Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Zuständigkeit in Zivil- und Handelssachen. Anwendungsbereich. Begriff ‚Zivil- und Handelssachen’. Von einem Mitgliedstaat begebene Anleihen. Beteiligung des privaten Sektors an der Umstrukturierung der Staatsschuld dieses Staates. Einseitige, rückwirkende Änderung der Anleihebedingungen. Umschuldungsklauseln. Klage privater Gläubiger, die als natürliche Personen Inhaber solcher Anleihen sind, gegen diesen Staat. Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte

 

Normenkette

Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 Art. 1 Abs. 1

 

Beteiligte

Kuhn

Hellenische Republik

Leo Kuhn

 

Tenor

Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass ein Rechtsstreit wie der des Ausgangsverfahrens, den eine natürliche Person, die von einem Mitgliedstaat begebene Anleihen erworben hatte, gegen diesen führt, wobei sich ihre Klage gegen den Austausch der genannten Anleihen gegen Anleihen mit einem niedrigeren Wert richtet, der ihr durch ein vom nationalen Gesetzgeber unter außergewöhnlichen Umständen erlassenes Gesetz auferlegt wurde, mit dem die Anleihebedingungen einseitig und rückwirkend geändert wurden, indem eine Umstrukturierungsklausel eingeführt wurde, die es der Mehrheit der Inhaber der betreffenden Anleihen ermöglicht, der Minderheit diesen Austausch aufzuzwingen, nicht unter den Begriff „Zivil- und Handelssachen” im Sinne dieser Bestimmung fällt.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 25. April 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Mai 2017, in dem Verfahren

Hellenische Republik

gegen

Leo Kuhn

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter J.-C. Bonichot, E. Regan, C. G. Fernlund und S. Rodin,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. April 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der Hellenischen Republik, vertreten durch Rechtsanwältin K. Kitzberger,
  • von Herrn Kuhn, vertreten durch Rechtsanwalt M. Brand,
  • der hellenischen Regierung, vertreten durch K. Boskovits, S. Charitaki, M. Vlassi und S. Papaioannou als Bevollmächtigte,
  • der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Pucciariello, avoccato dello Stato,
  • der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo und P. Lacerda als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin und M. Heller als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Juli 2018

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Nr. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Hellenischen Republik und Herrn Leo Kuhn wegen eines Antrags auf Erfüllung der Anleihebedingungen im Zusammenhang mit Anleihen, die von diesem Mitgliedstaat begeben wurden, bzw. auf Schadenersatz wegen Nichteinhaltung dieser Bedingungen.

Rechtlicher Rahmen

ESM-Vertrag

Rz. 3

Am 2. Februar 2012 wurde in Brüssel (Belgien) der Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus zwischen dem Königreich Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, der Republik Estland, Irland, der Hellenischen Republik, dem Königreich Spanien, der Französischen Republik, der Italienischen Republik, der Republik Zypern, dem Großherzogtum Luxemburg, Malta, dem Königreich der Niederlande, der Republik Österreich, der Portugiesischen Republik, der Republik Slowenien, der Slowakischen Republik und der Republik Finnland (im Folgenden: ESM-Vertrag) geschlossen. Sein Art. 12 Abs. 3 sieht vor, dass ab dem 1. Januar 2013 alle neuen Staatsschuldtitel des Euro-Währungsgebiets mit einer Laufzeit von mehr als einem Jahr Umschuldungsklauseln enthalten, die so ausgestaltet sind, dass gewährleistet wird, dass ihre rechtliche Wirkung in allen Rechtsordnungen des Euro-Währungsgebiets gleich ist.

Unionsrecht

Rz. 4

Die Erwägungsgründe 4, 15 und 16 der Verordnung Nr. 1215/2012 lauten:

„(4) Die Unterschiede zwischen bestimmten einzelstaatlichen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen erschweren das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts. Es ist daher unerlässlich, Bestimmungen zu erlassen, um die Vo...

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