Leitsatz

1. Der Kindergeldanspruch eines in Deutschland wohnhaften polnischen Staatsangehörigen für sein in Polen im Haushalt eines Pflegeelternteils lebendes Kind kann nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 durch den vorrangigen Kindergeldanspruch des Pflegeelternteils verdrängt werden.

2. Der Begriff der "beteiligten Personen" i.S.d. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist im Hinblick auf das Kindergeld nach dem EStG nach Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i und nicht nach Art. 1 Buchst. i Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 zu bestimmen. Zu den "beteiligten Personen" gehören daher die nach dem nationalen Recht Anspruchsberechtigten und damit auch ein Pflegeelternteil i.S.d. §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG.

3. § 32 Abs. 2 Satz 2 EStG, wonach ein im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandtes Kind, das zugleich ein Pflegekind ist, vorrangig als Pflegekind zu berücksichtigen ist, findet im Kindergeldrecht weder direkt noch analog Anwendung.

 

Normenkette

§ 32 Abs. 1 Nr. 2, § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG, Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i, Art. 1 Buchst. i Nr. 2, Art. 67 EGV 883/2004, Art. 60 Abs. 1 EGV 987/2009

 

Sachverhalt

Der Kläger ist Pole, wohnt seit 2005 in Deutschland und ist hier unternehmerisch tätig. Er ist u.a. Vater des im Februar 1995 geborenen S, der im Haushalt der Schwester und des Schwagers des Klägers in Polen lebt. Die Mutter der Kinder wohnt in Großbritannien.

Die Familienkasse lehnte den Kindergeldantrag des Klägers ab. Das FG Düsseldorf (Urteil vom 28.11.2012, 15 K 4263/11 Kg, Haufe-Index 3642427) verpflichtete die Familienkasse zur Kindergeldfestsetzung für S ab Januar 2007.

 

Entscheidung

Die Revision der Familienkasse führte zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG. Das FG hat im zweiten Rechtsgang die Anspruchsberechtigung für den Zeitraum Januar 2007 bis April nach der VO (EWG) Nr. 1408/71 und der VO (EWG) Nr. 574/72 zu prüfen und zudem aufzuklären, ob die Schwester oder der Schwager des Klägers im Streitzeitraum Mai 2010 bis November 2011 Pflegeeltern des S waren.

 

Hinweis

Das Urteil gehört zu den "Trapkowski-Fällen". In den bisher besprochenen Fällen lebte das Kind im anderen Mitgliedstaat bei der geschiedenen Ehefrau des im Inland wohnenden Klägers (BFH/PR 2016, 276) oder bei einem Großelternteil (BFH/PR 2016, 277); hier wohnt es bei der Schwester und dem Schwager des Klägers.

1. Eltern können Kindergeld für ihre in einem anderen EU- oder EWR-Mitgliedstaat oder der Schweiz lebenden Kinder beanspruchen, müssen aber grundsätzlich selbst über einen inländischen Wohnsitz verfügen (§ 62 Abs. 1 EStG). Das Kindergeld kann aber auch dem mit dem Kind in einem anderen Mitgliedstaat zusammenlebenden Eltern- oder Großelternteil zustehen, weil die dortige Wohnsituation gemäß Art. 67 EGV 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 EGV 987/2009 (fiktiv) ins Inland übertragen wird.

2. Kindergeld kann den Pflegeeltern zustehen. Aus der Verweisung des § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG auf die Pflegekinddefinition des § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG und dem darin verwendeten Begriff des Steuerpflichtigen ist auch nicht zu folgern, dass der Pflegeelternanteil inländische Einkünfte erzielen muss, denn für die Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG genügt bereits ein Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Inland.

3. Kindergeld kann von einem Elternteil auch beansprucht werden, wenn sich sein Kind in einem Pflegekindschaftsverhältnis befindet. Ein im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandtes Kind, das zugleich ein Pflegekind ist, wird zwar nach § 32 Abs. 2 Satz 2 EStGvorrangig als Pflegekind berücksichtigt. Diese Bestimmung findet jedoch im Kindergeldrecht keine Anwendung, da § 63 Abs. 1 Satz 2 EStG nur auf § 32 Abs. 3 bis 5 EStG, nicht jedoch auf § 32 Abs. 2 EStG verweist.

Für die Anwendung des § 32 Abs. 2 EStG besteht im Kindergeldrecht auch kein Bedürfnis. Die Vorschrift soll eine früher mögliche Doppelberücksichtigung von Pflegekindern und angenommenen Kindern beim Kinderfreibetrag vermeiden. Die Doppelberücksichtigung sowohl beim Pflege- als auch beim leiblichen Elternteil wird beim Kindergeld jedoch bereits über § 64 Abs. 1 und Abs. 2 EStG ausgeschlossen.

4. Ob ein Pflegekindschaftsverhältnis besteht, richtet sich auch dann nach deutschem Recht, wenn das Kind im Ausland lebt. Eine etwaige Bestellung zu Pflegeeltern nach ausländischem Recht wäre unerheblich. Nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG hängt das Bestehen eines Pflegekindschaftsverhältnisses u.a. davon ab, dass das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu beiden Elternteilen nicht mehr besteht (BFH, Urteil vom 20.7.2006, III R 44/05, BFH/NV 2007, 17).

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 15.6.2016 – III R 60/12

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