Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückverweisung durch das Berufungsgericht. Wesentlichkeit des Verfahrensmangels. Richterliche Hinweispflicht

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Voraussetzungen für eine Zurückverweisung der Sache an das Gericht des ersten Rechtszuges wegen eines wesentlichen Verfahrensmangels.

 

Normenkette

ZPO § 538 Abs. 2

 

Verfahrensgang

OLG München (Urteil vom 21.07.2009; Aktenzeichen 18 U 1549/09)

LG München I (Urteil vom 01.12.2008; Aktenzeichen 3 O 9161/08)

 

Nachgehend

OLG München (Urteil vom 21.07.2009; Aktenzeichen 18 U 1549/09)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 18. Zivilsenats des OLG München vom 21.7.2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Rz. 1

Die Klägerin, ein gesetzlicher Krankenversicherer, begehrt aus übergegangenem Recht ihres Mitglieds Gl. Ersatz der Operationskosten wegen des Austauschs eines implantierbaren Cardioverter Defibrillators (im Folgenden: ICD). Die Beklagte, die vormals unter "G. GmbH" (im Folgenden: G) firmierte, ist die deutsche Vertriebsgesellschaft des US-amerikanischen Herstellers.

Rz. 2

Im Juni 2005 informierte die G. durch ein von ihr in die deutsche Sprache übersetztes Schreiben des Herstellers Ärzte und Kliniken über wichtige Sicherheitshinweise zu bis zum 16.4.2002 hergestellten Geräten des Typs PRIZM 2 DR, Modell 1861. In dem Schreiben heißt es, diese Maßnahme werde nach Angaben der FDA (Food and Drug Administration - Amerikanische Aufsichtsbehörde) als Recall eingestuft. Im Februar 2002 sei bei diesem Gerätetyp ein Problem festgestellt worden. Die nachfolgende Laboranalyse eingesandter Produkte habe ergeben, dass eine Güteminderung der Drahtisolierkörper innerhalb des Elektroden-Anschlussblocks (Header) in Verbindung mit anderen Faktoren einen elektrischen Kurzschluss ausgelöst habe. Dieser habe zu einer Ableitung der Schocktherapieenergie in den Geräteschaltkreis statt an das Herz geführt. Der daraus resultierende Schaden am Schaltkreis habe einen dauerhaften Verlust der Schocktherapie und der Stimulation hervorgerufen. Es lägen 28 Berichte zu diesem Versagen vor, bezogen auf 26.000 Produkte, die vor April 2002 hergestellt worden seien. Dazu zähle auch ein Ereignis, das im März 2005 gemeldet worden sei und für das ein Produkt nach dem Tode des Patienten eingesandt worden sei. Bei diesem Produkt sei festgestellt worden, dass das Versagen im Zusammenhang mit der versuchten Abgabe zumindest einer Hochspannungstherapie aufgetreten sei. G. erwarte lediglich eine sehr begrenzte Zahl an Meldungen über weitere Ausfälle, ziehe aber in Erwägung, dass die tatsächliche Zahl der Ausfälle höher sein könnte als die gemeldete. Es könnten auch zu wenige Todesfälle im Zusammenhang mit einem Produktversagen gemeldet worden sein, da ICDs nicht routinemäßig post mortem untersucht würden. G. sei nach Labortests zu dem Ergebnis gekommen, dass es keine Möglichkeit gebe, zu prognostizieren, ob ein bestimmtes Gerät tatsächlich versagen werde. G. empfehle den Ärzten, in gewohnter Weise mit der Überwachung aller Patienten mit Geräten dieses Typs fortzufahren. G. empfehle nicht, diese Produkte vor der Anzeige des normalen Austauschindikators ERI auszutauschen. Das vorzeitige Austauschen verringere das Risiko des Patienten möglicherweise nicht in Relation zu den Risiken eines invasiven Eingriffs. Aber natürlich sollten Ärzte, wie auch sonst, immer von Fall zu Fall entscheiden, ob ein Austausch des Produkts auf der Basis der Patientenhistorie angeraten sei. Im Falle der Entscheidung für eine vorzeitige Explantation werde G. selbstverständlich kostenlosen Ersatz liefern.

Rz. 3

Aufgrund dieser Information wurde der dem Mitglied der Klägerin implantierte ICD am 22.7.2005 operativ gegen ein neues, von der Beklagten kostenlos zur Verfügung gestelltes Gerät ausgetauscht. Die Klägerin begehrt den Ersatz der dadurch entstanden Operationskosten i.H.v. 6.835,90 EUR.

Rz. 4

Die Klägerin hat in erster Instanz geltend gemacht, der ihrem Mitglied ursprünglich implantierte ICD habe aufgrund eines Konstruktionsfehlers auszufallen gedroht. Das LG, das einen Produktfehler gem. § 3 ProdHaftG bejaht und gemeint hat, es läge ein Fabrikationsfehler vor, hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG das erstinstanzliche Urteil und das Verfahren aufgehoben und die Sache an das LG zurückverwiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

 

Entscheidungsgründe

I.

Rz. 5

Das Berufungsgericht hält die Voraussetzungen von § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO für gegeben und führt aus, das LG sei von einem Fabrikationsfehler ausgegangen, ohne die Beklagte zuvor gem. § 139 Abs. 2 ZPO auf diesen Gesichtspunkt hinzuweisen. Zudem habe es Vorbringen der Beklagten im Kern verkannt. Ein Produktfehler stehe derzeit nicht fest. Insbesondere sei offen, ob das dem Mitglied der Klägerin implantierte Gerät zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens gütegeminderte Drahtisolierkörper aufgewiesen habe. Die Beklagte habe dies bestritten. Ob das Gerät, wenn es gütegeminderte Drahtisolierkörper aufgewiesen habe, nicht die Sicherheit geboten habe, die unter Berücksichtigung aller Umstände habe erwartet werden können, hänge auch von der Frage ab, wie die maßgeblichen Sicherheitserwartungen gewesen seien. Dabei komme es auch darauf an, inwieweit die fragliche Serie die Fehlerquote bei anderen Serien und anderen Herzschrittmachern (richtig: ICDs) überschritten habe und welche Sicherheit nach den damaligen technischen Standards habe erwartet werden können. Ein Produktfehler ergebe sich auch nicht aus dem Sicherheitsinformationsschreiben. Ein sich im Nachhinein als unbegründet herausstellender Verdacht sei kein Produktfehler i.S.v. § 3 ProdHaftG. Dass sich keine Versagensprognose habe treffen lassen, habe sich nur auf Geräte mit nicht gütegeminderten Drahtisolierkörpern bezogen. Aus dem Sicherheitsinformationsschreiben könne zudem nicht zwingend geschlossen werden, dass der Beklagten der Entlastungsbeweis gem. § 1 Abs. 2 ProdHaftG nicht möglich sei. Da die Klärung dieser Fragen eine aufwendige Beweisaufnahme erfordere, seien die Sache und das Verfahren auf Antrag der Beklagten an das LG zurückzuverweisen gewesen.

II.

Rz. 6

Diese Beurteilung hält revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Rz. 7

Das Berufungsgericht hat die Sache verfahrensfehlerhaft gem. § 538 Abs. 2 Nr. 1 ZPO an das LG zurückverwiesen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift für eine Zurückverweisung an das erstinstanzliche Gericht, durch die die Klägerin beschwert ist (vgl. BGH, Urt. v. 6.11.2000 - II ZR 67/99, NJW 2001, 1500, 1501), sind in mehrfacher Hinsicht nicht erfüllt.

Rz. 8

1. Eine Zurückverweisung nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO kommt als Ausnahme von der in § 538 Abs. 1 ZPO statuierten Verpflichtung des Berufungsgerichts, die notwendigen Beweise zu erheben und in der Sache selbst zu entscheiden, nur in Betracht, wenn das erstinstanzliche Verfahren an einem so wesentlichen Mangel leidet, dass es keine Grundlage für eine instanzbeendende Entscheidung sein kann. Ob ein wesentlicher Verfahrensfehler vorliegt, ist allein aufgrund des materiell-rechtlichen Standpunkts des Erstgerichts zu beurteilen, auch wenn dieser verfehlt ist oder das Berufungsgericht ihn für verfehlt erachtet (BGH, Urt. v. 4.2.1986 - VI ZR 220/84, VersR 1986, 654, 656; BGH, Urt. v. 6.11.2000, a.a.O., und Versäumnisurteil v. 1.2.2010 - II ZR 209/08, ZIP 2010, 776, 777 f.). Nach diesen - vom Berufungsgericht verkannten - Grundsätzen liegt kein Verfahrensfehler des Erstgerichts vor.

Rz. 9

a) Die Revision rügt mit Recht, dass das LG entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts seine richterliche Hinweispflicht gem. § 139 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht verletzt hat. Nach dieser Vorschrift darf das Gericht seine Entscheidung auf einen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, nur stützen, wenn es darauf hingewiesen und Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat. Dasselbe gilt nach § 139 Abs. 2 Satz 2 für einen Gesichtspunkt, den das Gericht anders beurteilt als beide Parteien. Gegen diese Bestimmungen hat das LG nicht verstoßen.

Rz. 10

Die Ausführungen in der Berufungsbegründung, auf die sich das Berufungsgericht bezieht, lassen nicht erkennen, dass und welchen entscheidungserheblichen Vortrag die Beklagte infolge einer Verletzung der Hinweispflicht durch das LG unterlassen haben soll. Da es bei den Hinweispflichten des Gerichts um den Schutz der Partei vor Überraschungsentscheidungen geht, die sie hätte abwenden können, ist zu verlangen, dass sie jedenfalls geltend macht, in Verkennung der Rechtslage bestimmten - näher anzugebenden - Vortrag unterlassen zu haben (BGH, Urt. v. 9.12.1987 - VIII ZR 374/86, NJW-RR 1988, 477, 478). Dies ist im Streitfall nicht ersichtlich und wird von der Revisionserwiderung auch nicht aufgezeigt.

Rz. 11

Zwar hat das LG den behaupteten Produktfehler abweichend von dem erstinstanzlichen Vorbringen der Klägerin nicht als Konstruktionsfehler, sondern als Fabrikationsfehler bewertet, jedoch war das Vorbringen der Klägerin nicht auf die Darlegung eines Konstruktionsfehlers beschränkt. Wie das Berufungsgericht selbst sieht, hat die Klägerin die Behauptung eines Fehlers nämlich auch darauf gestützt, dass der "Herzschrittmacher" (ausweislich des im Tatbestand des landgerichtlichen Urteils auszugsweise wörtlich wiedergegebenen Informationsschreibens handelt es dabei nicht um einen Herzschrittmacher, sondern um einen implantierbaren Cardioverter Defibrillator, ICD) gütegeminderte Drahtisolierkörper aufgewiesen habe, dass andere Geräte der Serie ordnungsgemäß hätten hergestellt werden können und dass der "Herzschrittmacher" nicht die Sicherheit geboten habe, die berechtigterweise habe erwartet werden dürfen. Diesen Sachvortrag hat das Berufungsgericht dahin bewertet, dass die Klägerin damit die Tatsachengrundlage eines Fabrikationsfehlers vorgetragen und lediglich eine unzutreffende rechtliche Einordnung vorgenommen habe.

Rz. 12

Das Berufungsgericht verkennt auch nicht, dass die Beklagte das Vorliegen eines Fabrikationsfehlers in erster Instanz nicht etwa zugestanden, sondern vielmehr die Fehlerfreiheit des betreffenden Produkts behauptet und dafür - unter Protest gegen die Beweislast - die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragt hat. Ausweislich des Tatbestands des Berufungsurteils hat die Beklagte mit der Berufungsbegründung zudem ausdrücklich geltend gemacht, in erster Instanz jeglichen Produktfehler ausreichend bestritten zu haben. Bei dieser Sachlage ist nicht zu erkennen, welchen weiteren Vortrag die Beklagte vor dem LG gehalten hätte, wenn ihr der Hinweis erteilt worden wäre, dass der von der Klägerin behauptete Produktfehler als Fabrikationsfehler zu bewerten sein könnte. Da beide Parteien erstinstanzlich in der Sache auch zur Frage eines möglichen Fabrikationsfehlers Stellung genommen haben, stellt die landgerichtliche Beurteilung keine verfahrensfehlerhafte Überraschungsentscheidung dar.

Rz. 13

b) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hat das LG auch nicht Vorbringen der Beklagten im Kern verkannt.

Rz. 14

Das LG hat einen Produktfehler gem. § 3 Abs. 1 ProdHaftG bejaht, weil das fragliche Gerät nach den Sicherheitsinformationen des Herstellers aus einer Serie stamme, bei der zumindest teilweise gütegeminderte Teile verwendet worden seien, und eine Prognose, ob es zu einem Versagen des betreffenden Geräts kommen werde, nicht möglich sei. Es hat ausgeführt, aufgrund der Angaben in dem Informationsschreiben des Herstellers und dem dort enthaltenen Hinweis auf einen Recall habe jeder verantwortungsbewusste Arzt nach vernünftiger Abwägung der mit dem Austausch verbundenen Risiken zu dem Ergebnis kommen müssen, dass Geräte des betreffenden Typs auszutauschen seien, es sei denn, die besondere Disposition des Patienten stehe einem solchen Austausch entgegen. Demgegenüber meint das Berufungsgericht, ein Produktfehler in der Form eines Fabrikationsfehlers liege nur dann vor, wenn nicht nur die Möglichkeit bestehe, dass das betreffende Produkt fehlerhaft sei, sondern wenn entweder die Fehlerhaftigkeit im Einzelfall feststehe oder aber wenn zumindest die Quote der Fabrikationsfehler der betreffenden Serie den zu erwartenden Sicherheitsstandard unterschreite. Damit stellt das Berufungsgericht an die Bejahung eines Produktfehlers i.S.v. § 3 Abs. 1 ProdHaftG andere Anforderungen als das LG.

Rz. 15

Bewertet das Berufungsgericht das Parteivorbringen materiell-rechtlich anders als das Erstgericht, liegt kein zur Aufhebung und Zurückverweisung berechtigender wesentlicher Verfahrensmangel vor. Das gilt auch dann, wenn infolge der abweichenden Beurteilung eine Beweisaufnahme erforderlich wird (BGH, Urt. v. 3.4.2000 - II ZR 194/98, NJW 2000, 2099 f. m.w.N.; vgl. auch BGH, Versäumnisurteil v. 16.12.2004 - VII ZR 270/03, MDR 2005, 645). Eine - wirklich oder vermeintlich - unrichtige Rechtsansicht des Erstrichters darf nicht auf dem Umweg über eine angebliche Hinweispflicht ggü. den Parteien in einen Verfahrensmangel umgedeutet werden, wenn auf der Grundlage der Auffassung des Erstgerichts kein Hinweis geboten war (BGH, Urt. v. 30.10.1990 - XI ZR 173/89, NJW 1991, 704). So liegt es im Streitfall. Bei Zugrundelegung der materiell-rechtlichen Beurteilung des LG war der Rechtsstreit entscheidungsreif. Eine Beweisaufnahme war nicht erforderlich, da das LG aufgrund des unstreitigen Parteivorbringens einen Produktfehler bejaht hat. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hat es dabei die in dem Informationsschreiben enthaltenen Angaben zur Unmöglichkeit einer Ausfallprognose keineswegs missverstanden. Die dortige Aussage bezieht sich ausweislich des Tatbestands des landgerichtlichen Urteils nicht, wie das Berufungsgericht meint, ausschließlich auf Geräte mit nicht gütegeminderten Drahtisolierkörpern, sondern vielmehr auf alle bis zum 16.4.2002 hergestellte Geräte des betreffenden Typs. Die Angabe des Herstellers, es gebe keine Möglichkeit zu prognostizieren, ob ein bestimmtes Gerät tatsächlich versagen werde, hat das LG deshalb mit Recht berücksichtigt.

Rz. 16

2. Eine eigene Sachentscheidung ist dem erkennenden Senat schon deshalb verwehrt, weil es bisher an den dafür erforderlichen Feststellungen hinsichtlich der berechtigten Sicherheitserwartungen eines solchen Produkts fehlt (vgl. § 3 Abs. 1 ProdHaftG). Deshalb ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2372701

EBE/BGH 2010, 259

AnwBl 2010, 220

VersR 2010, 1666

PA 2010, 182

Mitt. 2010, 493

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