Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 26.04.1993)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. April 1993 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist die Gewährung von gesetzlichen Leistungen wegen Berufsunfähigkeit (BU).

Der 1946 geborene Kläger absolvierte von 1961 bis 1964 eine Maurerlehre und arbeitete bis 1968 zunächst in diesem Beruf. Nach einer vorübergehenden Tätigkeit als Chemiearbeiter war er ab 1970 als Fliesenleger beschäftigt. Wegen der Folgen eines am 12. Mai 1988 erlittenen Verkehrsunfalls bestand bis Mitte März 1989 Arbeitsunfähigkeit. Am 17. April 1989 nahm der Kläger eine Tätigkeit als Fliesenverkäufer auf, die von der Beklagten mit einer Eingliederungsbeihilfe gefördert wurde, beendete sie jedoch bald wieder, weil sie ihn überforderte. Seit dem 1. Juli 1989 ist der Kläger bei der Firma S. als Arbeiter im Kunststoffensterbau beschäftigt.

Den bereits im März 1989 gestellten Rentenantrag des Klägers lehnte die Beklagte ab, weil BU nicht vorliege. Die dagegen erhobene Klage wurde vom Sozialgericht Augsburg (SG) durch Urteil vom 18. Juli 1990 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hob das Bayerische Landessozialgericht (LSG) die erstinstanzliche Entscheidung sowie den Bescheid der Beklagten durch Urteil vom 26. April 1993 auf und verpflichtete die Beklagte, dem Kläger ab April 1989 die gesetzlichen Leistungen wegen BU zu gewähren. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt:

Den Beruf des Fliesenlegers könne der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr ausüben. Aus den eingeholten berufskundlichen Stellungnahmen des Landesarbeitsamtes Südbayern ergebe sich, daß zumutbare Verweisungstätigkeiten, die dem Kläger gesundheitlich noch möglich seien und die er wegen seiner Facharbeiterkenntnisse auch binnen drei Monaten erlernen könne, nicht ersichtlich seien. Eine Verweisung auf die vom Kläger von Mitte April 1989 bis zum 19. Juni 1989 ausgeübte Tätigkeit eines Fliesenverkäufers scheitere bereits daran, daß laut Auskunft des Arbeitgebers die Einarbeitungszeit 12 Monate hätte betragen sollen und damit weit über der vom Bundessozialgericht (BSG) geforderten Zeitspanne von höchstens drei Monaten für die Einarbeitung in eine Verweisungstätigkeit liege; im übrigen sei der Kläger durch die Tätigkeit auch überfordert worden.

Die vom Kläger ab 1. Juli 1989 und noch ausgeführte Tätigkeit bei der Firma Sälzle sei ebenfalls keine Verweisungstätigkeit. Für seine hauptsächlich verrichtete Tätigkeit, nämlich Einbau von Beschlägen in Fenster, habe der Kläger nur eine Einarbeitungszeit von ca vier Wochen benötigt. Daß er zeitweise weitere Arbeitsvorgänge zu verrichten habe, für die er im einzelnen auch nur eine Einarbeitungszeit von einer bis vier Wochen benötigt habe, ändere nichts an der Beurteilung seiner hauptsächlichen Tätigkeit. Er benötige für seine Tätigkeit nur dann ca drei Monate, wenn die für die Einarbeitung in die anderen Arbeitsgänge notwendigen Zeiträume addiert würden. Aus einer solchen Addition könne sich aber keine höhere Qualität der „Haupt”-Tätigkeit ergeben. Auch für einen Ungelernten sei im vorliegenden Fall nicht einmal eine dreimonatige Ausbildung notwendig.

Die Zumutbarkeit folge auch nicht aus der tarifvertraglichen Zuordnung der Tätigkeit. Die Aussage des Zeugen Z. habe ergeben, daß die Tätigkeit des Klägers der Lohngruppe VI und nicht der Lohngruppe IV des Lohntarifvertrages für das Schlosser-, Maschinenbauer-, Werkzeugmacher- und Schmiedehandwerk in Bayern (LTV) entspreche. Die Eingruppierung des Klägers durch seinen Arbeitgeber in Lohngruppe IV sei arbeitsvertraglich und nicht tarifvertraglich bedingt. Sie hänge nicht mit der Qualität der Tätigkeit, sondern der abstrakten Berufsausbildung des Versicherten und auch der Arbeitsmarktlage zusammen. Demgegenüber werde bei Lohngruppen III und IV von facheinschlägigen Facharbeitern ausgegangen, was der Kläger nicht sei. Daraus, daß die Tätigkeit des Klägers tarifvertraglich der Lohngruppe VI zuzuordnen sei, könne nicht hergeleitet werden, daß es sich (unabhängig von der notwendigen Dauer der Anlernzeit) um eine dem Kläger zumutbare Anlerntätigkeit handele. Denn der Tarifvertrag sei nicht so gestaltet, daß in Lohngruppe VI Anlerntätigkeiten (iS der Rechtsprechung des BSG) allgemein definiert und ihr konkrete Tätigkeiten zugeordnet würden. Denn die Definition enthalte keine festen zeitlichen Vorgaben und Voraussetzungen. Auch die Auslegung, die der Fachverband Metall für die Lohngruppen V und VI mitgeteilt habe (Anlernzeit zwischen zwei und vier Monaten), besage nichts Eindeutiges. Denn danach umfasse die Lohngruppe VI sowohl Ungelernte als auch Angelernte.

Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, daß dem Kläger die gegenwärtig verrichtete Arbeit sozial zumutbar sei. Nach der Struktur des LTV seien die Lohngruppen V und VI als Anlerntätigkeiten zu werten. Dem entspreche auch die Art der dem Kläger obliegenden Verrichtungen. Er müsse verschiedene Arbeitsgänge beherrschen, auch wenn er überwiegend nur einen ausführe. Es handele sich um Präzisionsarbeit. Auch in der chemischen Industrie würden Facharbeiter aus anderen Branchen für eigentlich ungelernte Tätigkeiten beschäftigt und als Facharbeiter bezahlt, weil solche Kräfte es gewohnt seien, besonders sorgfältig und verantwortungsbewußt zu arbeiten. Sorgfältiges Arbeiten sei auch für die Tätigkeit, die der Kläger zu verrichten habe, bedeutsam. Dem trage seine Eingruppierung in die Lohngruppe IV Rechnung. Dieser Gesichtspunkt sei in dem angefochtenen Urteil nicht richtig gewürdigt worden. Auch hätte die Zeugeneinvernahme gerade unter diesem Aspekt eingehender ausfallen sollen. Im übrigen müsse der Höhe der Entlohnung des Versicherten mit Rücksicht auf die Lohnersatzfunktion der BU-Rente eine größere Bedeutung beigemessen werden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayerischen LSG vom 26. April 1993 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Augsburg vom 18. Juli 1990 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen LSG als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig. Sie ist insoweit begründet, als sie zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG führt. Die berufungsgerichtlichen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Insbesondere läßt sich noch nicht eindeutig beurteilen, ob die vom Kläger ausgeübte Beschäftigung als sozial zumutbare Verweisungstätigkeit angesehen werden kann.

Der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen BU richtet sich noch nach § 1246 Reichsversicherungsordnung (RVO), da der Rentenantrag bereits im Jahre 1989 – also bis zum 31. März 1992 – gestellt worden ist und er sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 bezieht (vgl § 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 29). Rente wegen BU erhält danach der Versicherte, der berufsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der BU eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist (§ 1246 Abs 1 RVO).

Nach § 1246 Abs 2 RVO ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können.

Ausgangspunkt für die Beurteilung der BU ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG der „bisherige Beruf”, den der Versicherte ausgeübt hat (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 107, 169). Kann der Versicherte diesen nämlich ohne wesentliche Einschränkungen weiter ausüben, so ist er nicht berufsunfähig, ohne daß es auf seine Erwerbsfähigkeit in weiteren sog Verweisungstätigkeiten ankommt (vgl zB BSG SozR 2200 § 1246 Nr 126).

„Bisheriger Beruf” iS des § 1246 Abs 2 RVO ist, wie das BSG in zahlreichen Entscheidungen ausgesprochen hat (vgl zB BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 130, 164), in der Regel die letzte, nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn diese zugleich die qualitativ höchste ist (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 53, 66). Waren gesundheitliche Gründe für die Aufgabe einer Tätigkeit verantwortlich, so bleibt der Berufsschutz grundsätzlich erhalten, da sich insofern gerade das versicherte Risiko der gesetzlichen Rentenversicherung verwirklicht hat (vgl BSGE 2, 182, 187; BSG SozR Nr 33 zu § 1246 RVO).

Nach diesen Grundsätzen hat das LSG zutreffend die Fliesenleger-Tätigkeit des Klägers als dessen bisherigen Beruf angenommen. Der Kläger hat diese Arbeit wegen der gesundheitlichen Folgen seines Verkehrsunfalls aufgeben müssen, so daß ihm der erreichte Berufsschutz im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung erhalten geblieben ist. Da er nach den Feststellungen des LSG als Fliesenleger nicht mehr erwerbstätig sein kann, ist er berufsunfähig, es sei denn, er kann noch eine zumutbare Verweisungstätigkeit verrichten.

Nach dem Ergebnis seiner Ermittlungen ist das LSG zu der Beurteilung gelangt, daß sich für den Kläger keine geeigneten Verweisungstätigkeiten finden lassen. Dem vermag der erkennende Senat nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht zu folgen. Die dem Berufungsurteil zugrundeliegenden Tatsachenfeststellungen lassen eine derartige Schlußfolgerung noch nicht zu. Allerdings hat die Vorinstanz zutreffend entschieden, daß die Tätigkeit als Fliesenverkäufer, die der Kläger nach Aufgabe des Fliesenlegerberufs kurzfristig ausgeübt hat, als Verweisungsberuf ausscheidet, weil der Kläger sich noch in der Einarbeitung befand, als er sie wegen Überforderung aufgab. Ob Entsprechendes auch für die seit Juli 1989 bestehende Beschäftigung als Arbeiter in der Herstellung von Kunststoffenstern zutrifft, läßt sich ohne ergänzende Sachverhaltsaufklärung nicht verläßlich beurteilen. Immerhin kann der Kläger diese Tätigkeit offenbar ohne gesundheitliche oder fachliche Probleme verrichten. Daß es sich dabei – wie das LSG annimmt – um eine sozial unzumutbare Tätigkeit handelt, kann nicht ohne weiteres bestätigt werden.

Die soziale Zumutbarkeit einer Verweisungstätigkeit beurteilt sich nach der Wertigkeit des bisherigen Berufs. Zur Erleichterung dieser Prüfung hat die Rechtsprechung des BSG die Berufe der Versicherten in Gruppen eingeteilt. Diese Berufsgruppen sind ausgehend von der Bedeutung gebildet worden, die Dauer und Umfang der Ausbildung für die Qualität eines Berufes haben. Dementsprechend werden die Gruppen durch die Leitberufe des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion/besonders hochqualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters (anerkannter Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungszeit von mehr als zwei Jahren), des angelernten Arbeiters (sonstiger Ausbildungsberuf mit einer Regelausbildungszeit von bis zu zwei Jahren) und des ungelernten Arbeiters charakterisiert (vgl zB BSG SozR 2200 § 1246 Nr 138, 140). Die Einordnung eines bestimmten Berufs in dieses Mehrstufenschema erfolgt aber nicht ausschließlich nach der Dauer der absolvierten förmlichen Berufsausbildung. Ausschlaggebend hierfür sind allein die Qualifikationsanforderungen der verrichteten Arbeit, dh der aus einer Mehrzahl von Faktoren zu ermittelnde Wert der Arbeit für den Betrieb. Es kommt also auf das Gesamtbild an, wie es durch die in § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO am Ende genannten Merkmalen umschrieben wird (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 27).

Gemessen an diesen Kriterien ist die bisherige Tätigkeit des Klägers als Fliesenleger in Übereinstimmung mit dem LSG dem Leitberuf des Facharbeiters zuzuordnen. Es handelt sich dabei um einen anerkannten Ausbildungsberuf, für den eine Ausbildungszeit von 36 Monaten vorgesehen ist (vgl die Verordnung über die Berufsausbildung in der Bauwirtschaft vom 8. Mai 1974, BGBl I S 1073, mit späteren Änderungen, vor 1989 zuletzt geändert durch die 5. Änderungsverordnung vom 17. Dezember 1984, BGBl I S 1599). Zwar hat der Kläger eine derartige Ausbildung nicht durchlaufen und auch keinen entsprechenden Prüfungsabschluß vorzuweisen, er ist einem gelernten Fliesenleger jedoch gleichzuerachten, da er diesen Beruf nach den berufungsgerichtlichen Feststellungen wettbewerbsfähig ausgeübt hat, dh in vollem Umfang über die dafür erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügte und auch entsprechend entlohnt worden ist (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 168, 169).

Angesichts eines Berufsschutzes als Facharbeiter sind dem Kläger nach der Rechtsprechung des BSG grundsätzlich alle Verweisungstätigkeiten sozial zuzumuten, die zumindest dem Leitberuf des angelernten Arbeiters entsprechen. Denn er muß insofern innerhalb des Mehrstufenschemas einen sozialen Abstieg um eine Stufe hinnehmen (vgl BSGE 55, 45, 46 f = SozR 2200 § 1246 Nr 107). Zur Gruppe der Angelernten gehören die Versicherten, deren Beruf eine staatlich anerkannte Ausbildung von bis zu zwei Jahren oder eine echte betriebliche Ausbildung von wenigstens drei Monaten erfordert. Eine betriebliche Ausbildung idS geht über eine bloße Einweisung und Einarbeitung hinaus (vgl zB BSG SozR 2200 § 1246 Nr 147 mwN). Nach der Rechtsprechung des BSG ist die Vermittlung von in anderen Betrieben verwendbaren berufsspezifischen Fachkenntnissen erforderlich,

die ihrem Inhalt nach einer Berufsausbildung iS des Berufsbildungsgesetzes entsprechen (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 73). Es erscheint dem erkennenden Senat jedoch nicht ausgeschlossen, daß auch eine allein betriebsbezogene qualifizierte Ausbildung als Anlernzeit angesehen werden kann. Der Unterschied zwischen Einweisung oder Einarbeitung einerseits und Anlernung andererseits (vgl dazu allg LAG Frankfurt am Main, BlStSozArbR 1961, 30 f) liegt weniger in der Art der vermittelten Kenntnisse und Fertigkeiten, als vielmehr in dem Lernaufwand, der für ihren Erwerb erforderlich ist.

Eine Einweisung/Einarbeitung beinhaltet lediglich das Vertrautmachen mit den betrieblichen Gegebenheiten in einem Aufgabenbereich, den der Arbeitnehmer (wegen seiner vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten und/oder wegen der geringen fachlichen Anforderungen des Arbeitsplatzes) im wesentlichen beherrscht. Insoweit kann es sich auch nur um sehr kurze Zeiträume handeln. Allenfalls bei besonders gelagerten und zu begründenden Einzelfällen könnte eine Zeitraum von drei Monaten oder mehr in Betracht kommen. Anlernung liegt demgegenüber vor, wenn dem Arbeitnehmer Kenntnisse und Fertigkeiten für bestimmte Arbeitsvorgänge vermittelt werden, die er nicht ohne intensiveres Üben und Probieren beherrschen kann. Insofern ist ein echtes Anlernen regelmäßig mit einem gleichzeitigen vollen Einsatz in der laufenden Produktion unvereinbar (vgl BAG AP Nr 51 zu § 1 TVG – Tarifverträge: Metallindustrie). Die Unterweisung am Arbeitsplatz wird teilweise auch ergänzt durch Lehrgänge oder besondere Lernprogramme.

Da der Kläger von Beruf Fliesenleger war und von einem Fliesenleger nicht erwartet werden kann, daß er Kenntnisse im Kunststoffensterbau hat, liegt die Folgerung nahe, daß er einer Anlernung bedurfte, es sei denn, ihm wurden dabei so einfache Verrichtungen abverlangt, daß er sie nach einer bloßen Einweisung oder kurzen Einarbeitung ordnungsgemäß und selbständig (ohne häufige Rückfragen) erledigen konnte (vgl dazu allg BAG, Beschluß vom 16. Juni 1987 ≪4 ABR 3/87≫). Eindeutige Feststellungen des LSG liegen hierzu nicht vor und sind noch nachzuholen. Entgegen der Auffassung des LSG sind dabei einzelne Anlernphasen für verschiedene Verrichtungen zusammenzurechnen, wenn der Versicherte diese zur vollwertigen Ausführung der ihm übertragenen Arbeit beherrschen muß. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn er neben seiner „Haupttätigkeit” weitere Arbeitsgänge nur zeitweise (zB vertretungsweise) verrichten muß, solange diese zu dem Gesamtbild der ihm obliegenden Aufgaben gehören. Die bloße Addition kürzerer Einweisungs- und Einarbeitungszeiten von insgesamt ca drei Monaten reicht allerdings nicht aus, um eine ungelernte Tätigkeit zu einer angelernten zu machen. Denn eine echte Anlernzeit erfordert nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich mehr als eine bloße Einweisung oder Einarbeitung.

Neben diesen „echten” Anlerntätigkeiten sind der Gruppe der Angelernten auch die diesen tarifvertraglich gleichgestellten Tätigkeiten zuzuordnen (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 17).

Die Rechtsprechung des BSG mißt der Einstufung eines Berufes durch die Tarifvertragsparteien eine besondere Bedeutung zu (vgl zB BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 13, 14). Da die Tarifvertragsparteien als unmittelbar am Arbeitsleben Beteiligte insoweit über hervorragende Sachkunde verfügen, spiegelt ihre darin zum Ausdruck kommende Bewertung einer Tätigkeit regelmäßig das qualitative Gesamtbild des betreffenden Berufes wider. Dies gilt, wie der erkennende Senat bereits entschieden hat, nicht nur dann, wenn eine bestimmte Berufstätigkeit ausdrücklich in der Lohngruppe eines Tarifvertrags erwähnt wird, sondern auch für die Abgrenzung durch allgemeine Eingruppierungsmerkmale, wenn der Tarifvertrag – wie dies hier der Fall ist – eine Eingruppierung nicht nach Berufen, sondern nach Tätigkeitsmerkmalen vorsieht (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 21).

Bei Anwendung des LTV wäre nach den Feststellungen des LSG für die Tätigkeit des Klägers die Lohngruppe VI einschlägig. Hinsichtlich dieser Feststellungen kann davon ausgegangen werden, daß dabei die für den gesamten Zeitraum von Beginn der Tätigkeit (Juli 1989) bis zur letzten mündlichen Berufungsverhandlung (April 1993) gültigen Fassungen des LTV zugrunde gelegt worden sind. Denn das LSG hat insofern ua auch eine Auskunft des Fachverbandes Metall vom 20. Juli 1992 zur Auslegung des LTV berücksichtigt. Danach erfaßt die Lohngruppe VI „Angelernte unter zweijähriger berufseinschlägiger Tätigkeit, die befähigt sind, nach Anweisung einfache Anlernarbeiten zu verrichten”. In Abgrenzung dazu unterfallen der Lohngruppe V „Angelernte, nach zweijähriger berufseinschlägiger Tätigkeit, die befähigt sind, die angelernten Arbeiten ohne besondere Anweisung auszuführen”. In die Lohngruppen VII bis IX sind dagegen Helfer eingeordnet (Lohngruppe VII: „Helfer nach zweijähriger Tätigkeit”).

Aufgrund dieser Feststellungen ist nicht ohne weitere Ermittlungen zu entscheiden, ob es sich bei der Lohngruppe VI um eine Anlerngruppe handelt, auf die der Kläger zumutbar verwiesen werden kann, oder ob sie noch dem Bereich der ungelernten Tätigkeiten zugeordnet werden muß.

Für die Einordnung als Anlerngruppe spricht allerdings die Grobstruktur des Tarifvertrages, der unterhalb der Lohngruppe VI noch drei Gruppen für ungelernte Arbeitnehmer enthält. Gleichwohl wäre zu klären gewesen, ob der in Lohngruppen V und VI verwendete Begriff der „Angelernten” mit der gleichlautenden Gruppenbezeichnung im Mehrstufenschema des BSG übereinstimmt (vgl dazu BSG SozR 2200 § 1246 Nr 55). Insoweit kommt es entscheidend darauf an, ob es sich bei der für die Lohngruppe VI zugrunde gelegten Anlernzeit um eine bloße Einarbeitung (Einweisung) oder um eine betriebliche Ausbildung handelt. Sollte letzteres der Fall sein, wäre es unschädlich, daß nach der allgemein gehaltenen Auskunft des Fachverbandes Metall für die Lohngruppen V und VI eine Anlernzeit von zwei bis vier Monaten vorausgesetzt wird, demnach also auch Arbeitnehmer in diese Gruppen fallen, die für ihre Tätigkeit lediglich eine Anlernzeit von zwei bis unter drei Monaten benötigen. Der Grundgedanke der Rechtsprechung, daß die dem Arbeitsleben näherstehenden Tarifpartner die Wertigkeit einer Tätigkeit besser beurteilen können als Außenstehende, und diese in der Regel in den Lohngruppen des Tarifvertrages zum Ausdruck bringen, wirkt sich, auch soweit der Tarifvertrag nur allgemeine Merkmale enthält, dahin aus, daß die Einordnung nicht nur allein nach der Ausbildungsdauer erfolgen kann, sondern nach dem Gesamtbild aller Anforderungen, das von den Tarifvertragsparteien durch die Lohngruppeneinteilung bewertet wird.

Eine Bewertung der Lohngruppe VI als Anlerngruppe käme jedoch nicht in Betracht, wenn es sich nur um eine Berufsanfängergruppe im Bereich der Anlernberufe handelt (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 32). Als solche wäre sie keine echte Anlerngruppe und damit einem Facharbeiter nicht zumutbar. Für die Annahme einer Berufsanfängergruppe spricht hier, daß nach zweijähriger Tätigkeit im Beruf eine Höherstufung nach Lohngruppe V in Betracht kommt. Zwar ist dazu außerdem erforderlich, daß Arbeiten selbständig ausgeführt werden, während Arbeiter, die nach Anweisung unselbständig arbeiten, in Lohngruppe VI verbleiben. Insoweit ist aber klärungsbedürftig, wie die Tarifvertragsparteien diese Bestimmungen verstehen und ob in der Praxis diese Bestimmungen dahingehend gehandhabt werden, daß ein Angelernter, der seinen Beruf beherrscht, regelmäßig nach zwei Jahren in die Lohngruppe V eingruppiert wird.

Sofern die von der Lohngruppe VI des LTV erfaßten Tätigkeiten nicht dem Leitberuf des Angelernten iS des rentenrechtlichen Mehrstufenschemas zugeordnet werden können, erscheint im vorliegenden Fall noch klärungsbedürftig, ob der Kläger nicht zwei Jahre nach Beginn seiner Tätigkeit die Voraussetzungen der Lohngruppe V erfüllte und damit jedenfalls von diesem Zeitpunkt an als Angelernter anzusehen ist. Da die Lohngruppe V direkt unterhalb der niedrigsten Facharbeiterlohngruppe angesiedelt ist, bestehen insoweit kaum Bedenken, sie als echte Anlerngruppe zu bewerten. Da diese Lohngruppe nur allgemeine Tätigkeitsmerkmale aufweist, ist die tarifliche Eingruppierung des Klägers durch den Arbeitgeber kein verläßliches Indiz für die Wertigkeit der ausgeübten Berufstätigkeit; sie ist daher voll zu überprüfen und nur im Zweifel entscheidend (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 21). Immerhin mag die Entlohnung des Klägers nach Lohngruppe IV den Schluß nahelegen, daß dieser nach zwei Jahren eine Tätigkeit der Lohngruppe V ausgeübt hat. Diese Folgerung könnte auch dadurch gestützt werden, daß die Eingruppierung in die Lohngruppe IV im Hinblick auf die Handwerkerqualifikation des Klägers erfolgte.

Sollte sich ergeben, daß die für den Kläger im streitbefangenen Zeitraum maßgebenden Lohngruppen zwar als Anlerngruppen anzusehen sind, andererseits aber die von ihm verrichtete Tätigkeit – auch für einen Ungelernten – keine Anlernung von mindestens drei Monaten erforderte, stellt sich auch noch die von einigen Gerichten aufgeworfene Frage, ob ein gelernter Facharbeiter auf Anlerntätigkeiten verwiesen werden kann, die nicht einmal eine betriebliche Ausbildung von drei Monaten voraussetzen und nur auf dem Wege über die tarifvertragliche Einordnung den Charakter von Anlerntätigkeiten erhalten haben (vgl LSG Niedersachsen, Urteil vom 6. Januar 1993 – L 2 J 21/92 –). In Anbetracht der noch unvollständigen Feststellungen zu den insoweit entscheidungserheblichen Voraussetzungen hält es der erkennende Senat jedoch nicht für geboten, dazu bereits beim gegenwärtigen Verfahrensstand Stellung zu nehmen, zumal der 5. Senat des BSG in bisher entschiedenen Fällen – auch bezogen auf „echte” Facharbeiter – keinen Differenzierungsbedarf gesehen hat (vgl BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 17).

Da die somit noch erforderliche ergänzende Sachverhaltsaufklärung im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden kann (vgl § 163 SGG), ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173198

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