Während Unternehmen Absatzmärkte mit KI prognostizieren, Transportkapazitäten automatisiert disponieren und Zahlungsströme in Echtzeit analysieren, hält sich ein Prozess hartnäckig im analogen Zeitalter: die Inventur. Gerade im Finanzbereich, wo Tempo, Präzision und Verlässlichkeit zählen, erscheint der Aufwand für die jährliche Bestandsaufnahme zunehmend aus der Zeit gefallen: tausende Arbeitsstunden, endlose Inventurlisten, mühsame Abstimmungen. Ein enormer Ressourceneinsatz für einen Prozess, der längst deutlich smarter sein könnte. Denn während viele Geschäftsbereiche längst digital neu gedacht wurden, bleibt die Inventur in vielen Unternehmen ein digitaler Nachzügler.
Die Zeichen der Zeit stehen auf Wandel
Dass im Finanzbereich großes Potenzial für den Einsatz intelligenter Technologien liegt, zeigen aktuelle Studien. Laut KPMG befinden wir uns am Übergang vom digitalen ins KI-Zeitalter. In einer internationalen Befragung unter 1.800 Führungskräften messen 60 % dem Einsatz von KI bereits heute einen hohen bis sehr hohen Wertbeitrag in der Finanzberichterstattung bei. Diese wachsende Offenheit schafft auch für angrenzende Prozesse wie die Inventur die Grundlage für strukturelle Veränderungen.
Zwar haben mobile Scanner und Apps zur Erfassung von Barcodes oder QR-Codes vielerorts das Klemmbrett bereits ersetzt, doch trotzdem bleibt der Ablauf meist noch manuell, aufwendig und fehleranfällig. Selbst etablierte Effizienzansätze wie die Stichprobeninventur, die den Zählaufwand deutlich reduzieren kann, ohne an Aussagekraft oder Revisionssicherheit zu verlieren, werden bislang nur selten genutzt. Nicht weil es an technischen Möglichkeiten fehlt, sondern weil das Verfahren oft wenig bekannt ist oder schlicht keine Priorität erhält. Dabei bietet gerade die Inventur ideale Voraussetzungen, um durch intelligente Technologien grundlegend neu gedacht zu werden.
Gerade weil die Inventur einem klaren, strukturierten Ablauf folgt und in regelmäßigen Intervallen wiederkehrt, ist sie wie gemacht für die Automatisierung. Sie ist der logische erste Schritt auf dem Weg zur intelligenten Bestandsaufnahme. Sensorbasierte Technologien wie RFID-Tags, IoT-Devices oder robotergesteuerte Prozessautomatisierung (RPA) ermöglichen es, manuelle Tätigkeiten systematisch zu digitalisieren. Geräte, Maschinen und Vermögensgegenstände lassen sich automatisch erfassen, Bestände in Echtzeit aktualisieren und Buchwerte systemgestützt abgleichen. Besonders in dezentral organisierten Unternehmen oder bei komplexen Asset-Strukturen kann dies bei gleichzeitig höherer Datenqualität und geringerer Fehleranfälligkeit zu einer massiven Effizienzsteigerung führen.
Die nächste Stufe der Inventur
Automatisierung bringt Tempo und Struktur, KI befähigt Systeme zudem zum Lernen, Interpretieren und Prognostizieren. Mit dem Einsatz lernfähiger Algorithmen kann die Inventur schrittweise zu einem dynamischen Analyseinstrument werden. Statt nur rückblickend zu zählen, liefert KI Hinweise auf Unregelmäßigkeiten, erkennt Auffälligkeiten im Bestand und erstellt Prognosen über zukünftige Entwicklungen. Sie identifiziert etwa ungewöhnlich hohe Schwankungen bei bestimmten Gütern, systematische Buchungsfehler oder risikobehaftete Vermögensgruppen, die besondere Aufmerksamkeit erfordern. Solche Erkenntnisse ermöglichen gezieltere Prüfstrategien, eine stärkere Risikoorientierung und insgesamt eine fundiertere finanzielle Steuerung.
Zudem lernt das System mit jeder durchgeführten Inventur dazu. Feedback, Korrekturen und neue Datenquellen führen dazu, dass die Prognosegenauigkeit und Mustererkennung kontinuierlich besser werden. Dieser selbstoptimierende Kreislauf ermöglicht es Finanzabteilungen, auf Basis der Inventurdaten präzise Rückschlüsse auf das Nutzungsverhalten, den Verschleiß oder die Kapitalbindung zu ziehen. In Verbindung mit ERP-Systemen, digitalen Buchhaltungslösungen und Compliance-Plattformen entsteht so ein integrierter, durchgängig digitaler Inventurprozess.
Spinnt man diesen Gedanken einmal weiter, lässt sich erahnen, wohin die Reise geht. Vielleicht erinnert uns in ein paar Jahren ein KI-Agent daran, dass eine Inventur fällig ist. Ein zweiter Agent fragt gleich hinterher: „Soll ich das übernehmen?“ Und mit einem Klick setzt sich die Maschine in Gang. Autonome Drohnen fliegen durch Lagerhallen, erfassen Bestände per Kamera und Sensorik, gleichen sie mit digitalen Zwillingen in Echtzeit ab, während ein cloudbasierter Algorithmus im Hintergrund Anomalien analysiert, Abweichungen bewertet und Handlungsempfehlungen vorschlägt. Die revisionssichere Dokumentation fließt direkt in das Buchhaltungssystem, der Wirtschaftsprüfer erhält Zugriff auf geprüfte Datensätze und das Management sieht alles übersichtlich auf einem Dashboard.
Mensch und Maschine: Neue Rollen
Doch bei aller Euphorie bleibt eines klar: Die Einführung intelligenter Technologien allein ist kein Selbstläufer. Der Wandel hin zur KI-gestützten Inventur muss eingebettet sein in eine umfassende Digitalstrategie, die nicht nur Systeme, sondern auch Menschen mitnimmt. Denn mit der Veränderung der Prozesse verändern sich auch die Rollen der Mitarbeitenden. Wo früher gezählt wurde, wird heute analysiert. Das bedeutet, dass Fachkräfte künftig stärker in die Interpretation von Daten, in strategische Fragestellungen und in das Management von Ausnahmesituationen eingebunden sind. Gleichzeitig gilt es, Ängste vor Automatisierung abzubauen, Transparenz zu schaffen und digitale Kompetenzen gezielt zu fördern.
Auch rechtliche und prozessuale Fragen müssen bedacht werden. Damit KI-gestützte Inventuren revisionssicher und GoBD-konform ablaufen, müssen sie die Anforderungen an Nachvollziehbarkeit, Datenintegrität und Dokumentation jederzeit erfüllen. Moderne Systeme bieten hierfür zunehmend standardisierte Schnittstellen und integrierte Prüfmechanismen, die sowohl internen als auch externen Auditoren einen vollständigen Überblick ermöglichen. Die Voraussetzung dafür ist jedoch, dass der Einsatz von KI nicht als Insellösung gedacht wird, sondern als integraler Bestandteil eines digital transformierten Finanzwesens.
Die Zukunft ist intelligent
Der technologische Wandel eröffnet somit völlig neue Perspektiven. Aus statischen Werten werden dynamische Kennzahlen, aus reaktiven Prüfungen wird proaktive Steuerung. Unternehmen, die heute in intelligente Inventurlösungen investieren, legen den Grundstein für eine resiliente, agile und datengetriebene Finanzfunktion. Sie gewinnen nicht nur operative Effizienz, sondern auch strategische Handlungsfähigkeit. Denn am Ende geht es nicht mehr nur darum, ob der Wandel kommt. Sondern, wer ihn mutig gestaltet.