Für betroffene Unternehmen bedeutet die Nichteinhaltung der Umsetzungsfrist und ein fehlendes nationales Gesetz jedoch nicht, dass in Deutschland für sie kein Handlungsbedarf besteht. Setzt ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht fristgerecht in nationales Recht um, ist die "Sanktion", dass unter Umständen die unmittelbare Wirkung der Richtlinie innerhalb des Mitgliedstaates eintritt, ohne dass es eines weiteren Umsetzungsaktes bedarf. Die unmittelbare Anwendbarkeit einer Richtlinie ist dann möglich, wenn die Regelungen innerhalb der Richtlinie hinreichend klar und eindeutig bestimmt sind, es also keiner weiteren Konkretisierung bedarf. Nach derzeitigem Stand erfüllt die Whistleblower-Richtlinie die Anforderungen für eine unmittelbare Anwendbarkeit, sodass die Regelungen in weiten Teilen seitdem 17.12.2021 auch ohne Umsetzungsakt der deutschen Bundesregierung Anwendung finden. Bei der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie muss in der Praxis zwischen dem vertikalen und dem horizontalen Verhältnis unterschieden werden.

1.3.1 Vertikales Verhältnis

Das vertikale Verhältnis betrifft das Verhältnis zwischen dem Bürger einerseits und dem Staat andererseits. In diesem Verhältnis ist eine unmittelbare Anwendbarkeit bei hinreichender Bestimmbarkeit der Richtlinie zu bejahen. Das liegt daran, dass die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie eine Sanktion für den Mitgliedstaat darstellt, der seiner Pflicht zur rechtzeitigen Umsetzung nicht nachgekommen ist und davon auch nicht profitieren soll. Die Bürger des Mitgliedstaates sollen keinen Nachteil dadurch erfahren, dass keine rechtzeitige Umsetzung der Regelungen in das nationale Recht erfolgt ist. Für die Praxis bedeutet das seit dem 17.12.2021, dass Bürger sich gegenüber Kommunen und öffentlichen Auftraggebern auf die Regelungen der Whistleblower-Richtlinie berufen können. Achtung: Da es sich bei der unmittelbaren Anwendbarkeit der Regelungen um eine Sanktionierung für den Staat handelt, darf sich die Regierung umgekehrt nicht auf die Wirkung der Regelungen gegenüber den Bürgern berufen.

1.3.2 Horizontales Verhältnis

Im horizontalen Verhältnis stehen sich zwei private Personen gegenüber. Die unmittelbare Anwendbarkeit der Regelungen zwischen Privatpersonen ist in der Justiz stark umstritten. Einige Gerichte sprechen sich mittlerweile auch für eine unmittelbare Anwendbarkeit der Regelungen zwischen Privatpersonen aus, um dem Zweck und Ziel einer erlassenen Richtlinie gerecht werden zu können. Andere Gerichte sprechen sich nach wie vor gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit aus, um Privatpersonen nicht dadurch zu benachteiligen, dass der Mitgliedstaat keine nationalen Regelungen erlassen hat. Für die Anwendbarkeit der Whistleblower-Richtlinie im Privatverhältnis bedeutet das seit dem 17.12.2021, dass keine klare Rechtslage besteht. Im Zweifel sollten betroffene Personen davon ausgehen, dass eine unmittelbare Anwendbarkeit auch im privaten Verhältnis nicht ausgeschlossen werden kann.

1.3.3 Trotz Unklarheit bezüglich der Rechtswirkung der Whistleblower-Richtlinie in Deutschland: Unternehmen sollten handeln

Auch wenn die Rechtslage derzeit eher unklar ist, ob und in welchem Umfang die Regelungen der Whistleblower-Richtlinie Rechtswirkung in Deutschland entfalten können, sollten betroffene Unternehmen sich in jedem Fall mit den Regelungen auseinander setzen und diese zeitnah in ihrem Unternehmen implementieren. Wichtig ist, dass ein nationales Gesetz zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie nunmehr von der Ampel-Koalition angekündigt wurde und auch zeitnah erlassen werden wird, um die bestehenden Rechtsunsicherheiten schnellstmöglich beheben zu können. Da es sich bei der Whistleblower-Richtlinie lediglich um einen Mindeststandard handelt, wird ein etwaiges deutsches Gesetz die Regelungen höchstens erweitern, jedoch keinesfalls unterschreiten. Faktisch gesehen werden die Regelungen der Whistleblower-Richtlinie damit früher oder später in Deutschland Anwendung finden. Betroffene Unternehmen sollten daher schnellstmöglich die entsprechenden Anforderungen umsetzen, insbesondere um nicht von "härteren" Regelungen durch ein nationales Gesetz überfordert zu werden.

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