Tz. 109

Der Grundsatz der Bilanzwahrheit und Vollständigkeit besagt, dass der Jahresabschluss nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung und den vorrangigen gesetzlichen Bilanzie­rungsvorschriften nichts Falsches enthalten darf und vollständig sein muss. Nicht gemeint ist eine an über­po­sitiv-naturrechtlichen, ausländischen oder internationalen Rechnungs­legungs­standards be­mes­sene ("objektive") Wahrheit.[263] Die GoB verstehen Wahrheit als Pflicht und enthalten deshalb einen normativ-subjektiven Wahr­heitsmaßstab (normativ-subjektiver Fehlerbegriff des Handelsrechts).[264] Eine Bilanz ist wahr i. S. d. der GoB, wenn ein pflicht­ge­mäß und gewissenhaft handelnder Kaufmann nach den ihm zur Verfügung stehenden Möglich­keiten im Zeitpunkt der Aufstellung von der Richtigkeit ausgehen durfte.[265]

 

BEISPIEL

Es verstößt gegen den Grundsatz der Bilanzwahrheit, wenn bei einer Lieferung an den Kaufmann nicht sofort, sondern er nach Rechnungseingang der Wareneingang und die Begründung einer Verbindlichkeit erfasst wird.

Vorgezeichnet ist der Grundsatz der Bilanzwahrheit in Art. 2 Abs. 2 Jahresabschlussrichtlinie 1978 und Art. 4 Abs. 2 Jahresabschlussrichtlinie 2013 (inhaltsgleich: "Der Jahresabschluss [. . .] muß [hat] dieser Richtlinie [zu] entsprechen"). National gesetzlich geregelt ist eine Ausprägung des Wahr­heitsprinzips im Vollständigkeits­grund­satz in § 246 Abs. 1 HGB. Er schreibt vor, dass in der Bilanz sämtliche Vermögens­gegen­stände und Schulden auszuweisen sind. Auf der Aktivseite erfährt dieser Grundsatz Einschrän­kungen durch das Vorsichtsprinzip, etwa mit dem Verbot gem. § 248 Abs. 2 Satz 2 HGB be­stimmte selbst herge­stellte immaterielle Vermögens­gegenstände des Anlagevermögens zu aktivieren (vgl. Kapitel 5). Eine weitere Einschränkung erfährt der Grundsatz der Vollständigkeit durch den Grundsatz der Wesent­lichkeit und Wirt­schaftlichkeit, der etwa erlaubt, Vermögensgegenstände mit einer Nutzungs­dauer von weniger als einem Jahr oder einem Wert von weniger als 150 EUR nicht zu akti­vieren (vgl. Kapitel 5).

[263] Claussen, in KK-RechnR, § 264 HGB Rn. 33; Merkt, in: Baumbach/Hopt, HGB, § 242 HGB Rn. 4–7, vor § 238 HGB Rn. 8–13.
[264] Hennrichs, NZG 2013, 681; Pöschke, in: GroßKo-HGB, § 243 HGB Rn. 8; Schulze-Osterloh, ZHR 179 (2015), 9 (12). Zum abweichenden Feh­ler­begriff in der Finanzrechtsprechung BFH v. 31.1.2013, GrS 1/10, BStBl. II 2013, 317; BFH v. 17.10.2013, IV R 7/11, BFHE 243, 256, BStBl II 2014, 302: Maßgebend sind die für den Bilanzstichtag geltenden Vorschriften in objektiv zutreffender Auslegung.
[265] Hennrichs, NZG 2013, 681 (686); IDW RS HFA 6 Tz. 14; Pöschke, in: GroßKo-HGB, § 243 HGB Rn. 8; Schulze-Osterloh, ZHR 179 (2015), 9 (12).

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