Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 24.06.1992)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 24. Juni 1992 wird verworfen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form des § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Revision kann nur aus den in § 160 Abs 2 SGG genannten Gründen – grundsätzliche Bedeutung, Abweichung, Verfahrensmangel – zugelassen werden. Die Klägerin beruft sich auf grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und Verfahrensmängel. Weder den einen noch den anderen Zulassungsgrund hat sie jedoch in ausreichender Weise geltend gemacht.

 

Entscheidungsgründe

II

Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache muß in der Beschwerdebegründung „dargelegt” werden (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Hierzu muß der Beschwerdeführer nicht nur mindestens eine Rechtsfrage in eigener Formulierung klar bezeichnen und näher darlegen, warum diese von grundsätzlicher Art ist, dh ihre Entscheidung sich über den Einzelfall hinaus auswirken soll. Er muß vielmehr auch schlüssig dartun, daß die von ihm formulierte Rechtsfrage klärungsbedürftig und klärungsfähig, dh ihre Beantwortung zweifelhaft und im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich ist (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 17, 31 und 54). Eine vom Revisionsgericht bereits entschiedene Frage ist nur klärungsbedürftig, wenn der Rechtsprechung des Revisionsgerichts in nicht geringfügigem Umfang (in der juristischen Literatur) widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden (BSG SozR 1500 § 160a Nr 13) oder sonstige neue Gesichtspunkte vorgetragen werden, die zur Überprüfung der bisherigen Rechtsprechung Anlaß geben. Die Klägerin hat dies für die von ihr als grundsätzlich bezeichneten Rechtsfragen nicht ausreichend dargelegt.

Die Klägerin formuliert als klärungsbedürftige Rechtsfragen:

  1. „Ist die Zulassungsbeschränkung des § 31 Abs 1a Ärzte-ZV verfassungsgemäß?
  2. Wenn ja: Schließt § 31 Abs 1 Ärzte-ZV die Ermächtigung von Erste-Hilfe-Stellen, die als ärztlich geleitete Einrichtungen betrieben werden, grundsätzlich – auch bei gegebener Bedarfslage – aus?

    Wenn nein, stellt sich die tatsächliche Frage, ob der Bedarf im Sinne des § 31 Abs 1a Ärzte-ZV im vorliegenden Fall gegeben ist.”

1. Für Frage 1 beruft sich die Klägerin darauf, in ihren Grundrechten aus Art 3, 12 und 14 Grundgesetz (GG) verletzt zu sein; die angeführten Vorschriften stellten, basierend auf dem Grundsatz des Vorranges der niedergelassenen Ärzte, eine ungerechtfertigte Zulassungsbeschränkung und Ungleichbehandlung der zu Ermächtigenden dar. Mit diesem Vortrag hat die Klägerin jedoch nicht hinreichend dargetan, daß der (vermeintliche) Verfassungsverstoß für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits erheblich ist. Zwar kann auch in der Frage, ob eine Vorschrift verfassungsgemäß ist, eine grundsätzliche Bedeutung liegen (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 11 und 17). Die bloße Behauptung der Verfassungswidrigkeit reicht aber für die Zulässigkeit der Grundsatzrüge nicht aus. Es muß vielmehr unter Einbeziehung der einschlägigen Literatur und Rechtsprechung – insbesondere des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) – im einzelnen aufgezeigt werden, in welchem Umfang, von welcher Seite und aus welchen Gründen die Verfassungsmäßigkeit umstritten ist (in diesem Sinn allgemein zur Klärungsbedürftigkeit BSG SozR 1500 § 160 Nr 17). Dem hat die Klägerin schon im Blick auf die dafür in erster Linie maßgebende Rechtsprechung des BVerfG zur Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen des öffentlichen Rechts nicht Genüge getan.

Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung bis in die jüngste Zeit (Beschluß vom 5. April 1993 – 1 BvR 290/93 – = Gew-Arch 1993, 288, 289) entschieden, daß die materiellen Grundrechte auf juristische Personen des öffentlichen Rechts, soweit sie öffentliche Aufgaben wahrnehmen, grundsätzlich nicht anwendbar sind (vgl ua BVerfGE 68, 193, 206; 75, 192, 196; jeweils mit eingehenden Nachweisen). Im besonderen gilt dies jedenfalls im Bereich der Anwendung materiellen Rechts auch für Art 3 Abs 1 GG (BVerfGE 35, 263, 271; 75, 192, 200 f). Eine Ausnahme von diesen Grundsätzen hat das BVerfG lediglich für solche juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder ihre Teilgliederungen anerkannt, die von den ihnen durch die Rechtsordnung übertragenen Aufgaben her unmittelbar einem durch bestimmte Grundrechte geschützten Lebensbereich zugeordnet sind oder ihm kraft ihrer Eigenart von vornherein angehören, wie dies etwa bei Universitäten, Kirchen und Rundfunkanstalten – bei Universitäten und Fakultäten bezüglich der Forschungs- und Lehrfreiheit des Art 5 Abs 3 Satz 1 GG – der Fall sein kann (BVerfGE 68, 193, 207 mwN; speziell zu Universitäten und Fakultäten vgl BVerfGE 15, 256, 262; 21, 362, 373 f; 85, 360, 370).

Die Klägerin ist gemäß § 58 Abs 1 Satz 1 des Hochschulrahmengesetzes (HRG) eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und damit nach der Rechtsprechung des BVerfG prinzipiell nicht grundrechtsfähig. Sie könnte allenfalls dann Trägerin von Grundrechten sein, wenn der Betrieb ihrer Erste-Hilfe-Stellen entweder nicht zu ihren öffentlichen Aufgaben gehörte oder dem durch Art 5 Abs 3 Satz 1 GG besonders geschützten Bereich zuzurechnen wäre. Daß einer dieser Ausnahmefälle vorliegt, hätte in der Beschwerdebegründung dargelegt werden müssen. Die Äußerung der Ansicht, die Erste-Hilfe-Stellen könnten sich auf Grundrechte berufen, weil sie mit ihrem Leistungsangebot am Privatrechtsverkehr teilnähmen, reicht dafür nicht aus. Angesichts dessen, daß die Krankenversorgung durch Universitätseinrichtungen nach den Hochschulgesetzen (vgl § 59 Abs 2 Satz 1 HRG; § 2 Abs 3 Satz 1 des Berliner Hochschulgesetzes) eine staatliche Aufgabe ist, hätte substantiiert aufgezeigt werden müssen, daß und weshalb dies für die Tätigkeit der Erste-Hilfe-Stellen nicht zutrifft.

2. Auch für Frage 2 hat die Klägerin die grundsätzliche Bedeutung nicht in ausreichendem Umfang dargetan. Schon aus dem Wortlaut des § 95 Abs 1 und 4 SGB V (idF des Gesundheits-Reformgesetzes vom 20. Dezember 1988, BGBl I S 2477) sowie des heute geltenden § 95 Abs 1 und 4 SGB V iVm § 31 Abs 1 Ärzte-ZV (idF des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21. Dezember 1992, BGBl I S 2266) ergibt sich unzweideutig, daß ärztlich geleitete Einrichtungen zur Teilnahme an der (früher kassen- bzw vertragsärztlichen, jetzt nur noch) vertragsärztlichen Versorgung der Versicherten ermächtigt werden können. Ob auch Erste-Hilfe-Stellen zu den ärztlich geleiteten Einrichtungen im gesetzlichen Sinn gerechnet und dann ebenfalls ermächtigt werden können, richtet sich nach deren betrieblicher Organisation und Arbeitsweise, dh den jeweiligen tatsächlichen Verhältnissen. Die Prüfung, ob die Erste-Hilfe-Stellen der Klägerin diesen Anforderungen genügen, ist demzufolge lediglich eine Frage der Subsumtion des konkreten Lebenssachverhalts unter einen für sich feststehenden Gesetzesbegriff, nicht aber ein Problem der inhaltlichen Präzisierung eines rechtlichen Obersatzes, worauf allein die Rüge grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG gerichtet sein kann. Eine Rechtsfrage aber, die in derartigem Sinn so gut wie nicht bestritten ist, ist nicht klärungsbedürftig (BSG SozR 1500 § 160 Nr 17). Das Landessozialgericht (LSG) hat im übrigen die Möglichkeit einer Ermächtigung von Erste-Hilfe-Stellen nicht generell verneint, sondern mit Rücksicht auf den Vorrang der niedergelassenen Ärzte lediglich eine Ermächtigung ausgeschlossen, die ohne Einschränkung jede Erstversorgung gestattet.

III

Mit dem zweiten Teil ihrer Frage 2 formuliert die Klägerin keine Rechtsfrage im oben zu II 1. bezeichneten Sinn. Sie macht vielmehr geltend, das LSG habe den entscheidungserheblichen Sachverhalt in bezug auf den Versorgungsbedarf nicht hinreichend ermittelt. Ob dieses Vorbringen als Rüge einer Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 103 SGG) gewertet werden kann, muß angesichts dessen bezweifelt werden, daß die Klägerin selbst einräumt, das LSG habe von seinem Rechtsstandpunkt aus solche Ermittlungen nicht anstellen müssen. Unabhängig davon kann gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 SGG der geltend gemachte Verfahrensmangel auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Die formgerechte „Bezeichnung” (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) dieses Verfahrensmangels setzt ua voraus, daß der Beschwerdeführer den nach seiner Meinung vom LSG übergangenen Beweisantrag so genau bezeichnet, daß er für das Bundessozialgericht (BSG) ohne weiteres auffindbar ist (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Dementgegen ist in der Beschwerdebegründung ein Beweisantrag nicht bezeichnet worden.

IV

Die Klägerin kann schließlich auch mit ihrer Rüge, das LSG habe den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß §§ 62, 128 Abs 2 SGG verletzt, keinen Erfolg haben. Der damit vorgebrachte Verfahrensmangel ist dann nicht hinreichend „bezeichnet” iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG, wenn nicht angegeben wird, welches Vorbringen verhindert worden ist und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (BSG SozR 1500§ 160a Nr 36). Die Klägerin hat weder dargetan, welcher Tatsachenvortrag ihr abgeschnitten worden ist, noch erläutert, inwiefern dies für das Urteil des LSG ursächlich geworden ist. Sie beanstandet lediglich, das LSG habe den Streitgegenstand in der Urteilsbegründung nur mangelhaft erfaßt und ihr Anliegen und Vorbringen weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht hinreichend gewürdigt. Mit diesem Vorbringen trifft sie jedoch nicht den sachlichen Bereich, den der Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs schützt.

Der durch Art 103 Abs 1 GG gewährte und in § 62 SGG iVm § 128 Abs 2 SGG wiederholte Anspruch auf rechtliches Gehör hat zum Inhalt, daß den Beteiligten vom Amts wegen die Möglichkeit zu geben ist, sich sowohl zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt wie auch zur Rechtslage zu äußern (BVerfGE 86, 133, 144 mwN). Die Gerichte sind verpflichtet, die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Art 103 Abs 1 GG ist allerdings erst verletzt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, daß dieser Pflicht nicht nachgekommen worden ist. Denn grundsätzlich geht das BVerfG davon aus, daß die Gerichte das von ihnen entgegengenommene Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Sie sind dabei nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Damit ein Verstoß gegen Art 103 Abs 1 GG festgestellt werden kann, müssen vielmehr im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, daß tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (BVerfGE 65, 293, 295; 70, 288, 293; 86, 133, 144 ff; jeweils mwN). Der von der Klägerin allein erhobene Vorwurf, das Urteil des LSG würdige den Streitstoff unzutreffend und unvollständig, geht an dieser Rechtslage vorbei.

V

Die nicht formgerecht begründete und damit unzulässige Beschwerde der Klägerin mußte verworfen werden. Dies konnte gemäß § 202 SGG iVm § 574 der Zivilprozeßordnung und § 169 SGG analog auch ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter erfolgen (BSG SozR 1500 § 160a Nrn 1 und 5; BVerfG SozR 1500 § 160a Nr 30).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 und 4 SGG. Dabei hat der Senat dessen Absatz 4 in der vor dem 1. Januar 1993 geltenden Fassung angewandt (vgl hierzu Urteil des 3. Senats des BSG vom 30. März 1993 – 3 RK 1/93 –, zur Veröffentlichung vorgesehen).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174217

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