Leitsatz (amtlich)

Aus einem Berufungsurteil, gegen das die Revision stattfindet, muss zu ersehen sein, von welchem Sach- und Streitstand das Gericht ausgegangen ist, welches Rechtsmittelbegehren die Parteien verfolgt haben und welche tatsächlichen Feststellungen der Entscheidung zugrunde liegen. Fehlen solche Darstellungen, hat das Revisionsgericht das Urteil von Amts wegen aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (Fortführung BGH, Urt. v. 30.9.2003 - VI ZR 438/02, BGHZ 156, 216).

 

Normenkette

ZPO §§ 313a, 540; BGB § 254

 

Verfahrensgang

LG Oldenburg (Urteil vom 13.01.2016; Aktenzeichen 5 S 225/15)

AG Westerstede (Urteil vom 16.04.2015; Aktenzeichen 22 C 894/14)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil der 5. Zivilkammer des LG Oldenburg vom 13.1.2016 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Rz. 1

Die Klägerin nimmt den Beklagten nach einem Verkehrsunfall aus § 7 Abs. 1 StVG, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG auf restlichen (Sach-)Schadensersatz in Anspruch.

Rz. 2

Das Fahrzeug der Klägerin wurde im August 2014 bei einem Verkehrsunfall beschädigt. Ein von der Klägerin eingeholtes Sachverständigengutachten wies einen Wiederbeschaffungswert von 13.990 EUR und einen Restwert von 4.000 EUR aus. Die Klägerin veräußerte das beschädigte Fahrzeug, indem sie es beim Kauf eines anderen Fahrzeugs zum im Gutachten ausgewiesenen Restwert in Zahlung gab, ohne dem Beklagten - jedenfalls vor Abschluss der entsprechenden Vereinbarung - Gelegenheit gegeben zu haben, das Unfallfahrzeug besser zu verwerten. Am 5.9.2014 legte der Beklagte ein Restwertangebot über 7.770 EUR vor. Den auf der Grundlage eines Restwerts von 7.770 EUR errechneten Wiederbeschaffungsaufwand i.H.v. 6.220 EUR (13.990 EUR abzgl. 7.770 EUR) ersetzte er der Klägerin. Diese verlangt in der Hauptsache als weiteren Schadensersatz die Differenz zum - auf die Höhe der fiktiven Reparaturkosten beschränkten - Wiederbeschaffungsaufwand bei Zugrundelegung eines Restwerts von 4.000 EUR, insgesamt einen Betrag von 3.740,29 EUR.

Rz. 3

Das AG hat der Klage stattgegeben. Das LG hat das Urteil des AG auf die Berufung des Beklagten abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

I.

Rz. 4

Das Berufungsgericht hat angenommen, zwar sei im Grundsatz davon auszugehen, dass der Geschädigte dem Wirtschaftlichkeitsgebot nachkomme und folglich nicht gegen § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB verstoße, wenn er das Unfallfahrzeug auf der Grundlage eines von ihm eingeholten Sachverständigengutachtens und des darin ausgewiesenen Restwerts verkaufe oder in Zahlung gebe. Der Geschädigte verletze die ihm obliegende Schadensminderungspflicht aber, wenn er das Unfallfahrzeug veräußere, ohne zuvor dem Schädiger oder dessen Kfz-Haftpflichtversicherer Gelegenheit gegeben zu haben, eine günstigere Verwertung als im Gutachten vorgesehen vorzunehmen. Dies gelte jedenfalls, wenn der Geschädigte kein berechtigtes Interesse an einer sofortigen Verwertung habe. Dem Schädiger sei dann nicht zuzumuten, in jedem Falle die Ergebnisse des vom Geschädigten eingeholten Privatgutachtens hinzunehmen. Da die Klägerin im Streitfall keinen vernünftigen Grund vorgetragen habe, das Fahrzeug sofort zu veräußern, sei der Berechnung der Schadensersatzhöhe das vom Beklagten vorgelegte Restwertangebot zugrunde zu legen.

II.

Rz. 5

Die Revision der Klägerin ist schon deshalb begründet, weil das Berufungsurteil eine der Vorschrift des § 540 ZPO entsprechende Darstellung nicht enthält.

Rz. 6

1. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass aus einem Berufungsurteil, gegen das die Revision stattfindet, zu ersehen sein muss, von welchem Sach- und Streitstand das Gericht ausgegangen ist, welches Rechtsmittelbegehren die Parteien verfolgt haben und welche tatsächlichen Feststellungen der Entscheidung zugrunde liegen. Es ist nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, den Sachverhalt selbst zu ermitteln, um abschließend beurteilen zu können, ob die Revision begründet ist (BGH, Urt. v. 30.9.2003 - VI ZR 438/02, BGHZ 156, 216, 218; BGH, Urt. v. 5.3.2015 - I ZR 164/13, NJW 2015, 3309 Rz. 7; jeweils m.w.N.). Fehlen im Berufungsurteil die entsprechenden Darstellungen, leidet es an einem von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel; das Revisionsgericht hat das Urteil in einem solchen Fall grundsätzlich aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (BGH, Urt. v. 30.9.2003 - VI ZR 438/02, a.a.O., 220; BGH, Urt. v. 5.3.2015 - I ZR 164/13, a.a.O., Rz. 8; v. 11.10.2012 - VII ZR 10/11, NJW 2012, 3569 Rz. 6 und 8; Ball in Musielak/Voit, ZPO, 13. Aufl., § 540 Rz. 6a; Hk-ZPO/Wöstmann, 7. Aufl., § 540 Rz. 2; jeweils m.w.N.).

Rz. 7

2. Das angefochtene Urteil wird den dargestellten Erfordernissen nicht gerecht.

Rz. 8

a) Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht von der Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen des AG und der Darstellung etwaiger Änderungen und Ergänzungen unter Anwendung von §§ 540 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO abgesehen. Nachdem das Berufungsgericht die Revision selbst zugelassen hat, lagen die Voraussetzungen für ein Absehen von der von § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich vorgeschriebenen Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil mit Darstellung etwaiger Änderungen und Ergänzungen offensichtlich nicht vor.

Rz. 9

b) Von einer Aufhebung und Zurückverweisung kann im Streitfall auch nicht ausnahmsweise abgesehen werden.

Rz. 10

Von der Aufhebung und Zurückverweisung bei Fehlen eines Tatbestandes und der in § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO genannten Darstellung kann nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zwar ausnahmsweise abgesehen werden, wenn sich die notwendigen tatsächlichen Grundlagen der Entscheidung hinreichend deutlich aus den Gründen des Berufungsurteils ergeben (BGH, Urt. v. 11.10.2012 - VII ZR 10/11, NJW 2012, 3569 Rz. 6). Ein solcher Ausnahmefall liegt im Streitfall aber nicht vor. Aus den Gründen des Berufungsurteils lässt sich kein ausreichendes Bild vom Sach- und Streitstand gewinnen. So fehlen Ausführungen dazu, was die Parteien zum Haftungsgrund vorgetragen haben; dem angefochtenen Urteil lässt sich nicht entnehmen, ob die volle Einstandspflicht des Beklagten auch in der Berufungsinstanz unstreitig war. Zudem wird das Rechtsschutzbegehren der Klägerin nur unvollständig wiedergegeben. So mag sich den Gründen des angefochtenen Urteils noch hinreichend deutlich entnehmen lassen, dass die Klägerin in der Hauptsache Zahlung von 3.740,29 EUR verlangt. Was sich hinter den im Berufungsurteil erwähnten "geltend gemachten Nebenforderungen" verbirgt, ergibt sich aus dem Berufungsurteil aber nicht. Schließlich bleibt auch unklar, ob das Berufungsgericht davon ausgegangen ist, dass sich die Klägerin im Zeitpunkt des Nachweises der alternativen Verwertungsmöglichkeit durch den Beklagten hinsichtlich der Verwertung bereits anderweitig gebunden hatte oder nicht. Denn einerseits stellt es fest, die Klägerin habe das Fahrzeug am 29.8.2014 für 4.000 EUR veräußert, andererseits führt es aus, die Klägerin habe durch den "Kauf eines neuen Fahrzeugs und die Inzahlungnahme des Unfallfahrzeugs" einen Kaufvertrag mit Ersetzungsbefugnis abgeschlossen, weshalb es ihr unbenommen gewesen sei, den Unfallwagen anderweitig zu veräußern und die fehlenden 4.000 EUR als Geldverbindlichkeit zu erfüllen.

III.

Rz. 11

Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:

Rz. 12

Soweit der angefochtenen Entscheidung die Rechtsauffassung zugrunde liegt, ein Geschädigter habe vor dem Verkauf des Unfallfahrzeugs zu dem im von ihm eingeholten Gutachten ermittelten Restwert dem Schädiger oder dessen Haftpflichtversicherer grundsätzlich Gelegenheit zu geben, eine günstigere Verwertung als im Gutachten vorgesehen vorzunehmen, widerspricht dies der gefestigten Rechtsprechung des erkennenden Senats (BGH, Urt. v. 27.9.2016 - VI ZR 673/15, DAR 2017, 19 Rz. 9, 12; v. 6.4.1993 - VI ZR 181/92, VersR 1993, 769, 770). Sollte sich die Klägerin, was - wie dargestellt - im Berufungsurteil unklar bleibt, im Zeitpunkt, in dem ihr das vom Beklagten vorgelegte Restwertangebot über 7.770 EUR bekannt wurde, hinsichtlich der Verwertung des Unfallfahrzeugs noch nicht anderweitig gebunden haben, wird im Hinblick auf ihre Pflicht zur Geringhaltung des Schadens gem. § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB allerdings zu prüfen sein, ob es ihr in der konkreten Situation zumutbar war, von dem Restwertangebot Gebrauch zu machen (vgl. BGH, Urt. v. 1.6.2010 - VI ZR 316/09, NJW 2010, 2722 Rz. 8 ff., m.w.N.).

 

Fundstellen

Haufe-Index 10671489

NJW 2017, 3449

NJW 2017, 9

FamRZ 2017, 1069

FA 2017, 171

JurBüro 2017, 388

DAR 2017, 310

DAR 2017, 379

JZ 2017, 386

MDR 2017, 785

NZV 2017, 336

VRS 2017, 320

VersR 2017, 965

VRA 2017, 97

r+s 2017, 331

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