Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung einer Rechtsmittelerklärung gegen ein gemäß § 412 StPO ergangenes Urteil

 

Orientierungssatz

Orientierungssätze:

1. Insbesondere die Rechtsmittelerklärung eines rechtsunkundigen Angeklagten ist anhand ihres Gesamtinhalts und unter Berücksichtigung des erstrebten Erfolges auszulegen.

2. Eine irrtümliche Falschbezeichnung wirkt nicht zu Lasten des Rechtsmittelführers. Im Zweifel gilt unter zur Wahrung des Grundsatzes effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) das Rechtsmittel als eingelegt, das die umfassendere Nachprüfung erlaubt und mit geringeren Begründungsanforderungen verbunden ist.

3. Auslegung einer gegen ein Urteil (§ 412 StPO) gerichteten "Revision" als Berufung.

 

Normenkette

GG Art. 19 Abs. 4; StPO §§ 300, 335 Abs. 1, §§ 344, 345 Abs. 2, § 346

 

Verfahrensgang

AG Berlin-Tiergarten (Entscheidung vom 17.01.2022; Aktenzeichen (310 Cs) 3042 Js 3413/21 (87/21))

 

Tenor

Auf den Antrag der Angeklagten auf Entscheidung des Revisionsgerichts wird der Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten Berlin vom 17. Januar 2022 aufgehoben.

Es wird festgestellt, dass das Rechtsmittel der Angeklagten als Berufung zu behandeln ist.

Die Sache ist zur Entscheidung über die Berufung an das Landgericht Berlin weiterzuleiten.

 

Gründe

I.

Das Amtsgericht Tiergarten hat am 8. Dezember 2021 den Einspruch der Angeklagten gegen den Strafbefehl vom 4. Oktober 2021 verworfen, der wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort gegen die Angeklagte eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 15,00 Euro festgesetzt und ihr für die Dauer von sechs Monaten verboten hat, Kraftfahrzeuge im Straßenverkehr zu führen. Nach den Urteilsfeststellungen ist die Angeklagte in dem Hauptverhandlungstermin trotz ordnungsgemäßer Ladung ohne genügende Entschuldigung ausgeblieben und nicht durch einen Verteidiger vertreten worden. Das Gericht hat die von der Angeklagten am 7. Dezember 2021 eingereichten ärztlichen Bescheinigung vom 6. Dezember 2021, die der Angeklagten "Verhandlungsunfähigkeit" attestiert hat, als keinen ausreichenden Anhaltspunkt für eine genügende Entschuldigung bewertet. Das Urteil ist der Angeklagten am 14. Dezember 2021 zugestellt worden.

Mit an das Amtsgericht gerichtetem Fax vom 17. Dezember 2021 wendet sich die Angeklagte gegen das Urteil und gibt an, dass sie "in Revision gehen" möchte. Als Begründung führt die Angeklagte aus, dass sie dachte, dass das vorgelegte ärztliche Attest ausreichend sei. Die Angeklagte geht auf die Symptomatik und Auswirkungen ihrer Darmerkrankung ein und nimmt auf ihre psychische Störung, die sich in Angstzuständen zeige, Bezug.

Das Amtsgericht hat das Rechtsmittel der Angeklagten als Revision angesehen und diese mit Beschluss vom 17. Januar 2022 als unzulässig verworfen, weil Revisionsanträge und ihre Begründung nicht zu Protokoll der Geschäftsstelle oder in einer von einem Verteidiger oder einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift angebracht worden seien.

Gegen diesen der Angeklagten am 20. Januar 2022 zugestellten Beschluss wendet sie sich mit ihrem Schreiben vom 26. Januar 2022, das am 27. Januar 2022 beim Gericht eingegangen ist, und erhebt "Einspruch".

II.

1. Der "Einspruch" der Angeklagten ist gemäß § 300 StPO als Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts nach § 346 Abs. 2 StPO auszulegen. Denn allein dieser steht der Angeklagten nach der Verfahrenslage als statthafter Rechtsbehelf gegen den Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 17. Januar 2022 zur Verfügung (vgl. KG, Beschluss vom 25. Juli 2012 - (4) 161 Ss 149/12 (184/12) -, juris).

Der Antrag ist zulässig; insbesondere ist er innerhalb der in § 346 Abs. 2 Satz 1 StPO vorgesehenen Wochenfrist gestellt worden.

2. Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg.

Denn das am 17. Dezember 2021 bei dem Amtsgericht eingelegte Rechtsmittel ist - unbeschadet der von der Angeklagten gewählten Bezeichnung als "Revision" - als Berufung zu behandeln, weshalb das Amtsgericht das Rechtsmittel nicht nach § 346 Abs. 1 StPO wegen Nichtbeachtung der Formvorschrift des § 345 Abs. 2 StPO hätte als unzulässig verwerfen dürfen.

a) Als Revisionsgericht, das mit der Sache aufgrund eines Antrags nach § 346 Abs. 2 StPO befasst wird, ist der Senat berechtigt und verpflichtet, die Frage der Zulässigkeit der Revision ohne Beschränkungen nach allen Richtungen zu prüfen (vgl. BGHSt 16, 115; KG, Beschluss vom 25. Juli 2012 a.a.O.; OLG Bamberg, Beschluss vom 8. September 2017 - 2 OLG 6 Ss 99/17 -; OLG Hamm, Beschluss vom 14. Januar 1997 - 2 Ss 1518/96 -; beide juris). Dazu gehört auch die - vorrangige - Frage, ob überhaupt eine (Sprung-)Revision im Sinne des § 335 Abs. 1 StPO vorliegt. Denn nur in diesem Fall kann das Revisionsgericht, wenn es hinsichtlich der amtsgerichtlichen Entscheidung der Meinung ist, dass die Voraussetzungen für die Verwerfungsentscheidung nach § 346 Abs. 1 StPO nicht vorgelegen haben, diese Entscheidung aufheben und dann gegebenenfalls die Überprüfung des angefochtenen Urteils selbst vornehmen. Anderenfalls wäre dem Revisionsgericht diese Überprüf...

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