Sachverhalt

Bei dem belgischen Vorabentscheidungsersuchen ging es um die Ablehnung der Erstattung der MwSt, die gemäß einer Bestimmung des nationalen Rechts auf Leistungen von Osteopathen erhoben wurde, die in der Zwischenzeit teilweise für nichtig erklärt wurde, weil festgestellt wurde, dass sie mit dem Unionsrecht unvereinbar ist. Die Vorlage betraf die Frage, ob ein nationales Gericht auf eigene Initiative und ohne vorherige Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens die Wirkungen einer Bestimmung des nationalen Rechts für die Vergangenheit aufrechterhalten kann, nach der Leistungen von Osteopathen nicht von der Mehrwertsteuer befreit sind und die dieses Gericht teilweise für nichtig erklärt hat, weil sie mit dem Unionsrecht unvereinbar war.

Das Vorlagegericht fragte den EuGH:

I.

Ist das Urteil des Gerichtshofs vom 8.4.1976, 43/75, Defrenne/SABENA, dahin auszulegen, dass es einem nationalen Gericht die autonome Zuständigkeit verleiht, auf eigene Initiative und ohne Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens gem. Art. 267 AEUV auf der Grundlage einer rein innerstaatlichen Bestimmung die Wirkungen einer nationalen Regelung über die Mehrwertsteuerbefreiung für ärztliche und arztähnliche Leistungen für die Vergangenheit aufrechtzuerhalten, die dieses Gericht (nachdem es dazu in derselben Rechtssache nach Art. 267 AEUV drei Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet hat, die der Gerichtshof mit Urteil vom 27.6.2019[1] beantwortet hat) für mit dem Unionsrecht unvereinbar einstuft und teilweise für nichtig erklärt, wobei es deren Wirkungen für die Vergangenheit aufrechterhält und auf diese Weise dem Steuerpflichtigen den Anspruch auf Erstattung der in Widerspruch zum Unionsrecht erhobenen MwSt vollständig vorenthält?

II.

Ist ein nationales Gericht befugt, die Wirkungen einer nationalen Bestimmung, bei der festgestellt wurde, dass sie der MwStSystRL zuwiderläuft, autonom und ohne Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens gem. Art. 267 AEUV auf der Grundlage einer allgemeinen Bezugnahme auf "zwingende Erwägungen der Rechtssicherheit, die sich aus der Gesamtheit der beteiligten öffentlichen und privaten Interessen ergeben", und auf eine behauptete "faktische Unmöglichkeit, zu Unrecht beigetriebene MwSt nachträglich an die Abnehmer der vom Steuerpflichtigen vorgenommenen Lieferungen oder erbrachten Dienstleistungen zurückzuzahlen oder von ihnen eine nachträgliche Zahlung im Falle der rechtswidrigen Nichterhebung zu verlangen, insbesondere wenn es um eine große Zahl nicht näher identifizierter Personen geht bzw. die Steuerpflichtigen nicht über ein buchhalterisches System verfügen, das es ihnen erlaubt, die betreffenden Lieferungen oder Dienstleistungen und ihren Wert nachträglich zu identifizieren", für die Vergangenheit aufrechtzuerhalten, wenn dem Steuerpflichtigen nicht einmal die Möglichkeit gegeben wurde, nachzuweisen, dass keine solche "faktische Unmöglichkeit" vorliegt?

Ursprünglich herrschte in Belgien Unklarheit über die Frage, ob Leistungen von Osteopathen von der MwSt befreit sind oder nicht. Deshalb führte die Klägerin (K) dafür MwSt ab und schlug der Steuerbehörde vor, die Verjährung ihres Anspruchs auf Erstattung dieser MwSt durch Aufnahme in eine korrigierte Mehrwertsteuererklärung zu unterbrechen, was die Steuerbehörde jedoch ablehnte.

Mit Entscheid Nr. 194/2019 vom 5.12.2019 erklärte der Verfassungsgerichtshof Belgiens einige Regelungen von Art. 44 B-MwStG wegen Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht teilweise für nichtig, was zur Folge hatte, dass Leistungen von Osteopathen von der MwSt befreit sind, sofern die betreffenden Dienstleistungserbringer über die erforderlichen Qualifikationen verfügen, um Heilbehandlungen anzubieten, deren Qualität ausreicht, um als mit den Heilbehandlungen, die von den Angehörigen eines reglementierten ärztlichen oder arztähnlichen Berufs angeboten werden, gleichartig angesehen zu werden.

Gleichwohl erhielt der Verfassungsgerichtshof die Wirkungen der für nichtig erklärten Bestimmungen für steuerpflichtige Sachverhalte aufrecht, die sich vor dem 1.10.2019 ereignet hatten. Er begründete die Beschränkung der Rückwirkung seines Entscheids mit zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit, die sich aus der Gesamtheit der beteiligten öffentlichen und privaten Interessen ergäben, insbesondere der faktischen Unmöglichkeit, zu Unrecht beigetriebene MwSt nachträglich an die Abnehmer der vom Steuerpflichtigen vorgenommenen Lieferungen oder erbrachten Dienstleistungen zurückzuzahlen oder von ihnen eine nachträgliche Zahlung im Falle der rechtswidrigen Nichterhebung zu verlangen, insbesondere wenn es um eine große Zahl nicht näher identifizierter Personen gehe bzw. die Steuerpflichtigen nicht über ein buchhalterisches System verfügten, das es ihnen erlaube, die betreffenden Lieferungen oder Dienstleistungen und ihren Wert nachträglich zu identifizieren. In diesem Zusammenhang verwies der Verfassungsgerichtshof auf das EuGH-Urteil vom 8.4.1976, 43/75, Defrenne/SABENA, Rn. 74.

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