Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 19. November 1963 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

[XXXXX]

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen, das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach § 182 Abs. 3 idF des Gesetzes vom 12. Juli 1961 (BGBl I 913) werde Krankengeld, falls nicht ein Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit vorliege, erst von dem Tage an gewährt, der dem Tage folge, an dem die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt worden sei. Die ärztliche Feststellung sei damit neben der Arbeitsunfähigkeit selbst Tatbestandsmerkaal für den Beginn des Krankengeldbezuges geworden. Hierdurch solle eine den Bedürfnissen der Praxis entsprechende Regelung geschaffen werden, die eine schnelle und zweifelsfreie Entscheidung ermögliche. Bei dieser Neuregelung sei bewußt von der bisherigen abgewichen worden, wie sich nicht nur aus der klaren Wortfassung, sondern auch aus der Entstehungsgeschichte ergebe. Selbst wenn man davon ausgehe, daß bei dem Kläger Arbeitsunfähigkeit bereits am 12. September 1962 eingetreten sei und diese auf eine zur vollen Geschäftsunfähigkeit führenden Geisteskrankheit beruhe, so könne der Krankengeldbezug erst mit dem 18. September 1962 beginnen. Ebenso wie in den Fällen, in denen ein Arzt nicht erreichbar gewesen sei, hätte es sich bei den Kläger nur darum gehandelt, daß die verspätete Feststellung nicht von ihm zu vertreten sei. Innerhalb dieser Fälle könne nicht danach unterschieden werden, worin im Einzelfall der Grund der verspäteten Feststellung liege; eine Krankheit oder ein Unfall könne, was die Schutzbedürftigkeit des einzelnen Versicherten anlagen, nicht anders bewertet werden als eine Geisteskrankheit. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt. Er trägt vor: Die Regelung des § 182 Abs. 3 RVO, wonach allein die ärztliche Feststellung für den Beginn des Krankengeldes maßgebend sei und die Krankenkasse nicht mehr durch Verwaltungsakt darüber entscheide, sei bedenklich.

Denn es sei aus sozialrechtlichen Erwägungen nicht möglich, den Anspruch auf Krankengeld stets dann zu versagen, wenn aus bestimmten Gründen eine Feststellung nicht möglich sei. Der Gesetzgeber würde bei einer solchen Auslegung der Vorschrift dem Arzt eine Position übertragen, die mit dem nach dem Prinzip der Gewaltenteilung organisierten Rechts- und Sozialstaat unvereinbar wäre.

Aber auch wenn die Regelung des § 182 Abs. 3 RVO im Normalfall ihren guten Sinn haben möge, sei hier eine andere Beurteilung gerechtfertigt. Denn der Kläger sei auf Grund seiner Erkrankung nicht imstande gewesen, einen Arzt zu rufen, weil er sich für völlig gesund und arbeitsfähig gehalten habe; er habe nicht daran gedacht, seine feststehende Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt bestätigen zu lassen. Es könne nicht rechtens sein, wenn das Gesetz in einem solchen Fall von dem Versicherten zur Erfüllung seiner Obliegenheiten eine ärztliche Feststellung sollte verlangen können, die erst anspruchsbegründend werden könnte. Ein solches gesetzgeberisches Verlangen würde der dem Gesetzgeber auferlegten Pflicht zur Sozialstaatsverwirklichung widerstreiten. Der Kläger habe auch keine Veranlassung gehabt, sich durch Dritte um eine ärztliche Feststellung zu bemühen. Die Auslegung des LSG sei auch im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) nicht unbedenklich, denn der Gesetzgeber gehe in § 182 Abs. 3 RVO ersichtlich davon aus, daß der Versicherte die ärztliche Feststellung herbeiführen könne. Wenn er aber ohne sein Verschulden die geforderte ärztliche Feststellung nicht herbeizuführen vermöge, so liege ein für den Gesetzgeber anders zu regelnder Sachverhalt vor. Die Auslegung durch das Berufungsgericht führe also zu einer nichtverfassungskonformen Bestimmung des Inhalts von § 182 Abs. 3 RVO.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des LSG Hamburg vom 19. November 1963 und des SG Hamburg vom 24. April 1963 sowie die Bescheide der Beklagten vom 3. Oktober 1962 und 2. November 1962 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Krankengeld für die Zeit vom 13. bis 17. September 1962 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II

Die Revision ist begründet.

Der Senat hat in seinem Urteil vom 18. März 1966 (SozR RVO § 182 Nr. 16) ausgesprochen, der Tag, an dem die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt werde, bleibe für den Beginn des Krankengeldes jedenfalls dann maßgebend, wenn es dem Versicherten nicht objektiv unmöglich gewesen sei, die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit am Tage ihres Eintritts zu erlangen. Diese Entscheidung ist damit begründet worden, daß § 182 Abs. 1 Satz. 1 RVO idF des Gesetzes vom 12. Juli 1961 klar sei. Daß der Wortlaut den Sinn und Zweck der Vorschrift unverkürzt zum Ausdruck bringe, bestätige ihre Entstehungsgeschichte. Zum Unterschied von der bisherigen Regelung, die auch eine rückwirkende Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ermöglicht habe, sei im Entwurf der neuen Regelung von vornherein vorgesehen gewesen, daß an die Stelle des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit deren Feststellung treten sollte. Auch bei den Beratungen des Vermittlungsausschusses sei die Mehrheit der Auffassung gewesen, daß eine rückwirkende Bescheinigung des Eintritts der Arbeitsunfähigkeit generell ausgeschlossen werden müsse, auch wenn das im Einzelfall zu Härten führe. Diese Regelung verstoße auch nicht gegen das GG. Der Senat hat damals aber die Frage offen gelassen, ob im Falle objektiver Unmöglichkeit, die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit rechtzeitig zu erreichen, § 183 Abs. 3 Satz. 1 RVO erweiternd auszulegen sei.

Im vorliegenden Fall behauptet nun der Kläger, er leide an endogenen Depressionen und mischbildhaftem Verstimmungszustand; er sei nicht in der Lage gewesen, die Bedeutung seiner Krankheit zu würdigen und einen Arzt aufzusuchen, weil er sich für gesund gehalten habe. In einem solchen Falle ist aber eine andere Beurteilung geboten.

In einem Urteil vom 19. Juni 1963 (BSG 19, 173) hat der Senat bereits entschieden: Ist ein geschäftsunfähiger Versicherter ohne gesetzlichen Vertreter, so beginnt in entsprechender Anwendung des § 206 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) die für die Anzeige der Weiterversicherung gesetzte Frist (§ 313 Abs. 2 Satz 1 RVO) erst zu laufen, wenn der Versicherte geschäftsfähig wird oder der Mangel der Vertretung aufhört. Begründet ist dieses Urteil damit, daß jemand, der nicht geschäftsfähig sei und keinen gesetzlichen Vertreter habe, im Rechtsverkehr nicht handeln könne. Ein Geisteskranker, der keinen gesetzlichen Vertreter habe, sei demnach nicht in der Lage, sein Recht auf Weiterversicherung auszuüben. Deshalb müsse der in § 206 Abs. 1 BGB zum Ausdruck gekommene Rechtsgedanke entsprechende Anwendung finden, das eine ein gestaltendes Handeln des Berechtigten voraussetzende Frist in ihrem Ablauf gehemmt sei, wenn der Berechtigte nicht geschäftsfähig sei und keinen gesetzlichen Vertreter habe. Ähnliche Gedankengänge hat der 7. Senat in einem Urteil vom 24. Oktober 1963 (BSG 20, 46) zu der Frage des Laufes der Rahmenfrist des § 85 Abs. 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) ausgesprochen, deren Beginn von der Arbeitslosmeldung abhängt, wenn diese ohne Verschulden verspätet erfolgt war.

Hiernach kann grundsätzlich die Versäumung einer Ausschlußfrist im Sozialversicherungsrecht jedenfalls dann nicht zu Lasten eines Berechtigten gehen, wenn dieser geschäftsunfähig ist und keinen gesetzlichen Vertreter hat. Auch § 182 Abs. 3 Satz 1 RVO enthält der Sache nach eine Ausschlußfrist: Wer nicht bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit diese an dem gleichen Tage ärztlich feststellen läßt verliert insoweit seinen Anspruch auf Krankengeld. Deshalb ist es angebracht, in diesem Falle den für Ausschlußfristen entwickelten Grundsatz anzuwenden, daß ein Säumnis nicht zum Rechtsverlust führen kann, wenn ein Handeln im Rechtssinn überhaupt nicht möglich war.

§ 182 Abs. 3 RVO kann daher in dem Falle der vorliegenden Art nicht uneingeschränkt angewandt werden. Vielmehr muß für die Zeit, in der der Versicherte arbeitsunfähig erkrankt war und keinen Arzt aufgesucht hat, Krankengeld gewährt werden wenn er während dieser Zeit geisteskrank und damit geschäftsunfähig war. Denn auch hier ist der Versicherte nicht in der Lage, die für den Beginn des Krankengeldes maßgebende Handlung vorzunehmen.

Des weiteren ist Voraussetzung, daß der Versicherte während dieser Zeit keinen gesetzlichen Vertreter hat, der für ein Aufsuchen des Arztes Sorge zu tragen hätte. Der Anspruch des Klägers auf Krankengeld für die seit vor dem Aufsuchen des Arztes kann daher nicht mit der vom LSG gegebenen Begründung verneint werden. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben.

Weil tatsächliche Feststellungen fehlen, die dem Senat eine abschließende Entscheidung ermöglicht hätten (das LSG hat gemäß seinem Standpunkt zu der Frage einer Geisteskrankheit keine Feststellungen getroffen), muß die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden. In seiner neuen Verhandlung wird das LSG nicht nur zu prüfen haben, ob der Kläger geisteskrank bzw. geschäftsunfähig war, sondern auch, ob der Kläger in der maßgebenden Zeit schon einen Pfleger hatte, welche Aufgabenkreise dieser hatte und ob es auch zu seinen Obliegenheiten gehört hat, sich um die persönlichen Angelegenheiten des Klägers zu kümmern, seinen Gesundheitszustand zu überwachen und deshalb auch für ein sofortiges Aufsuchen des Arztes Sorge zu tragen.

Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.

 

Unterschriften

Dr. Langkeit, Geyser, Dr. Krebs

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 19.08.1966 durch Schäfers, Reg.Sekretär als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle.

 

Fundstellen

Haufe-Index 707733

BSGE, 76

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