Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Krankenhausabrechnung. Erteilung einer plausiblen Schlussrechnung an Krankenkasse. Nachforderung weiterer Vergütung. Verwirkungsfrist. Treu und Glauben. Verschlüsselung der Hauptdiagnose bei zwei oder mehr therapierten Diagnosen
Leitsatz (amtlich)
1. Erteilt ein Krankenhaus einer Krankenkasse vorbehaltlos eine plausible Schlussrechnung für die Behandlung eines Versicherten, ist eine Forderung weiterer Vergütung bis zum Ablauf des folgenden vollen Kalenderjahrs regelmäßig nicht verwirkt (Bestätigung von BSG vom 13.11.2012 - B 1 KR 6/12 R = SozR 4-2500 § 109 Nr 27).
2. Krankenhäuser haben für die Abrechnung vollstationärer Behandlung diejenige Diagnose als Hauptdiagnose zu verschlüsseln, deren Behandlung die meisten Ressourcen verbrauchte, wenn aus der Rückschau am Ende der Krankenhausbehandlung zwei oder mehr therapierte Diagnosen objektiv die Aufnahme des Patienten ins Krankenhaus erforderlich machten.
Orientierungssatz
1. Zur Klarstellung gibt der erkennende Senat die Rechtsprechung des 3. BSG-Senats auch im vorliegenden Zusammenhang auf, dass bei Nachforderungen bis zur Höhe der Aufwandspauschale oder von weniger als 5 vH der Rechnungssumme eine Nachforderung nur innerhalb von sechs Wochen nach erteilter Schlussrechnung möglich sein soll, sofern die KK kein Auffälligkeitsprüfungsverfahren eingeleitet hat (Aufgabe von BSG vom 17.12.2009 - B 3 KR 12/08 R = BSGE 105, 150 = SozR 4-2500 § 109 Nr 20 RdNr 18f; vgl auch BSG vom 19.4.2016 - B 1 KR 33/15 R = SozR 4-2500 § 109 Nr 57 RdNr 19).
2. Ebenso gibt der erkennende Senat die Rechtsprechung des 3. BSG-Senats auf, dass berechtigte Korrekturen von Schlussrechnungen im nachfolgenden Kalenderjahr auch gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn das Krankenhaus damit - vom 3. BSG-Senat nicht näher bestimmte - kalenderjahresbezogene Prozentsätze hinsichtlich der Gesamtzahl und des Gesamtrechnungsvolumens seiner Schlussrechnungen überschreitet (Aufgabe von BSG vom 22.11.2012 - B 3 KR 1/12 R = SozR 4-2500 § 109 Nr 28 RdNr 24).
Normenkette
SGB 4 § 67 Abs. 1; SGB 5 § 39 Abs. 1 S. 2, § 69 Abs. 1 S. 3 Fassung: 2008-12-15, § 109 Abs. 4 S. 3 Fassung: 2002-04-23, § 301; KHG § 17b Abs. 1 Fassung: 2009-03-17, Abs. 2 S. 1 Fassung: 2007-03-26; KHEntgG § 7 Fassung: 2009-03-17, § 9 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 2009-03-17; KFPVbg § 1 Abs. 6 S. 1; KFPVbg 2010 § 1 Abs. 6 S. 1; KFPVbg Anl 1 Teil a Nr. 901D; KFPVbg 2010 Anl 1 Teil a Nr. 901D; DKR Nr. D002d; DKR 2010 Nr. D002d; DKR Nr. D002f; DKR 2010 Nr. D002f; ICD-10-GM Nr. K21.0; ICD-10-GM 2010 Nr. K21.0; ICD-10-GM Nr. S52.30; ICD-10-GM 2010 Nr. S52.30; OPS Nr. 5-786.g; OPS 2010 Nr. 5-786.g; OPS Nr. 5-794.k6; OPS 2010 Nr. 5-794.k6; BGB § 242
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 5. November 2015 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 5138,22 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Vergütung für eine stationäre Krankenhausbehandlung.
Der bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte R. S. (im Folgenden: Versicherter) erlitt am 2.1.2010 eine Radiusfraktur. Das zur Versorgung Versicherter zugelassene Krankenhaus der Klägerin nahm den Versicherten am 3.1.2010 wegen gastrointestinaler Beschwerden stationär auf, behandelte ihn zunächst deswegen, nahm am 6.1.2010 die Osteosynthese der Radiusfraktur vor und entließ ihn am 11.1.2010 aus der stationären Behandlung. Die Klägerin berechnete (Schlussrechnung vom 11.3.2010) hierfür die Fallpauschale (Diagnosis Related Groups - DRG ≪2010≫) G67D (Ösophagitis, Gastroenteritis u versch Erkr d Verd.org ohne kompl od kompliz Diagn/Dial/kompl Eingr, Alt ≫ 2 J, oh äuß schw CC od gastroint Blutung od Ulkuserkr, oh äuß schw od schw CC, Alt ≪ 75 J, außer bei Para- / Tetraplegie). Sie kodierte nach dem 2010 geltenden ICD-10-GM als Hauptdiagnose: K21.0 (Gastroösophageale Refluxkrankheit mit Ösophagitis; als Nebendiagnose ua S52.30 ≪Fraktur des Radiusschaftes, Teil nicht näher bezeichnet, Radius o n A≫) und forderte insgesamt 1474,19 Euro. Die Beklagte beglich die Rechnung am 6.4.2010. Die Klägerin berechnete mit korrigierter Schlussrechnung vom 16.5.2011 die DRG 901D (Ausgedehnte OR-Prozedur ohne Bezug zur Hauptdiagnose ohne komplizierende Konstellation, ohne Strahlentherapie, ohne komplexe OR-Prozedur, ohne andere Eingriffe an Kopf und Wirbelsäule, Alter ≫ 0 Jahre, außer bei Para- / Tetraplegie; insgesamt 6612,41 Euro). Dies beruhte auf einer erlöswirksamen Nachkodierung der zur Behandlung der Radiusfraktur erbrachten Leistungen(nach dem 2010 geltenden Operationen- und Prozedurenschlüssel ≪OPS≫ nachkodiert: OPS 5-794.k6 ≪Offene Reposition einer Mehrfragment-Fraktur im Gelenkbereich eines langen Röhrenknochens mit Osteosynthese, Durch winkelstabile Platte, Radius distal≫; OPS 5-786.g ≪Osteosyntheseverfahren, Durch intramedullären Draht≫). Die Klägerin forderte von der Beklagten vergeblich weitere 5138,22 Euro. Die Beklagte berief sich darauf, die Nachforderung verstoße gegen Treu und Glauben. Die Nachberechnung sei nicht zeitnah, nämlich außerhalb des Haushaltsjahres erfolgt. Ein offensichtlicher Kodierfehler liege nicht vor. Das SG hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 5138,22 Euro nebst Zinsen hierauf in Höhe von zwei Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 25.5.2011 verurteilt (Urteil vom 27.4.2015). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Der Vergütungsanspruch der Klägerin sei in der zuletzt geforderten Höhe entstanden. Die Nachforderung außerhalb des laufenden Haushaltsjahres der Beklagten sei nicht verwirkt. Sie sei nicht illoyal, weil die Kodierung von OPS 5-794.k6 und 5-786.g offensichtlich aus Versehen zunächst unterblieben sei (Urteil vom 5.11.2015).
Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Verletzung des § 242 BGB iVm § 69 SGB V. Das LSG-Urteil verstoße gegen die Rechtsprechung des 1. BSG-Senats, wonach ein weiterer Krankenhausvergütungsanspruch, der nach erteilter Schlussrechnung außerhalb des laufenden Haushaltsjahres der KK geltend gemacht werde, grundsätzlich verwirkt sei. Der Rechtsprechung des 3. BSG-Senats (SozR 4-2500 § 109 Nr 28) sei nicht zu folgen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 5. November 2015 und des Sozialgerichts Koblenz vom 27. April 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 5. November 2015 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der beklagten KK ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 S 2 SGG). Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, weil es auf der Verletzung materiellen Rechts beruht und sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig erweist. Der erkennende Senat kann wegen fehlender Tatsachenfeststellungen des LSG zum Bestehen des Vergütungsanspruchs der Klägerin nicht in der Sache umfassend über den Erfolg der Berufung gegen das SG-Urteil entscheiden.
Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend über den zulässigerweise mit der (echten) Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG; stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 9 mwN; BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 12; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 8, alle mwN) geltend gemachten Anspruch auf Zahlung von 5138,22 Euro nebst Zinsen zu entscheiden (dazu 1.). Soweit der Klägerin aus der Behandlung des Versicherten über die gezahlten, nicht im Streit stehenden 1474,19 Euro hinaus ein weitergehender Vergütungsanspruch entstanden ist, greifen die dagegen erhobenen Einwendungen der Beklagten nicht durch. Der mit der korrigierten Schlussrechnung vom 16.5.2011 geltend gemachte weitere Vergütungsanspruch ist - ungeachtet seiner konkreten Höhe - nicht verwirkt (dazu 2.).
1. Dass die Grundvoraussetzungen eines Anspruchs auf Krankenhausvergütung für die stationäre Behandlung des Versicherten vom 3. bis 11.1.2010 erfüllt sind, ist zwischen den Beteiligten zu Recht nicht streitig (dazu a). Ob die Klägerin deshalb einen Anspruch auf Zahlung von weiteren 5138,22 Euro nebst Zinsen hat, hängt von der rechtmäßigen Kodierung der Hauptdiagnose ab. Hierzu fehlt es an hinreichenden Feststellungen des LSG (dazu b).
a) Die Klägerin erfüllte die Grundvoraussetzungen eines Anspruchs auf Krankenhausvergütung, indem sie den Versicherten vom 3.1. bis 11.1.2010 stationär behandelte. Die Zahlungsverpflichtung einer KK entsteht - unabhängig von einer Kostenzusage - unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung - wie hier - in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und im Sinne von § 39 Abs 1 S 2 SGB V erforderlich ist (stRspr, vgl zB BSGE 102, 172 = SozR 4-2500 § 109 Nr 13, RdNr 11; BSGE 104, 15 = SozR 4-2500 § 109 Nr 17, RdNr 15; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 19 RdNr 11; BSG SozR 4-5565 § 14 Nr 10 RdNr 11; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 13 s RdNr 8, alle mwN). Diese Voraussetzungen waren nach den unangegriffenen, den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG erfüllt.
b) Die von der Klägerin geltend gemachte Krankenhausvergütung bemisst sich nach vertraglichen Fallpauschalen auf gesetzlicher Grundlage (dazu aa). Die von der Klägerin kodierte Hauptdiagnose K21.0 (Gastroösophageale Refluxkrankheit mit Ösophagitis) steuert unter Berücksichtigung der nachträglich kodierten OPS 5-794.k6 und OPS 5-786.g die DRG 901D an. Ob die Klägerin unter Beachtung der maßgeblichen Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) die Diagnose K21.0 als Hauptdiagnose kodieren durfte, kann der erkennende Senat nach den Feststellungen des LSG aber nicht beurteilen (dazu bb).
aa) Die Fallpauschalenvergütung für Krankenhausbehandlung Versicherter in zugelassenen Einrichtungen ergibt sich gesetzlich aus § 109 Abs 4 S 3 SGB V (idF durch Art 1 Nr 3 Gesetz zur Einführung des diagnose-orientierten Fallpauschalensystems für Krankenhäuser ≪Fallpauschalengesetz - FPG≫ vom 23.4.2002, BGBl I 1412) iVm § 7 Krankenhausentgeltgesetz (KHEntgG - idF durch Art 2 Nr 7 Gesetz zum ordnungspolitischen Rahmen der Krankenhausfinanzierung ab dem Jahr 2009 ≪Krankenhausfinanzierungsreformgesetz - KHRG≫ vom 17.3.2009, BGBl I 534, mWv 25.3.2009) und § 17b Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG - idF durch Art 1 Nr 4 KHRG vgl entsprechend BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 14 RdNr 15). Der Anspruch wird auf Bundesebene durch Normsetzungsverträge (Normenverträge) konkretisiert. Im vorliegenden Fall sind die Vereinbarung zum Fallpauschalensystem für Krankenhäuser für das Jahr 2010 (Fallpauschalenvereinbarung 2010 - FPV 2010) einschließlich der Anlagen 1 bis 6 (insbesondere Anlage 1 Teil a) ≪Bewertungsrelationen bei Versorgung durch Hauptabteilungen≫ Fallpauschalen-Katalog 2010) und die von den Vertragspartnern auf Bundesebene getroffene Vereinbarung zu den DKR für das Jahr 2010 (Vereinbarung zu den Deutschen Kodierrichtlinien Version 2010 für das G-DRG-System gemäß § 17b KHG) maßgebend (zu deren normativer Wirkung vgl BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 18).
Welche DRG-Position abzurechnen ist, ergibt sich rechtsverbindlich nicht aus einem schriftlich festgelegten abstrakten Tatbestand, sondern aus der Eingabe von im Einzelnen von einem Programm vorgegebenen, abzufragenden Daten in ein automatisches Datenverarbeitungssystem und dessen Anwendung (zur rechtlichen Einordnung des Groupierungsvorgangs vgl BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 19 ff). Nach § 1 Abs 6 S 1 FPV 2010 sind in diesem Sinne zur Einstufung des Behandlungsfalls in die jeweils abzurechnende Fallpauschale Programme (Grouper) einzusetzen. Zugelassen sind nur solche Programme, die von der InEK GmbH - Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus -, einer gemeinsamen Einrichtung der in § 17b Abs 2 S 1 KHG und § 9 Abs 1 S 1 Nr 1 KHEntgG genannten Vertragspartner auf Bundesebene, zertifiziert worden sind.
Die Anwendung der DKR und der FPV-Abrechnungsbestimmungen einschließlich des ICD-10-GM und des OPS erfolgt eng am Wortlaut orientiert und unterstützt durch systematische Erwägungen; Bewertungen und Bewertungsrelationen bleiben außer Betracht (vgl BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 19 RdNr 17 mwN; BSGE 109, 236 = SozR 4-5560 § 17b Nr 2, RdNr 27; zur Auslegung von medizinischen Begriffen im OPS vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 32 RdNr 12 ff, stRspr).Bestehen bei der Aufnahme ins Krankenhaus zwei oder mehrere Krankheiten oder Beschwerden, die jeweils für sich genommen bereits stationärer Behandlung bedurften, kommt es darauf an, welche von ihnen bei retrospektiver Betrachtung objektiv nach medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnis hauptsächlich die stationäre Behandlung erforderlich machte. Das ist die Diagnose mit dem größten Ressourcenverbrauch. Dies folgt aus Wortlaut und System der DKR. Dabei kommt auch den in den DKR enthaltenen Erläuterungen zu den einzelnen Kodierrichtlinien normative Wirkung zu, soweit sie ergänzende Regelungen enthalten (vgl zum Ganzen BSGE 118, 225 = SozR 4-2500 § 109 Nr 45, RdNr 15 ff, dort zu DKR D002d).
DKR D002f definiert - unverändert gegenüber DKR D002d aF - die Hauptdiagnose wie folgt: "Die Diagnose, die nach Analyse als diejenige festgestellt wurde, die hauptsächlich für die Veranlassung des stationären Krankenhausaufenthaltes des Patienten verantwortlich ist." Für den Fall, dass - so die Zwischenüberschrift in DKR D002f - "Zwei oder mehr Diagnosen (…) gleichermaßen der Definition der Hauptdiagnose entsprechen", findet sich folgende - mit DKR D002d übereinstimmende - Erläuterung: "Wenn zwei oder mehrere Diagnosen in Bezug zu Aufnahme, Untersuchungsbefunden und/oder der durchgeführten Therapie gleichermaßen die Kriterien für die Hauptdiagnose erfüllen und ICD-10-Verzeichnisse und Kodierrichtlinien keine Verschlüsselungsanweisungen geben, muss vom behandelnden Arzt entschieden werden, welche Diagnose am besten der Hauptdiagnose-Definition entspricht. Nur in diesem Fall ist vom behandelnden Arzt diejenige auszuwählen, die für Untersuchung und/oder Behandlung die meisten Ressourcen verbraucht hat. Hierbei ist es unerheblich, ob die Krankheiten verwandt sind oder nicht."
Soweit die Erläuterung hierbei darauf verweist, dass "der behandelnde Arzt" die Hauptdiagnose auszuwählen hat, ist dies nur in einem tatsächlichen Sinn zu verstehen. Die Beurteilung, ob eine Diagnose als Hauptdiagnose zu kodieren ist, bemisst sich nach objektiven Maßstäben. Sie erfordert kein an eine bestimmte Person gebundenes höchstpersönliches Fachurteil, sondern kann jederzeit durch einen unabhängigen Sachverständigen nachvollzogen werden. Sie unterliegt im Streitfall der vollen richterlichen Nachprüfung (vgl zu den Grundsätzen auch BSGE 99, 111 = SozR 4-2500 § 39 Nr 10, RdNr 30 f). Ein anderes Verständnis widerspräche höherrangigem Recht (vgl BSGE 118, 225 = SozR 4-2500 § 109 Nr 45, RdNr 18). Maßgeblich ist dabei allein der Ressourcenverbrauch. Hingegen spielt die zeitliche Abfolge der stationären Behandlung zweier oder mehrerer im Zeitpunkt der Krankenhausaufnahme stationär behandlungsbedürftiger Diagnosen keine Rolle.Das zweite wesentliche Definitionsmerkmal der Hauptdiagnose ist der Begriff "nach Analyse". Er verdeutlicht, dass es weder auf die subjektive oder objektiv erzielbare Einweisungs- oder Aufnahmediagnose ankommt, sondern allein auf die objektive ex-post-Betrachtung der Aufnahmegründe am Ende der Krankenhausbehandlung. Es ist für die Bestimmung der Hauptdiagnose ohne Belang, dass die Diagnose des einweisenden Arztes und des aufnehmenden Krankenhausarztes unter Berücksichtigung der ex ante vorhandenen Informationen objektiv lege artis erfolgte. Maßgeblich ist allein die objektiv zutreffende ex-post-Betrachtung (vgl BSGE 118, 225 = SozR 4-2500 § 109 Nr 45, RdNr 19).
bb) Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen nicht aus, um zu entscheiden, welche Hauptdiagnose die Klägerin kodieren durfte. Nach den unangegriffenen, den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG bestand im Zeitpunkt der Krankenhausaufnahme des Versicherten (3.1.2010) sowohl eine gastroösophageale Refluxkrankheit mit Ösophagitis (K21.0) als auch eine am 2.1.2010 durch einen Sturz erlittene (gedeckte) Fraktur des Radiusschaftes (S52.30). Der Versicherte wurde zunächst in die Innere Abteilung des Krankenhauses zur Behandlung der Refluxkrankheit aufgenommen und sodann in dessen Chirurgische Abteilung zur Durchführung der Osteosynthese verlegt. Das LSG hat keine Feststellung dahin getroffen, dass der chirurgische Eingriff nur bei Gelegenheit der stationären Aufnahme des Versicherten zur Behandlung der Refluxkrankheit erfolgt sei, aber seinerseits keinen stationären Krankenhausaufenthalt bedingt hätte. In einem solchen Falle, auf den sich die Klägerin im Revisionsverfahren berufen hat, könnte sie mangels Erforderlichkeit keine zusätzliche Vergütung beanspruchen. Dies liegt hier indes unter Berücksichtigung der Gesamtsituation des Versicherten eher fern. Ein derartiger chirurgischer Eingriff (OPS 5-794.k6 ≪Offene Reposition einer Mehrfragment-Fraktur im Gelenkbereich eines langen Röhrenknochens mit Osteosynthese, Durch winkelstabile Platte, Radius distal≫; OPS 5-786.g ≪Osteosyntheseverfahren, Durch intramedullären Draht≫) mit der Hauptdiagnose S52.30 wies zudem im Jahr 2010 eine untere Grenzverweildauer von zwei und eine obere Grenzverweildauer von 9 Tagen auf (ermittelt mit dem Webgrouper UKM ≪Universitätsklinikum Münster≫ DRG Research Group). Ist S52.30 als Hauptdiagnose zu kodieren, steuert diese zusammen mit den OPS 5-794.k6 und 5-786.g die DRG I21Z (Lokale Exzision und Entfernung von Osteosynthesematerial an Hüftgelenk und Femur oder komplexe Eingriffe an Ellenbogengelenk und Unterarm) an, die etwa doppelt so hoch vergütet wird wie die von der Klägerin zunächst in Rechnung gestellte DRG G67D, aber nur etwa die Hälfte der Vergütung erlöst, die die Klägerin mit der DRG 901D nachträglich abgerechnet hat.
Das LSG wird nunmehr zu ermitteln haben, dass die Osteosynthese stationärer Krankenhausbehandlung bedurfte und welche der beiden Diagnosen - K21.0 oder S52.30 - den größeren Ressourcenverbrauch aufwies.
2. Die Klägerin war nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht daran gehindert, ihren - der Höhe nach noch zu klärenden - Restzahlungsanspruch gegenüber der Beklagten noch im Mai 2011 geltend zu machen. Die Beklagte beruft sich ohne Erfolg auf den Einwand der Verwirkung. Die Voraussetzungen dafür, den Eintritt einer Verwirkung zu bejahen (dazu a), liegen nicht vor (dazu b).
a) Die Zulässigkeit von Nachforderungen eines Krankenhauses wegen Behandlung eines Versicherten richtet sich mangels ausdrücklicher Regelung gemäß dem über § 69 Abs 1 S 3 SGB V (idF durch Art 1 Nr 1e Buchst a Gesetz zur Weiterentwicklung der Organisationsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung ≪GKV-OrgWG≫ vom 15.12.2008, BGBl I 2426) auf die Rechtsbeziehungen zwischen Krankenhaus und KKn einwirkenden Rechtsgedanken des § 242 BGB nach Treu und Glauben in Gestalt der Verwirkung. Die Verwirkung setzt als Unterfall der unzulässigen Rechtsausübung voraus, dass der Berechtigte die Ausübung seines Rechts während eines längeren Zeitraums unterlassen hat und weitere besondere Umstände hinzutreten, die nach den Besonderheiten des Einzelfalls und des in Betracht kommenden Rechtsgebietes das verspätete Geltendmachen des Rechts dem Verpflichteten gegenüber nach Treu und Glauben als illoyal erscheinen lassen. Solche, die Verwirkung auslösenden "besonderen Umstände" liegen vor, wenn der Verpflichtete infolge eines bestimmten Verhaltens des Berechtigten (Verwirkungsverhalten) darauf vertrauen durfte, dass dieser das Recht nicht mehr geltend machen werde (Vertrauensgrundlage), und der Verpflichtete tatsächlich darauf vertraut hat, dass das Recht nicht mehr ausgeübt wird (Vertrauenstatbestand), und sich infolgedessen in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet hat (Vertrauensverhalten), dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (stRspr; vgl zB BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37; BSGE 109, 22 = SozR 4-2400 § 7 Nr 14, RdNr 36; BSG SozR 4-2400 § 24 Nr 5 RdNr 31; BSG SozR 4-2600 § 243 Nr 4 RdNr 36; BSG SozR 4-4200 § 37 Nr 1 RdNr 17; BSG SozR 3-2400 § 4 Nr 5 S 13; BSG Urteil vom 30.7.1997 - 5 RJ 64/95 - Juris RdNr 27; BSGE 80, 41, 43 = SozR 3-2200 § 1303 Nr 6 S 17 f; BSG Urteil vom 1.4.1993 - 1 RK 16/92 - FEVS 44, 478, 483 = Juris RdNr 23; BSG SozR 2200 § 520 Nr 3 S 7; BSG Urteil vom 29.7.1982 - 10 RAr 11/81 - Juris RdNr 15; BSGE 47, 194, 196 = SozR 2200 § 1399 Nr 11 S 15; BSG Urteil vom 25.1.1972 - 9 RV 238/71 - Juris RdNr 17; vgl auch Hauck, Vertrauensschutz in der Rechtsprechung der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, in Brand/Lembke ≪Hrsg≫, Der CGZP-Beschluss des Bundesarbeitsgerichts, 2012, S 147, 167 f).
Das Rechtsinstitut der Verwirkung passt als ergänzende Regelung innerhalb der kurzen - hier im Zeitpunkt der Klageerhebung (19.5.2014) noch nicht abgelaufenen - vierjährigen Verjährungsfrist grundsätzlich nicht. Das Rechtsinstitut der Verwirkung findet nämlich nur in besonderen, engen Ausnahmekonstellationen Anwendung (vgl BSG SozR 4-2500 § 264 Nr 4 RdNr 15; BSGE 112, 141 = SozR 4-2500 § 275 Nr 8, RdNr 37 mwN). Als ein Verwirkungsverhalten wertet der erkennende Senat regelmäßig die vorbehaltlose Erteilung einer nicht offensichtlich unschlüssigen Schlussrechnung eines Krankenhauses. Eine Vertrauensgrundlage entsteht in der Regel im Anschluss hieran, wenn das Krankenhaus eine Nachforderung weder im gerade laufenden noch nachfolgenden vollen Haushaltsjahr der KK geltend macht. Der Vertrauenstatbestand erwächst daraus, dass die KK regelhaft darauf vertraut, dass das Krankenhaus insoweit keine weiteren Nachforderungen erhebt. Hieran richtet sie ihr Verhalten aus, indem sie davon Abstand nimmt, die Abrechnung als zweifelhaft zu behandeln und - im Kontext sonstiger streitiger Forderungen - dafür haushaltsrechtlich relevante Vorkehrungen zu treffen (vgl zum Ganzen BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 46 RdNr 10; BSG SozR 4-2500 § 69 Nr 10 RdNr 23; BSGE 117, 82 = SozR 4-2500 § 109 Nr 40, RdNr 35; BSG Urteil vom 1.7.2014 - B 1 KR 47/12 R - Juris RdNr 9 = USK 2014-35; BSG Urteil vom 1.7.2014 - B 1 KR 2/13 R - Juris RdNr 18 = USK 2014-33; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27 RdNr 13 ff; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 19 RdNr 16 ff). Ist die Schlussrechnung des Krankenhauses dagegen - in seltenen Ausnahmefällen - offensichtlich unschlüssig, kann eine Rechnungskorrektur auch nach Ablauf eines ganzen folgenden Haushaltsjahres noch nicht verwirkt sein. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein offensichtlicher, ins Auge springender Korrekturbedarf zu Gunsten des Krankenhauses besteht (vgl BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27 RdNr 19).
Der erkennende Senat berücksichtigt bei dieser Konkretisierung der allgemeinen Grundsätze der Verwirkung, dass die Beteiligten aufgrund eines dauerhaften Vertragsrahmens ständig professionell zusammenarbeiten. Ihnen sind die gegenseitigen Interessenstrukturen geläufig. In diesem Rahmen ist von ihnen eine gegenseitige Rücksichtnahme zu erwarten. Weil die KKn auf tragfähige Berechnungsgrundlagen angewiesen sind, müssen sie sich grundsätzlich auf die "Schlussrechnung" eines Krankenhauses schon in ihrem laufenden Haushaltsjahr ("KKn-Haushaltsjahr"; vom Senat auch als Synonyme verwendet: Rechnungsjahr, Geschäftsjahr) verlassen können, in dem die Rechnung gestellt wird. Dies versetzt sie in die Lage, die dem geltenden Haushaltsplan (vgl §§ 67 ff SGB IV) zugrunde liegenden Ausgaben- und Einnahmenerwartungen mit den tatsächlichen Ausgaben und Einnahmen verlässlich abzugleichen und etwaige auf das folgende Haushaltsjahr zu übertragende Über- oder Unterdeckungen zu erkennen. Das Haushaltsjahr der KKn ist kraft gesetzlicher Anordnung das Kalenderjahr (vgl § 67 Abs 1 SGB IV). Die Krankenhäuser verfügen für die Erteilung einer ordnungsgemäßen, verlässlichen Abrechnung - anders als die KKn - umfassend über alle Informationen, die die stationäre Behandlung der Versicherten betreffen. Die erforderlichen Informationen betreffen die rechtlichen Vorgaben für die Abrechnung und die tatsächlich erbrachten Leistungen, die abzurechnen sind. Deswegen dürfen die KKn grundsätzlich davon ausgehen, dass einmal gestellte, nicht beanstandete Schlussrechnungen nicht von den Krankenhäusern zu einem Zeitpunkt nachträglich korrigiert und Nachforderungen erhoben werden, der ihre Kalkulationsgrundlagen beeinträchtigt.
Zudem bezieht der erkennende Senat das anzuerkennende Interesse der Krankenhäuser ein, hinsichtlich aller in einem laufenden Haushaltsjahr übermittelten Schlussrechnungen noch effektiv Nachprüfungen in einem angemessenen zeitlichen Rahmen vornehmen zu können. Würde man ausschließlich auf das laufende Haushaltsjahr abstellen, hätte dies zur Folge, dass die Krankenhäuser je später im Jahr Schlussrechnungen erfolgen desto weniger Zeit zur Korrektur hätten. Der vom erkennenden Senat regelmäßig zugrunde gelegte Zeitraum des gerade laufenden und noch des nachfolgenden vollen Haushaltsjahres der KK trägt im Sinne einer praktischen Konkordanz den gegenläufigen schutzwürdigen Interessen der Beteiligten Rechnung (vgl BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 27 RdNr 13 f; BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 19 RdNr 16 f).
Zur Klarstellung gibt der erkennende Senat die Rechtsprechung des 3. BSG-Senats auch im vorliegenden Zusammenhang auf, dass bei Nachforderungen bis zur Höhe der Aufwandspauschale oder von weniger als 5 vH der Rechnungssumme eine Nachforderung nur innerhalb von sechs Wochen nach erteilter Schlussrechnung möglich sein soll, sofern die KK kein Auffälligkeitsprüfungsverfahren eingeleitet hat (BSGE 105, 150 = SozR 4-2500 § 109 Nr 20, RdNr 18 f; vgl insgesamt zur Aufgabe der Bagatell-Rechtsprechung des 3. BSG-Senats bereits Urteil des erkennenden Senats vom 19.4.2016 - B 1 KR 33/15 R - RdNr 19, für BSGE und SozR vorgesehen). Ebenso gibt der erkennende Senat die Rechtsprechung des 3. BSG-Senats auf, dass berechtigte Korrekturen von Schlussrechnungen im nachfolgenden Kalenderjahr auch dann gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn das Krankenhaus damit - vom 3. BSG-Senat nicht näher bestimmte - kalenderjahresbezogene Prozentsätze hinsichtlich der Gesamtzahl und des Gesamtrechnungsvolumens seiner Schlussrechnungen überschreitet (BSG SozR 4-2500 § 109 Nr 28 RdNr 24).
b) Die Voraussetzungen dafür, dass der ggf entstandene höhere Vergütungsanspruch (DRG I21Z oder DRG 901D) verwirkt ist, sind nicht erfüllt. Die Klägerin durfte nach den aufgezeigten Grundsätzen mit einer Schlussrechnung vom 16.5.2011 die Schlussrechnung vom 11.3.2010 korrigieren und zu Recht entstandene, bislang noch nicht geltend gemachte Vergütungsbestandteile nachfordern. Sie korrigierte noch vor Ablauf des dem KKn-Haushaltsjahr (Kalenderjahr) der Rechnungsstellung nachfolgenden Kalenderjahres 2011 ihre Schlussrechnung.
3. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und 3 sowie § 47 Abs 1 GKG.
Fundstellen
Haufe-Index 9656567 |
ArztR 2016, 284 |
NZS 2016, 903 |
SGb 2016, 514 |
Breith. 2017, 467 |