Leitsatz (amtlich)

1. Zur Nachprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen durch das Berufungsgericht.

2. Gesamtschmerzensgeld für geistig und körperlich schwerstbehindertes Kind (350.000 Euro).

 

Verfahrensgang

LG Braunschweig (Urteil vom 08.05.2003; Aktenzeichen 4 O 2913/02)

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des LG Braunschweig vom 8.5.2003 abgeändert.

Die Beklagte wird über den erstinstanzlich dem Kläger zuerkannten Betrag hinaus verurteilt, an den Kläger weitere 80.000 Euro nebst Zinsen i.H.v. 5 % über dem Basiszinssatz seit dem 23.1.2003 zu zahlen.

Die weiter gehende Berufung wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung i.H.v. 120 % des jeweiligen Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 150.000 Euro bis zum 15.9.2003 (davon entfallen 84.516,75 Euro auf die Berufung des Klägers und 65.483,25 Euro auf die Berufung der Beklagten) sowie auf 84.516,75 Euro seit dem 16.9.2003 festgesetzt.

 

Gründe

I. Der Kläger begehrt von der Beklagten Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes wegen fehlerhafter postnataler Betreuung durch die Ärzte in der Kinderklinik der Beklagten.

Der Kläger wurde am 14.3.1992 um 19:08 Uhr - drei Minuten nach seinem Zwillingsbruder - unter Einsatz einer geburtshilflichen Zange in der 32. Schwangerschaftswoche seiner Mutter im Krankenhaus G. geboren. Während der Geburt stand bereits ein neonatologisches Team der informierten Kinderklinik der Beklagten bereit. Als beim Kläger 15 Minuten nach der Geburt eine stöhnende Atmung einsetzte, wurde er intubiert und beatmet. In diesem Zustand wurde er in die Kinderklinik der Beklagten transportiert. Eine dort um 20:39 Uhr vorgenommene Rötgenuntersuchung ergab, dass der Kläger unter einem mäßig schweren Atemnotsyndrom litt; die Beatmung wurde deshalb fortgesetzt. Eine Röntgenkontrolle des Thorax am 17.3.1992 ließ einen Pneumothorax (Ansammlung von Luft im Brustfellraum) beidseits mit sehr tiefstehenden Zwerchfellen erkennen. Daraufhin nahmen Ärzte in der Kinderklinik der Beklagten eine Thoraxpunktion vor und legten dem Kläger eine Sogdrainage an, die am 19.3.1992 wieder entfernt wurde. Eine Ultraschalluntersuchung seines Schädels am selben Tage ergab, dass Blutungen mit dem Grad I und II im rechten sowie mit dem Grad III und IV im linken Bereich aufgetreten waren.

Die am 21.3.1992 vorübergehend beendete künstliche Beatmung wurde am 25.3.1992 wieder aufgenommen, nachdem der Kläger einen massiven generalisierten cerebralen Anfall erlitten hatte. Am 1.4.1992 wurde die Beatmung endgültig eingestellt.

Der Kläger ist infolge der massiven Hirnblutung und eines posthämorrhagischen Hydrozephalus (sog. Wasserkopf) körperlich und geistig schwerstbehindert. Er leidet an einer spastischen Tetraparese (inkomplette Lähmung aller vier Extremitäten), einer hochgradigen Sehbehinderung, einer Hüftgelenksluxation, einer BNS-Epilepsie und ist mental massiv retardiert.

In allen lebenspraktischen Bereichen ist er vollständig auf Betreuung durch Dritte angewiesen. Er ist nahezu blind und muss - u.a. wegen einer gestörten Mundmotorik - gefüttert werden. Zudem ist der Kläger harn- und stuhlinkontinent und damit auf Windeln angewiesen. Er ist nicht in der Lage, nach Gegenständen zu greifen; eine AugeHandKoordination besteht nicht. Auch im gehaltenen Sitz zeigt der Kläger keine aktive Gleichgewichtsreaktion, seine Kopfkontrolle ist mangelhaft. Er kann sich weder drehen noch selbst lagern. Auf Grund seiner schweren geistigen Behinderung fehlt es dem Kläger an jeglicher Orientierung. Er kann zwar Freude, Angst und Schmerzen empfinden, ist aber zu einer verbalen Kommunikation nicht in der Lage.

Dieser Zustand wird sich Zeit seines Lebens nicht ändern lassen; eine Rehabilitation im Sinne der Erlangung auch nur einzelner Funktionen ist auf Grund der Schwere der Hirnschädigung ausgeschlossen.

Wegen des Hydrozephalus musste dem Kläger im April 1992 ein Shuntsystem (Verbindungssystem zum Ableiten von Flüssigkeit) implantiert werden; zwischen 1993 und 1995 waren operative Eingriffe zur Shuntrevision erforderlich. Zudem musste sich der Kläger bereits zwei ausgedehnten orthopädischen Operationen unterziehen. Seit seiner Geburt waren zahlreiche stationäre Krankenhausaufenthalte erforderlich; der Kläger steht bis heute unter ständiger ärztlicher Kontrolle. Zur Erhaltung seines körperlichen Zustandes ist überdies eine krankengymnastische Behandlung erforderlich.

Die Parteien sind sich seit dem Vorliegen eines Sachverständigengutachtens, das im Schlichtungsverfahren eingeholt worden ist, darüber einig, dass die Behinderungen des Klägers Folgen des schweren Atemnotsyndroms, des Pneumothorax sowie der schweren Hirnblutung sind und dass diese Behinderungen der Beklagten zuzurechnen sind, weil es die Ärzte in ihrer Kinderk...

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