit wäre der Kläger diesem Betriebsvorgang nicht ausgesetzt gewesen. Die versicherte Tätigkeit des Klägers bot ihm nur die Gelegenheit, sich den Lack in der Lackiererei zu besorgen. Sie war deshalb keine Mitursache des Unfalls am 30. September 1971, sondern bildete lediglich eine sog. Gelegenheitsursache, da der Kläger nur gelegentlich seiner versicherten Tätigkeit den Entschluß gefaßt hat, sich den Lack aus der Halle 131 b zu holen.

Ein Arbeitsunfall liegt demnach entgegen der Auffassung des LSG nicht vor, wenn der Kläger seine versicherte Tätigkeit unterbrochen und aus privaten Gründen die Lackiererei aufgesucht hat. Das LSG hat aber aufgrund des Gesamtergebnisses nicht feststellen können, daß sich der Kläger aus betrieblichen Gründen in die Halle 131 b begeben hat. Damit ist ein Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall des Klägers nicht feststellbar. Die Beweislast für das Vorliegen dieses Ursachenzusammenhanges trägt der Kläger (s. BSG 19, 52, 53; Brackmann aaO S. 480 o I). Seine Berufung gegen das Urteil des SG war somit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1646848

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