Entscheidungsstichwort (Thema)

Arzthaftung für psychische Folgen der unerwünschten Mitteilung einer Erbkrankheit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Stellt ein Arzt bei einem Elternteil eine unheilbare, tödliche Krankheit mit 50 % - iger Vererbungswahrscheinlichkeit fest (hier: Chorea Huntington = "Veitstanz"), ist er selbst dann nicht befugt, dies dem anderen Elternteil mit Blickrichtung auf die gemeinsamen, noch minderjährigen Kinder mitzuteilen, wenn diesem die Gesundheitsfürsorge obliegt.

2. Der Arzt muss die Behauptung beweisen, sein heute nicht mehr vernehmungsfähiger Patient habe ihn beauftragt, die geschiedene Ehefrau über die Möglichkeit zu informieren, dass auch die gemeinsamen minderjährigen Kinder die Erbanlage tragen. Das bloße Einverständnis des Patienten mit der Weitergabe der Information an "Bekannte" reicht nicht aus.

3. Hält der Arzt eine Präventionsaufklärung für erforderlich mit Blickrichtung auf gesundheitliche Beeinträchtigungen jener Kinder, die aus künftigen Sexualkontakten der Minderjährigen hervorgehen können, hat er eine Betreuung anzuregen und dem dort zuständigen Richter die Entscheidung zu überlassen, ob und gegebenenfalls wann es angebracht oder gar erforderlich ist, die möglicherweise von der Erbkrankheit betroffenen Minderjährigen zu informieren.

4. Die unerwünschte Information der Kindesmutter ist auch nicht durch das Gendiagnostikgesetz, die Richtlinie der Gendiagnostik - Kommission oder eine hypothetische Einwilligung gerechtfertigt, weil ein Arzt auch das "Recht auf Nichtwissen" zu respektieren hat (gegen Kern in GesR 2012, 352).

 

Normenkette

BGB §§ 105, 164, 253, 280-281, 823, 1896; GenDG §§ 8, 10-11, 14, 23; StGB § 34

 

Verfahrensgang

LG Bad Kreuznach (Urteil vom 02.11.2012; Aktenzeichen 3 O 306/11)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 20.05.2014; Aktenzeichen VI ZR 381/13)

 

Tenor

1. Unter Änderung des Urteil des LG Bad Kreuznach vom 2.11.2012 - 3 O 306/11 wird festgestellt, dass der Beklagte der Klägerin aufgrund der am 31.3.2011 erfolgten Mitteilung, dass ihr geschiedener Ehemann an Chorea Huntington leide, die Krankheit absolut tödlich und unheilbar sei und eine 50 % Wahrscheinlichkeit bestehe, dass auch die gemeinsamen Kinder an der Erbkrankheit leiden könnten, dem Grunde nach immateriellen Schadensersatz nach Maßgabe des Klageantrages zu 1) schuldet.

2. Unter Änderung des Urteil des LG Bad Kreuznach vom 2.11.2012 - 3 O 306/11 wird festgestellt, dass der Beklagte der Klägerin aufgrund der am 31.3.2011 erfolgten Mitteilung, dass ihr geschiedener Ehemann an Chorea Huntington leide, die Krankheit absolut tödlich und unheilbar sei und eine 50 % Wahrscheinlichkeit bestehe, dass auch die gemeinsamen Kinder an der Erbkrankheit leiden könnten, zu materiellem und über den Klageantrag zu 1) hinausgehenden künftigen immateriellem Schadensersatz verpflichtet ist.

3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

4. Die Revision wird zugelassen.

 

Gründe

I. Die Klägerin begehrt von dem beklagten Oberarzt der Fachabteilung für Psychiatrie und Psychotherapie der H. - Klinik in S. immateriellen und materiellen Schadensersatz.

Die Klägerin war verheiratet mit Herrn W., der an Chorea Huntington leidet, einer vererblichen und sicher zum Tode führenden Krankheit. Die Ehe, aus der ein 1994 geborener Sohn und eine 1999 geborene Tochter hervorgegangen sind, wurde im Februar 2011 geschieden. Mit Ausnahme des Aufenthalts- und Gesundheitsfürsorgerechts, das der Klägerin seit 2009 allein zusteht, üben die geschiedenen Ehegatten das Sorgerecht gemeinsam aus.

Herr W. (künftig: Der Patient) befindet sich seit 2011 wegen der Chorea-Huntington in ärztlicher Behandlung, u.a. bei dem Beklagten. Dieser bat die Klägerin am 31.3.2011 zu einem Gespräch, um sie über die Erkrankung des Patienten zu informieren. Inwieweit dies auf dessen Veranlassung oder mit dessen Zustimmung geschah, ist zwischen den Parteien streitig. Der Beklagte teilte der Klägerin die Erkrankung mit und wies darauf hin, dass die - zu diesem Zeitpunkt 12 und 16 Jahre alten - Kinder mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % ebenfalls von der Erbkrankheit betroffen sein könnten. Er empfahl, die Kinder genetisch untersuchen zu lassen.

Die Klägerin fand zunächst trotz der Unterstützung des Beklagten keine Einrichtung, die zu einer gentechnischen Untersuchung bereit war. Sie suchte schließlich am 13.4.2011 eine Dipl.-Biologin und Fachärztin für Humangenetik zu einer genetischen Beratung auf. Diese informierte die Klägerin darüber, dass es nach dem Gendiagnostikgesetz (GenDG) nicht gestattet sei, eine prädiktive Diagnostik bei noch nicht symptomatischen Minderjährigen oder bei Personen, die nicht selbst nach entsprechender humangenetischer Beratung und ausreichender Bedenkzeit in die Untersuchung eingewilligt hätten, durchzuführen.

Die Klägerin ist seit dem 1.4.2011 wegen reaktiver Depression dauerhaft krankgeschrieben und nicht in der Lage, einer Erwerbsfähigkeit nachzugehen.

Sie ist der Auffassung, der Beklagte habe sie über die Erkrankung des Patienten jedenfalls...

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