Leitsatz

1. Die Zurücknahme einer Klage ist unwirksam, wenn sie durch den nicht zutreffenden Hinweis des Vorsitzenden Richters des FG veranlasst worden ist, dass die Klage unzulässig sei. Das gilt auch, wenn die Klagerücknahme von einem rechtskundigen Prozessbevollmächtigten erklärt worden ist.

2. Macht der Kläger mit der Beschwerde gegen den zwischenzeitlich ergangenen Einstellungsbeschluss des FG die Unwirksamkeit der Klagerücknahme geltend, ist darin ein Antrag auf Fortsetzung des Klageverfahrens zu sehen.

 

Normenkette

§ 72 Abs. 2 Satz 3 FGO

 

Sachverhalt

Der Kläger hatte gegen die Feststellungsbescheide über den verbleibenden Verlustabzug zum 31.12.1995, zum 31.12.1996, zum 31.12.1997 und zum 31.12.1998 sowie gegen die Einkommensteuerbescheide 1996 bis 1998 persönlich Klage erhoben. Der vorsitzende Richter des FG äußerte gegenüber dem Kläger Zweifel an der Zulässigkeit der gesonderten Anfechtung der Verlustfeststellungsbescheide, wies diesen auf die kostenfreie Rücknahme der Klage hin und stellte in Aussicht, die Klage ansonsten als unzulässig zu verwerfen.

Daraufhin nahm der zwischenzeitlich vom Kläger bestellte Rechtsanwalt die Klage gegen die Verlustfeststellungsbescheide zurück. Der Vorsitzende stellte insoweit das Verfahren ein. Nach Eingang der Einkommensteuererklärungen teilte das FA mit, die Bescheide könnten nicht geändert werden, weil die Klage mangels Beschwer unzulässig sei. Eine Änderung der Verlustfeststellungsbescheide sei wegen der Rücknahme der Klage nicht möglich.

Daraufhin regte der Vorsitzende "zur Bereinigung der verfahrensrechtlichen Situation" an, gegen den Einstellungsbeschluss außerordentliche Beschwerde einzulegen. Nach Einlegung der Beschwerde hob der Vorsitzende den Einstellungsbeschluss auf und beschloss, das Verfahren wegen Verlustfeststellung fortzusetzen. Das FA beantragte, wegen der Wirksamkeit der Klagerücknahme die Klage als unzulässig zu verwerfen. Das FG entschied durch Zwischenurteil, dass die Klage zulässig sei.

 

Entscheidung

Der BFH wies die Revision des FA gegen das Zwischenurteil als unbegründet zurück. Das FG habe zu Recht die Klage als zulässig betrachtet und das Verfahren fortgesetzt. Die Rücknahme der Klage durch den Prozessbevollmächtigten sei unwirksam gewesen, weil dieser durch den vorsitzenden Richter des FG in unzulässiger Weise beeinflusst worden sei.

 

Hinweis

1. Ab dem 1.1.2001 ist aufgrund der Neufassung des § 128 Abs. 2 FGO die Beschwerde gegen einen Einstellungsbeschluss nicht mehr statthaft. Auch die außerordentliche Beschwerde wegen greifbarer Gesetzeswidrigkeit ist seit dem In-Kraft-Treten des § 321a ZPO, der über § 155 FGO im FG-Prozess anwendbar war, nicht mehr statthaft. Mit Wirkung ab dem 1.1.2005 enthält die FGO in § 133a FGO eine dem § 321a ZPO entsprechende Regelung.

Der BFH hat deshalb im Besprechungsfall die außerordentliche Beschwerde, die der Kläger gegen den Einstellungsbeschluss des FG mit der Begründung eingelegt hatte, dass die Klagerücknahme unwirksam sei, als Antrag auf Fortsetzung des Klageverfahrens ausgelegt.

2. Mit der vorliegenden Entscheidung hat der BFH erstmals eine Klagerücknahme als unwirksam angesehen, die von einem sach- und rechtskundigen Prozessbevollmächtigten (hier: von einem Rechtsanwalt) erklärt worden war. In der bisherigen Rechtsprechung war lediglich die von rechtsunkundigen und unerfahrenen Steuerpflichtigen erklärte Rücknahme einer Klage als unwirksam angesehen worden, wenn die Rücknahme durch eine sachlich grob fehlerhafte Belehrung des FA oder des FG veranlasst worden war (vgl. BFH, Beschlüsse vom 19.1.1972, II B 26/69, BStBl II 1972, 352 und vom 26.8.1996, X B 155/95, BFH/NV 1997, 190). Von einem Steuerberater oder Rechtsanwalt hat der BFH auch im Fall einer unzutreffenden amtlichen Belehrung stets verlangt, "in eigener sorgfältiger Überlegung das Prozessrisiko abzuwägen" (vgl. BFH, Urteil vom 26.9.1968, IV 118/64, BStBl II 1969, 52).

Beachten Sie: Diesen Grundsatz der eigenverantwortlichen Prüfung der Rechtslage durch sachkundige Prozessvertreter hat der BFH mit der Entscheidung im Besprechungsurteil nicht aufgegeben. Der BFH betont nämlich ausdrücklich, dass es sich hier um einen Ausnahmefall handelt. Diese Ausnahme hat er deshalb angenommen, weil der Vorsitzende Richter des FG, dem aufgrund seiner Prozessförderungs- und Fürsorgepflicht gegenüber den Beteiligten eine Art "prozessuale Garantenstellung" zukommt, dem Prozessvertreter vor dem Hintergrund -einer verfahrensrechtlich komplizierten Rechtslage die Rücknahme der Klage nahe gelegt hatte.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 6.7.2005, XI R 15/04

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