Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorzeitiger Bezug der Altersrente

 

Leitsatz (amtlich)

  • Sollen nach einer Versorgungsordnung aus dem Jahre 1971 die Arbeitnehmer bei Erreichen der “Altersgrenze zum Bezug von Altersruhegeld nach den derzeit geltenden Sozialversicherungsgesetzen” betriebliche Altersrente erhalten, so kann eine Frau mit Vollendung des 60. Lebensjahres die volle Betriebsrente beanspruchen, es sei denn, die Versorgungsordnung enthält für diesen Fall eine unmißverständliche Kürzungsregelung (im Anschluß an BAG Urteil vom 25. Oktober 1988 – 3 AZR 598/88 – AP Nr. 15 zu § 6 BetrAVG).
  • Durch das Inkrafttreten des § 6 BetrAVG hat sich die bereits nach der Versorgungsordnung bestehende Rechtslage nicht verändert. Die Versorgungsordnung ist nicht lückenhaft geworden, so daß für eine ergänzende Vertragsauslegung kein Raum ist.
 

Orientierungssatz

Betriebsvereinbarungen bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Schriftform des § 70 Abs. 2 Satz 1 BetrVG. Die Schriftform ist nur dann gewahrt, wenn die Betriebsvereinbarung sowohl vom Arbeitgeber als auch vom Betriebsrat unterzeichnet worden ist.

 

Normenkette

BetrAVG §§ 6, 2 Abs. 1, 4; AVG § 25 Abs. 3; RVO § 1248 Abs. 3; BetrVG § 77 Abs. 2, 4

 

Verfahrensgang

LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 23.06.1989; Aktenzeichen 1 Sa 5/89)

ArbG Stuttgart (Urteil vom 21.02.1989; Aktenzeichen 1 Ca 7270/88)

 

Tenor

  • Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 23. Juni 1989 – 1 Sa 5/89 – wird zurückgewiesen.
  • Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen !

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die beklagte Unterstützungskasse den Versorgungsanspruch der Klägerin wegen Inanspruchnahme des betrieblichen Altersruhegeldes vor Vollendung des 65. Lebensjahres kürzen darf.

Die im Dezember 1925 geborene Klägerin war vom 16. Juli 1962 bis zum 30. September 1979 bei der H… KG, R… -H… -Straße …, E… , beschäftigt. Der Arbeitgeber sagte eine Versorgung nach Maßgabe des Anhangs zur Betriebsordnung vom 1. September 1971 über die beklagte Unterstützungskasse zu. Im Abschnitt “Betriebliche Altersrente” heißt es:

  • “Jeder Mitarbeiter, der bei Erreichen der Altersgrenze zum Bezug von Altersrente nach den derzeit geltenden Sozialversicherungsgesetzen oder bei vorzeitiger Invalidität ausscheidet und sofern keine weitere Erwerbstätigkeit übernommen wird, erhält bei einer Betriebsgehörigkeit von mindestens 10 Jahren eine betriebliche Alters- bzw. Invalidenrente. Dieser Anspruch entfällt für Mitarbeiter, die beim Eintritt in die Firma bereits das 55. Lebensjahr vollendet haben. Bei der Feststellung der Betriebszugehörigkeit wird …
  • Die Altersrente errechnet sich in ihrer Höhe nach der im Betrieb verdienten Bruttolohn- bzw. Bruttogehaltssumme, wobei bei der Errechnung der Durchschnittsverdienst der letzten 10 Jahre zugrunde gelegt wird.
  • Die Bruttolohn- bzw. Bruttogehaltssumme als Grundlage für die zu errechnende Höhe der Rente zu nehmen, erscheint deswegen gerecht, weil in ihr die Dauer der Firmenzugehörigkeit und die Verantwortung, die der Einzelne im Betrieb getragen hat, zum Ausdruck kommt.
  • Die Rentenkapitalsumme beträgt 5 % der im Betrieb verdienten Bruttolohn- bzw. Bruttogehaltssumme. Diese so errechnete Rentenkapitalsumme wird bei Männern durch 120 und bei Frauen durch 132 geteilt. Rentenkapitalsumme geteilt durch 120 bzw. 132 ergibt die vorgesehene Monatsrente. Die unterschiedliche Rentenberechnung bei männlichen und weiblichen Arbeitnehmern beruht auf versicherungsmathematischen Erkenntnissen. Im Durchschnitt überleben Männer das 65. Lebensjahr um 10 Jahre, Frauen um 11 Jahre.
  • Die nach dem obigen Verfahren errechnete Rente wird bis zum Tod des rentenberechtigten Arbeitnehmers gewährt.
  • Die Altersrente wird aus der Unterstützungseinrichtung gewährt. …
  • Wer infolge eines Betriebsunfalles vor Vollendung des 65. Lebensjahres dauernd arbeitsunfähig wird, erhält einen Abfindungsbetrag in Höhe von 5 % der bis dahin verdienten Bruttolohn- bzw. Bruttogehaltssumme. Dem Arbeitgeber ist vorbehalten, diese so errechnete Abfindungssumme durch eine einmalige Bezahlung oder in Form einer Rente auszusetzen.
  • …”

Die Klägerin bezieht seit 1. Januar 1986 vorgezogenes Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung. Die Beklagte zahlt ihr eine Betriebsrente von 147,31 DM. Nach den übereinstimmenden Berechnungen beider Parteien betrug die nach der Versorgungsordnung ermittelte Rentenkapitalsumme bezogen auf das 65. Lebensjahr 41.801,25 DM. Bei Anwendung des vorgesehenen Teilungsfaktors “132” hätte die Klägerin im Alter von 65 Jahren eine Monatsrente von 316,68 DM erhalten (Die Anwendung des Teilungsfaktors “132” hatte die Klägerin zunächst beanstandet. Beide Vorinstanzen haben jedoch gegen sie entschieden. Die Klägerin hat insoweit die Abweisung der Klage durch das Berufungsgericht nicht mehr angegriffen.).

Den der Klägerin im Alter von 65 Jahren zustehenden Versorgungsanspruch von 316,68 DM hat die Beklagte im Verhältnis der tatsächlichen Dauer der Betriebszugehörigkeit zur möglichen Dauer der Betriebszugehörigkeit (Unverfallbarkeitsfaktor nach § 2 Abs. 1 und 4 BetrAVG, hier 17,167 Jahre im Verhältnis zu 28,417 Jahren) gekürzt. Sie errechnet auf diese Weise einen zeitanteiligen Versorgungsanspruch von 191,31 DM.

Diesen Betrag kürzt die Beklagte weiter um versicherungsmathematische Abschläge von 0,4 % für 60 Monate mit der Begründung, die Klägerin habe die Versorgung vorzeitig in Anspruch genommen. Die Klägerin könne nur eine Rente von 145,40 DM beanspruchen (wegen eines Berechnungsfehlers erhalte die Klägerin 147,31 DM).

Diesen Abschlag will die Klägerin nicht hinnehmen. Sie hat, soweit für die Revisionsinstanz noch von Bedeutung, sinngemäß beantragt,

die beklagte Unterstützungskasse zu verurteilen, an sie zu zahlen:

  • rückständige Rente für die Zeit vom 1. Januar 1986 bis 31. Januar 1989 in Höhe von 1.628,-- DM brutto;
  • ab Februar 1989 eine um 44,-- DM monatlich höhere laufende Rente, also insgesamt monatlich 191,31 DM.

Die beklagte Unterstützungskasse hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat behauptet, Arbeitgeber und Betriebsrat seien sich im April 1973 einig gewesen, einen versicherungsmathematischen Abschlag von 0,4 % je Monat des vorzeitigen Bezugs einer Altersrente einzuführen.

Das Landesarbeitsgericht hat, soweit dies für die Revision von Bedeutung ist, der Klage stattgegeben. Dagegen richtet sich die Revision der Beklagten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der beklagten Unterstützungskasse ist nicht begründet. Der Klägerin steht ein Versorgungsanspruch von monatlich 191,31 DM zu. Sie braucht keine Kürzung wegen Inanspruchnahme des Altersruhegeldes vor Vollendung des 65. Lebensjahres hinzunehmen.

1. Der Versorgungsanspruch der Klägerin richtet sich nach der Versorgungsordnung vom 1. September 1971 (Anhang zur Betriebsordnung).

a) Der Arbeitgeber hat der Klägerin eine Altersversorgung nach Maßgabe dieser Versorgungsordnung zugesagt. Es handelte sich um eine Gesamtzusage. Das Angebot einer betrieblichen Altersversorgung richtete sich an alle Arbeitnehmer des Betriebs. Der Arbeitgeber erwartete nicht, daß die Arbeitnehmer dieses Angebot ausdrücklich annähmen (vgl. zum Zustandekommen und zu den Rechtsfolgen einer Gesamtzusage BAG, Großer Senat, Beschluß vom 16. September 1986 – GS 1/82BAGE 53, 42, 55 = AP Nr. 17 zu § 77 BetrVG 1972, zu C II 1a der Gründe). Davon geht auch die beklagte Unterstützungskasse aus.

b) Die vertragliche Zusage auf Altersversorgung nach Maßgabe der Versorgungsordnung von 1971 wurde 1973 nicht durch Betriebsvereinbarung abgelöst. Am 17. April 1973 waren sich nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts zwar Arbeitgeber und Betriebsrat darüber einig, daß bei Inanspruchnahme der Betriebsrente vor Vollendung des 65. Lebensjahres ein versicherungsmathematischer Abschlag vorgenommen werden dürfe. Dieses Einvernehmen kann aber, wie das Berufungsgericht mit Recht sagt, nur eine Regelungsabsprache sein. Das Einvernehmen hat nicht zu einer Betriebsvereinbarung im Sinne des § 77 Abs. 2 BetrVG geführt. Nach dieser Bestimmung sind Betriebsvereinbarungen von Betriebsrat und Arbeitgeber gemeinsam zu beschließen und schriftlich niederzulegen. Sie sind von beiden Seiten zu unterzeichnen. Eine solche Betriebsvereinbarung hat die beklagte Unterstützungskasse nicht vorlegen können. Nur eine Betriebsvereinbarung gilt unmittelbar und zwingend (§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG). Die Regelungsabrede entfaltet diese Wirkung nicht (BAG Urteil vom 15. Dezember 1961 – 1 AZR 207/59 – AP Nr. 1 zu § 615 BGB Kurzarbeit). Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob Arbeitgeber und Betriebsrat mit Wirkung gegen die Klägerin einen versicherungsmathematischen Abschlag hätten einführen können.

c) Eine Neuregelung der Versorgungsordnung vom 19. März 1984 konnte die Ansprüche der Klägerin, die bereits 1979 beim Trägerunternehmen ausgeschieden war, nicht mehr beeinträchtigen. Auch darüber sind sich die Parteien einig.

2. Die Klägerin kann mit Vollendung des 60. Lebensjahres die Zahlung der betrieblichen Altersrente verlangen, ohne einen versicherungsmathematischen Abschlag hinnehmen zu müssen. Die Versorgungsordnung von 1971 sieht für Frauen eine Betriebsrente schon bei Vollendung des 60. Lebensjahres vor.

a) Nach der Versorgungsordnung von 1971 soll der Mitarbeiter Altersrente erhalten, wenn er die “Altersgrenze zum Bezug von Altersrente nach den derzeit geltenden Sozialversicherungsgesetzen …” erreicht. Die betriebliche Regelung verweist in der Frage, von welchem Zeitpunkt ab ein Arbeitnehmer Betriebsrente verlangen kann, auf die Bestimmungen der Sozialversicherungsgesetze. Seit dem 1. Januar 1957 gilt eine einheitliche Regelung für die Rentenversicherungen der Arbeiter und Angestellten. Nach § 1248 Abs. 3 Satz 1 RVO in der Fassung des ArVNG (= § 25 Abs. 3 AVG in der Fassung des AnVNG) erhielt eine weibliche Versicherte auf Antrag Altersruhegeld, wenn sie das 60. Lebensjahr vollendet und die übrigen rentenversicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt hatte. An dieser Altersgrenze hat das Gesetz vom 9. Juni 1965 (RVÄndG – BGBl. I, S. 476) nichts geändert (vgl. zur geschichtlichen Entwicklung Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. IV, S. 684 f. II).

Die weiteren Regelungen der Versorgungsordnung stehen dieser Annahme nicht entgegen. Die Versorgungsordnung geht zwar bei verschiedenen Regelungen davon aus, daß der Arbeitnehmer Rente erst im Alter von 65 Jahren in Anspruch nimmt. Darauf stellen etwas die Berechnungsbeispiele und die Begründung des unterschiedlichen Teilungsfaktors für Männer und Frauen ab. Diese Regelungen lassen aber nicht den Schluß zu, daß eine weibliche Versicherte den betrieblichen Versorgungsanspruch erst im Alter von 65 Jahren ungekürzt erwerben soll. Der Hinweis auf die Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung wäre sonst bedeutungslos. Das Ausscheiden eines Arbeitnehmers mit Vollendung des 65. Lebensjahres wird vielmehr als Regelfall in der Versorgungsordnung angesehen. Auf diesen Regelfall sind Einzelregelungen zu verschiedenen Fragen abgestellt.

b) Die Versorgungsordnung enthält keine besondere Regelung über die Höhe der Altersrente für den Fall, daß eine Arbeitnehmerin mit Vollendung des 60. Lebensjahres aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet. Die Altersrente wird einheitlich für alle Arbeitnehmer, die bei Erreichen der Altersgrenze nach den geltenden Sozialversicherungsgesetzen ausscheiden, berechnet. Nach der Versorgungsordnung hat der Arbeitnehmer bei Vorliegen des Versorgungsfalles “Alter” Anspruch auf die Vollrente, nicht nur auf eine Teilrente. Hätte der Arbeitgeber keine Vollrente versprechen wollen, hätte er das in der Versorgungsordnung zum Ausdruck bringen müssen, und zwar so, daß sich auch die Versorgungsberechtigten hierauf hätten einstellen können (vgl. BAG Urteil vom 25. Oktober 1988 – 3 AZR 598/88 – AP Nr. 15 zu § 6 BetrAVG, zu II 1a der Gründe).

Danach hat die Unterstützungskasse die nach den in der Versorgungsordnung beschriebenen Verfahren errechnete Rente vom Versorgungsfall an bis zum Tode des rentenberechtigten Arbeitnehmers zu gewähren.

c) An dem Inhalt der Versorgungsordnung hat sich durch das Inkrafttreten des BetrAVG nichts geändert. § 6 BetrAVG erlaubt dem Arbeitnehmer, die Betriebsrente schon vor dem in der Versorgungsordnung vorgesehenen Versorgungsfall in Anspruch nehmen zu können. Dieses Recht braucht die Klägerin aber nicht in Anspruch zu nehmen. Sie kann aufgrund der Versorgungsordnung die Betriebsrente bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres beanspruchen. In ihrem Fall läuft § 6 BetrAVG leer. Die Erwägungen des Berufungsgerichts zur Frage, ob und in welchem Umfang eine Betriebsrente bei vorzeitiger Inanspruchnahme der Altersrente gekürzt werden darf, und die Angriffe der Revision gegen die Beurteilung dieser Frage durch das Berufungsgericht, sind damit gegenstandslos (vgl. zu einem ähnlich gelagerten Fall das bereits erwähnte Urteil des Senats vom 25. Oktober 1988 – 3 AZR 598/88 –, aaO).

 

Unterschriften

Dr. Heither, Griebeling, Kremhelmer, Zieglwalner, Oberhofer

 

Fundstellen

Haufe-Index 841017

RdA 1991, 187

ZIP 1991, 675

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