Tz. 126
Der Geltungsbereich nach § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB umfasst Kapitalgesellschaften, haftungsbeschränkte Personenhandelsgesellschaften gem. § 264a HGB, Genossenschaften (§ 336 Abs. 2 HGB), Kreditinstitute (§ 340a HGB) und Versicherungsunternehmen (§ 341a HGB). Die Vorschrift konkretisiert das für alle Kaufleute geltende Einblicksgebot (§ 238 Abs. 1 Satz 2 HGB). Regelungszweck der Vorschrift ist die Umsetzung des Art. 2 Abs. 3 Jahresabschlussrichtlinie 1978 (inhaltsgleich Art. 4 Abs. 3 Satz 1 Jahresabschlussrichtlinie 2013), der das true and fair view-Prinzip des britischen Rechts zum Vorbild hatte,[316] diesem aber nicht entspricht, sondern einen gemeinschaftsautonomen Begriff bildet.[317] Die Vorschrift ist unter Berücksichtigung dieses Zwecks, aber im systematischen Zusammenhang iVm. § 264 Abs. 2 Satz 2 HGB richtlinienkonform auszulegen.[318]
Die Vorschrift hat einen zweifachen Regelungsinhalt. Zum einen bewirkt sie als Auslegungsmaßstab eine Akzentuierung der GoB, die einen sicheren Einblick in die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage ermöglichen sollen, zu Gunsten einer Abbildung der tatsächlichen Verhältnisse.[319] Einblicksadressaten sind Gesellschafter, Gläubiger, Arbeitnehmer, Unternehmensleitung und die Öffentlichkeit.[320] Die Vorschrift enthält jedoch kein den GoB vorrangiges Prinzip. Die GoB gehen daher auch dann vor, wenn sie ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild verhindern würden.[321] Das ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des BiRiLiG, der Ausgestaltung der einzelnen Bilanzierungsgrundsatze und der Entstehungsgeschichte der Jahresabschlussrichtlinie 1978[322] (vgl. Tz. 78–82) sowie der systematischen Stellung im Verhältnis zu § 264 Abs. 2 Satz 2 HGB. Zum anderen regelt die Vorschrift für das Gesamtbild, das der Jahresabschluss einschließlich des Anhangs von dem Unternehmen vermittelt, den Maßstab für das nach § 264 Abs. 2 Satz 2 HGB geregelte Erläuterungsgebot. Damit bezieht sich der Kern der Vorschrift auf das Jahresabschlusselement Anhang, nicht auf die Bilanz (vgl. Kapitel 3 und vgl. Kapitel 12).
Ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild vermittelt im Regelfall ein Jahresabschluss, der den GoB und den handelsrechtlichen Bilanzierungsvorschriften entspricht. Das ergibt sich aus dem Wortlaut des Satz 2, "Führen besondere Umstände dazu. . ." und der Entstehungsgeschichte der Jahresabschlussrichtlinie. Deshalb stimmen für die Bilanz der Grundsatz der Bilanzwahrheit (vgl. Tz. 109) und das Einblicksgebot gem. § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB denknotwendig überein.[323] Besondere Umstände liegen vor, wenn die nach den GoB und den handelsrechtlichen Bilanzierungsvorschriften in der Bilanz gezeichnete Vermögens-, Finanz- und Ertragslage den Verkehrserwartungen an einen GoB-konformen handelsrechtlichen Jahresabschluss widerspricht. Diese Verkehrserwartungen gehen nicht von einer angloamerikanischen Bilanzierungstradition, sondern von den richtlinienkonformen Bilanzierungsgrundsätzen der GoB aus. Deshalb können auch erhebliche stille Reserven ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild darstellen.[324] Das Anschaffungshöchstwertprinzip gehört zur Verkehrserwartung an einen handelsrechtlichen Jahresabschluss und ist in Art. 6 Abs. 1 lit. i)/Art. 35 der Jahresabschlussrichtlinie 2013/1978 angelegt.[325] Besondere Umstände, die eine Erläuterung im Anhang erfordern sind daher nur solche außergewöhnlichen Umstände, die mit den GoB vertrauten Abschlussadressaten mit der Bilanz über die tatsächlichen Verhältnisse in die Irre leiten würden. Die Verkehrserwartung muss wesentlich von dem Bild des GoB-konformen Jahresabschlusses über die Vermögens-, Finanz- oder Ertragslage abweichen.[326] In diesem Fall sind Erläuterungen sowohl zur Korrektur eines zu günstigen, wie eines zu ungünstigen Bildes im Anhang vorzunehmen.
BEISPIEL
Beispiele für besonderen Umstände i. S. d. § 264 Abs. 2 Satz 2 HGB
- Ungewöhnliche bilanzpolitische Maßnahmen von erheblichem Gewicht[327]
- Sale- and Lease-Back- und Factoring-Gestaltungen allein zum Zwecke der Bilanzkosmetik[328]
- Erhebliche Geldwertveränderungen[329] und Auslandsgewinne aus Staaten mit hoher Inflation von erheblichem Gewicht[330]
- Langfristige Auftragsherstellung, wenn nach GoB keine Möglichkeit besteht, Teilgewinne auszuweisen und dadurch die Periodenabgrenzung verzerrt wird[331]
- Sanierung eines Schuldners nach dem Bilanzstichtag vor Aufstellung des Jahresabschlusses[332]
Tz. 127
Die Vorschrift des § 264 Abs. 2 Satz 4 HGB erlaubt für den Jahresabschluss von Kleinstkapitalgesellschaften, der nach § 264 Abs. 1 Satz 5 HGB keinen Anhang enthält, die nach Satz 2 erforderlichen Angaben unter der Bilanz zu machen.
Demgegenüber regelt § 264 Abs. 2 Satz 5 HGB eine gesetzliche Fiktion, nach der ein unter Berücksichtigung der Erleichterungen für Kleinstkapitalgesellschaften aufgestellter Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ert...
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