Entscheidungsstichwort (Thema)
Wettbewerb. Verwaltungsverfahren. Im Rahmen eines nationalen Kronzeugenprogramms vorgelegte Unterlagen und Angaben. Mögliche nachteilige Auswirkungen der Einsichtnahme Dritter in solche Unterlagen auf die Wirksamkeit und das ordnungsgemäße Funktionieren der Zusammenarbeit zwischen den Behörden des Europäischen Wettbewerbsnetzes
Beteiligte
Tenor
Die kartellrechtlichen Bestimmungen der Union, insbesondere die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 101 und 102 AEUV niedergelegten Wettbewerbsregeln, sind dahin auszulegen, dass sie es nicht verbieten, dass eine durch einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht der Union geschädigte und Schadensersatz fordernde Person Zugang zu Dokumenten eines Kronzeugenverfahrens erhält, die den Urheber dieses Verstoßes betreffen. Es ist jedoch Sache der Gerichte der Mitgliedstaaten, auf der Grundlage des jeweiligen nationalen Rechts unter Abwägung der unionsrechtlich geschützten Interessen zu bestimmen, unter welchen Voraussetzungen dieser Zugang zu gewähren oder zu verweigern ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Amtsgericht Bonn (Deutschland) mit Entscheidung vom 4. August 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 9. September 2009, in dem Verfahren
Pfleiderer AG
gegen
Bundeskartellamt
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Ersten Kammer A. Tizzano in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten, der Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts und J.-C. Bonichot sowie der Richter E. Juhász (Berichterstatter), G. Arestis, A. Borg Barthet, M. Ilešič, J. Malenovský, L. Bay Larsen und T. von Danwitz,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. September 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Pfleiderer AG, vertreten durch die Rechtsanwälte T. Kapp, M. Schrödl und M. Kuhlenkamp,
- der Munksjö Paper GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt H. Meyer-Lindemann,
- der Arjo Wiggins Deutschland GmbH, vertreten durch die Rechtsanwältinnen R. Polley und S. Heinz sowie O. Ban als Bevollmächtigte,
- der Felix Schoeller Holding GmbH & Co. KG und Technocell Dekor GmbH & Co. KG, vertreten durch die Rechtsanwälte T. Mäger und D. Zimmer,
- der Interprint GmbH & Co. KG, vertreten durch Rechtsanwalt T. Veltins,
- der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma, J. Möller und C. Blaschke als Bevollmächtigte,
- der belgischen Regierung, vertreten durch J.-C. Halleux als Bevollmächtigten,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und T. Müller als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch J. Rodríguez Cárcamo als Bevollmächtigten,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte, im Beistand von F. Arena, avvocato dello Stato,
- der zyprischen Regierung, vertreten durch D. Kallí als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch Y. de Vries als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Di Bucci, P. Costa de Oliveira und A. Antoniadis als Bevollmächtigte,
- der EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch X. Lewis und M. Schneider als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Dezember 2010
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 und 12 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 [EG] und 82 [EG] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) und Art. 10 Abs. 2 EG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. g EG.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Pfleiderer AG (im Folgenden: Pfleiderer) und dem Bundeskartellamt bezüglich eines Antrags auf umfassende Einsicht in die Akten eines Bußgeldverfahrens wegen eines Kartells im Bereich Dekorpapier. Pfleiderer, die Kundin der mit den Geldbußen belegten Unternehmen ist, hat diesen Antrag auf Akteneinsicht gestellt, der sich auch auf Dokumente des Kronzeugenverfahrens bezieht, um eine zivilrechtliche Schadensersatzklage vorzubereiten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der erste Satz des ersten Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 1/2003 lautet:
„Zur Schaffung eines Systems, das gewährleistet, dass der Wettbewerb im Gemeinsamen Markt nicht verfälscht wird, muss für eine wirksame und einheitliche Anwendung der Artikel 81 [EG] und 82 [EG] in der Gemeinschaft gesorgt werden.”
Rz. 4
Art. 11 („Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten”) der Verordnung Nr. 1/2003 bestimmt:
„(1) Die Kommission und die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten arbeiten bei der Anwendung der Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft eng zusammen.
(2) Die Kommission übermittelt den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten eine Kopie der wichtigsten Sch...