Die Whistleblower-Richtlinie musste von den einzelnen Mitgliedstaaten bis zum 17.12.2021 in nationales Recht umgesetzt werden. Diese Umsetzungsfrist konnte die deutsche Bundesregierung nicht halten.

1.1 Richtlinien der EU

Bei Richtlinien handelt es sich um Rechtsakte der Europäischen Union, welche zum sekundären Unionsrecht gehören. In der Regel werden Richtlinien auf Vorschlag der Europäischen Kommission, vom Rat der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gemeinsam erlassen. Eine Richtlinie beinhaltet immer einen Mindeststandard an Regelungen, der von den einzelnen Mitgliedstaaten gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) in ihr nationales Recht integriert werden muss. Hierfür wird den Mitgliedstaaten in der Regel eine zweijährige Umsetzungsfrist eingeräumt, um die Regelungen mit dem jeweiligen nationalen Recht abstimmen und im Rahmen eines Gesetzes umsetzen zu können. Der Hintergrund dieser Vorgehensweise liegt darin, dass die Europäische Union keine allgemeingültigen und verbindlichen Regelungen für alle Mitgliedstaaten erlassen kann, da sich die nationalen Gesetze der Mitgliedstaaten größtenteils stark unterscheiden.

1.2 Hinweisgeberschutzgesetz in Deutschland

In Deutschland sollte die Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie durch das "Hinweisgeberschutzgesetz" (HinSchG) erfolgen. Der Referentenentwurf des HinSchG wurde bereits Ende 2020 von dem deutschen Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz (BMJV) vorgelegt. Über den Inhalt des Gesetzesentwurfes kam es in der großen Koalition im Frühjahr 2021 zu keiner Einigung. Hintergrund der Meinungsverschiedenheiten war der konkrete sachliche Anwendungsbereich des Hinweisgeberschutzgesetzes. Die Whistleblower-Richtlinie beschränkt sich aus Gründen der Gesetzgebungskompetenz lediglich auf den Schutz von Hinweisgebern für Meldungen von Verstößen gegen das EU-Recht. Es ist den Mitgliedstaaten aber erlaubt, den sachlichen Anwendungsbereich auch auf das nationale Recht auszuweiten. Die CDU/CSU wollte den Schutz für hinweisgebende Personen nur für Verstöße gegen das EU-Recht gewähren, wohingegen die SPD den Schutz auch auf Verstöße gegen das deutsche Recht ausweiten wollte. Mangels einer Einigung in der großen Koalition ist der Referentenentwurf des HinSchG Ende April 2021 endgültig in der Legislaturperiode gescheitert. Nach Abschluss der Bundestagswahlen hat die Ampel-Koalition bereits im Koalitionsvertrag angekündigt, die Whistleblower-Richtlinie "rechtssicher und praktikabel" in Deutschland umzusetzen. Mit einem entsprechenden Gesetz ist nach derzeitigem Stand im Frühjahr 2022 zu rechnen.

1.3 Konsequenzen für Deutschland

Für betroffene Unternehmen bedeutet die Nichteinhaltung der Umsetzungsfrist und ein fehlendes nationales Gesetz jedoch nicht, dass in Deutschland für sie kein Handlungsbedarf besteht. Setzt ein Mitgliedstaat eine Richtlinie nicht fristgerecht in nationales Recht um, ist die "Sanktion", dass unter Umständen die unmittelbare Wirkung der Richtlinie innerhalb des Mitgliedstaates eintritt, ohne dass es eines weiteren Umsetzungsaktes bedarf. Die unmittelbare Anwendbarkeit einer Richtlinie ist dann möglich, wenn die Regelungen innerhalb der Richtlinie hinreichend klar und eindeutig bestimmt sind, es also keiner weiteren Konkretisierung bedarf. Nach derzeitigem Stand erfüllt die Whistleblower-Richtlinie die Anforderungen für eine unmittelbare Anwendbarkeit, sodass die Regelungen in weiten Teilen seitdem 17.12.2021 auch ohne Umsetzungsakt der deutschen Bundesregierung Anwendung finden. Bei der unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie muss in der Praxis zwischen dem vertikalen und dem horizontalen Verhältnis unterschieden werden.

1.3.1 Vertikales Verhältnis

Das vertikale Verhältnis betrifft das Verhältnis zwischen dem Bürger einerseits und dem Staat andererseits. In diesem Verhältnis ist eine unmittelbare Anwendbarkeit bei hinreichender Bestimmbarkeit der Richtlinie zu bejahen. Das liegt daran, dass die unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie eine Sanktion für den Mitgliedstaat darstellt, der seiner Pflicht zur rechtzeitigen Umsetzung nicht nachgekommen ist und davon auch nicht profitieren soll. Die Bürger des Mitgliedstaates sollen keinen Nachteil dadurch erfahren, dass keine rechtzeitige Umsetzung der Regelungen in das nationale Recht erfolgt ist. Für die Praxis bedeutet das seit dem 17.12.2021, dass Bürger sich gegenüber Kommunen und öffentlichen Auftraggebern auf die Regelungen der Whistleblower-Richtlinie berufen können. Achtung: Da es sich bei der unmittelbaren Anwendbarkeit der Regelungen um eine Sanktionierung für den Staat handelt, darf sich die Regierung umgekehrt nicht auf die Wirkung der Regelungen gegenüber den Bürgern berufen.

1.3.2 Horizontales Verhältnis

Im horizontalen Verhältnis stehen sich zwei private Personen gegenüber. Die unmittelbare Anwendbarkeit der Regelungen zwischen Privatpersonen ist in der Justiz stark umstritten. Einige Gerichte sprechen sich mittlerweile auch für eine unmittelbare Anwendbarkeit der Regelungen zwischen Privatpersonen aus, um dem Zweck und Ziel einer erlassenen R...

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