Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 01.11.1995; Aktenzeichen L 7 Ka 268/94)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 1. November 1995 wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat der Beklagten deren Aufwendungen für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Kläger hat sich im Klage- und Berufungsverfahren gegen eine Entscheidung des Disziplinarausschusses der Beklagten gewandt, ihn wegen Verletzung seiner kassenärztlichen Pflichten mit einer Geldbuße von 5.000,– DM zu maßregeln und ihm eine Verwaltungsgebühr von 1.000,– DM aufzuerlegen. Anlaß für diese Entscheidung war die Weigerung des Klägers, der Beklagten die Dokumentation seiner Behandlungsweise in bestimmten ausgewählten Behandlungsfällen aus dem Quartal I/89 zu übersenden. Die bei der Beklagten gebildete „Transparenzkommission” hatte Zweifel an der Plausibilität der Honorarabrechnung des Klägers insbesondere hinsichtlich der Häufigkeit der Ansatzes der Nr 10 Bewertungsmaßstab für kassenärztliche Leistungen/Ersatzkassen-Gebührenordnung (BMÄ/E-GO) und hatte deshalb die Bezirksstelle Frankfurt/Main der Beklagten gebeten, vom Kläger eine Dokumentation seiner Behandlungsweise in ausgewählten, namentlich genannten Fällen anzufordern. Auf die entsprechenden Schreiben der Beklagten vom 15. Oktober 1990, 4. Dezember 1990, 15. April 1991 und 16. Mai 1991 reagierte der Kläger nicht. Nachdem der Vorstand der Beklagten am 21. Oktober 1992 die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen ihn beschlossen hatte, machte er von seinem Äußerungsrecht im Disziplinarverfahren keinen Gebrauch, forderte die im Wege der Zustellung niedergelegte Antragsschrift des Vorstands der Beklagten nicht ab, nahm an der Sitzung des Disziplinarausschusses nicht teil und holte auch die im Wege der Zustellung niedergelegte Ausfertigung der Entscheidung vom 9. Dezember 1992 nicht ab. Unter dem 12. März 1993 kam er „unter Protest” dem Beschluß der Transparenzkommission nach und übersandte die erbetene Dokumentation.

Die am 13. März 1993 gegen die Entscheidung des Disziplinarausschusses zum Sozialgericht (SG) erhobene Klage hat der Kläger trotz mehrfacher Anfragen und Erinnerungen sowie nach Anberaumung eines Erörterungstermins seitens der Kammervorsitzenden erst mit Schriftsatz vom Tag der mündlichen Verhandlung vor dem SG (30. März 1994) begründet. Er hat vorgetragen, er habe durch sein Verhalten auf die „Art und Weise, wie durch die verschiedenen Ausschüsse die Ärzte gegängelt und diszipliniert werden”, hinweisen wollen. Im übrigen hat er gerügt, die Satzung der Beklagten enthalte keinerlei Rechtsgrundlagen, die im einzelnen festlegten, welche kassenärztliche Pflichtverletzung mit welcher Sanktion geahndet werden könne, weshalb die Satzung ebenso wie ihre Ermächtigungsgrundlage in § 81 Abs 5 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) verfassungswidrig sei. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. März 1994) und das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 1. November 1995). Gegen die Nichtzulassung der Revision richtet sich die Beschwerde des Klägers, mit der er geltend macht, die Rechtsfrage der Vereinbarkeit von § 81 Abs 5 Satz 2 SGB V mit Art 103 Abs 2 Grundgesetz (GG) habe grundsätzliche Bedeutung, zumal das Bundessozialgericht (BSG) sich dazu noch nicht geäußert habe.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Der Frage der Vereinbarkeit von § 81 Abs 5 Satz 2 SGB V mit dem GG kommt die als Zulassungsgrund allein geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) nicht zu. Sie ist auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) und des erkennenden Senats zu bejahen, ohne daß es dazu der Durchführung eines Revisionsverfahren bedürfte.

Das BVerfG hat – worauf der Kläger in seiner Beschwerde nicht eingeht – in einer inzwischen 25jährigen Rechtsprechungstradition disziplinarrechtliche Maßnahmen am Verfassungsgebot des Art 103 Abs 2 GG gemessen, zugleich aber auf die notwendigen Einschränkungen hingewiesen, die insoweit für ehrengerichtliche und disziplinarrechtliche Sanktionen im Hinblick auf die Natur der jeweiligen Rechtsgebiete zu beachten sind. Es hat stets daran festgehalten, Art 103 Abs 2 GG habe keine Änderung der herkömmlichen Struktur des Disziplinarrechts herbeiführen wollen. In der Leitentscheidung vom 11. Juni 1969 heißt es ausdrücklich: „In den Disziplinargesetzen finden sich seit jeher nicht wie im allgemeinen Strafrecht einzelne Straftatbestände mit entsprechenden Strafdrohungen, sondern Generalklauseln, wonach die schuldhafte Verletzung von Berufspflichten mit einer der gesetzlich vorgesehenen Disziplinarstrafen geahndet wird. Die Generalklauseln sind deshalb gerechtfertigt, weil eine vollständige Aufzählung der mit einem Beruf verbundenen Pflichten nicht möglich ist. Eine Einzelnormierung ist hier – anders als im allgemeinen Strafrecht – in der Regel auch nicht nötig; denn es handelt sich um Normen, die nur den Kreis der Berufsangehörigen betreffen, sich aus der ihnen gestellten Aufgabe ergeben und daher für sie im allgemeinen leicht erkennbar sind” (BVerfGE 26, 186, 204). An dieser Rechtsprechung hat das BVerfG in der folgenden Zeit festgehalten und sie in der zum ärztlichen Berufsrecht ergangenen Entscheidung vom 9. Mai 1972 (BVerfGE 33, 125) auf die ärztlichen Berufsordnungen entsprechend angewandt: „Es entspricht der Natur allen Standesrechts, daß die Berufspflichten der Standesangehörigen nicht in einzelnen Tatbeständen erschöpfend umschrieben werden können, sondern in einer Generalklausel zusammengefaßt sind, welche die Berufsangehörigen zu gewissenhafter Berufsausübung und zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten innerhalb und außerhalb des Berufs anhält, die nähere Bestimmung der sich daraus ergebenden einzelnen Pflichten aber der Aufsichtspraxis der Standesorgane und der Rechtsprechung der Berufsgerichte überläßt” (BVerfGE 33, 164). Die Auffassung des Klägers, diese Rechtsprechung entspreche nicht mehr der herrschenden Rechtsauffassung im wissenschaftlichen Schrifttum, trifft nicht zu. Zwischen der Rechtsprechung des BVerfG und einzelnen Stimmen in der Wissenschaft besteht keine Kontroverse hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der disziplinarrechtlichen Vorschriften. Umstritten ist allein die rechtsdogmatische Frage, ob Art 103 Abs 2 GG – wie das BVerfG annimmt – auch das Disziplinarrecht erfaßt, oder ob der nulla-poena-sine-lege Grundsatz nur für das eigentliche Kriminalstrafrecht gilt (in diesem Sinne Rüping, Bonner Komm, Zweitbearbeitung, Art 103 Abs 2 RdNr 78 und inzwischen auch Maunz/Dürig/Schmidt-Aßmann, Komm zum GG, Stand Dezember 1992, Art 103, Abs 2 RdNr 196). Bei Rüping (aaO), auf den sich der Kläger zur Stützung seiner Rechtsauffassung allein bezieht, wird ausdrücklich formuliert, daß zwischen seiner Auffassung und derjenigen des BVerfG „der Sache nach kein Unterschied” besteht, und zur Vereinbarkeit der Vorschrift des § 81 Abs 5 S 2 SGB V mit dem Grundgesetz wird entgegen der Darstellung des Klägers nicht Stellung genommen.

Die Erwägungen, mit denen das BVerfG die Vereinbarkeit des Disziplinarrechts in verschiedenen Berufsbereichen mit dem GG begründet hat, gelten im Kassen- bzw Vertragsarztrecht in gleicher Weise. In diesem Rechtsbereich besteht gegenüber dem Berufs- und Standesrecht der freien Berufe die Besonderheit, daß die Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) als Inhaberin der Disziplinargewalt gegenüber ihren Mitgliedern ihrerseits den Krankenkassen gegenüber die Gewähr dafür zu übernehmen haben, daß die vertragsärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht (§ 75 Abs 1 Satz 1 SGB V). Diese Gewährleistungsverpflichtung kann eine KÄV nur erfüllen, wenn ihr Sanktionsmöglichkeiten gegenüber denjenigen Mitgliedern zur Verfügung stehen, die ihre Pflichten als Kassen- bzw Vertragsärzte nicht ordnungsgemäß erfüllen. Welche Verpflichtungen den Kassen- bzw Vertragsarzt treffen und welche Sanktion für welches pflichtwidrige Verhalten konkret angemessen ist, wäre in einem Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich, denn es unterliegt keinem Zweifel, daß ein Kassenarzt seine kassen- bzw vertragsärztlichen Pflichten in erheblichem Umfang verletzt, wenn er sachlich begründete und in gehöriger Form formulierte Bitten und Aufforderungen seiner KÄV, bestimmte Unterlagen zu übersenden, über zwei Jahre ignoriert und in keiner Weise beantwortet. Daß bei einem entsprechenden Verhalten aller Vertragsärzte die kassenärztliche Versorgung der Versicherten durch die KÄV nicht mehr sichergestellt werden könnte, liegt ebenso auf der Hand wie die Tatsache, daß eine KÄV berechtigt und den Krankenkassen gegenüber möglicherweise sogar verpflichtet ist, ein solches Verhalten zu ahnden.

Auslegung und Anwendung der Vorschrift des § 85 Abs 1 Satz 2 SGB V sind auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Senats, die überwiegend noch zur sachlich im wesentlichen identischen Vorschrift des § 368m Abs 4 Reichsversicherungsordnung (RVO) ergangen ist, hinreichend geklärt, so daß auch insoweit von einem Revisionsverfahren keine für die Fortbildung des Rechts wesentlichen Erkenntnisse zu erwarten wären. In der Rechtsprechung des Senats ist vor allem geklärt, daß und in welcher Intensität die Gerichte im Streitfall Entscheidungen des Disziplinarausschusses nachzuprüfen haben und inwieweit diesem im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben und bei Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ein gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbares Ermessen verbleibt. In seinem Urteil vom 3. September 1987 (BSGE 62, 127 ff = SozR 2200 § 368m Nr 3) hat der Senat ausgeführt, daß die Frage, ob ein Kassenarzt seine kassenärztlichen Pflichten verletzt hat, gerichtlich voll überprüfbar ist, ohne daß dem Disziplinarausschuß ein Beurteilungsspielraum zusteht. Dagegen hat der Disziplinarausschuß bei der Auswahl der Disziplinarmaßnahmen grundsätzlich ein gerichtlich nur eingeschränkt nachprüfbares Ermessen, das jedoch durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erheblich eingeengt ist. An dieser Rechtsprechung hat sich das LSG erkennbar orientiert und die Beschwerde des Klägers legt nicht dar, inwieweit die Nachprüfung der landessozialgerichtlichen Entscheidung im Revisionsverfahren zur Klärung rechtsgrundsätzlich bedeutsamer Rechtsfragen führen könnte.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174225

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