Entscheidungsstichwort (Thema)

Steuerbefreiung

 

Normenkette

EGRL 112/2006

 

Beteiligte

Osteopathie Van Hauwermeiren BV

Belgischer Staat

 

Verfahrensgang

Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen (Belgien) (Beschluss vom 30.05.2022; ABl. EU 2022, Nr. C 340/17)

 

Tenor

Ein nationales Gericht hat nicht das Recht, eine nationale Vorschrift anzuwenden, die es dazu ermächtigt, bestimmte Wirkungen einer nationalen Rechtsvorschrift, die es für mit der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem unvereinbar erklärt hat, mit der Begründung aufrechtzuerhalten, dass es nicht möglich sei, zu Unrecht beigetriebene Mehrwertsteuer nachträglich an die Abnehmer der von einem Steuerpflichtigen erbrachten Dienstleistungen zurückzuzahlen, insbesondere wegen der großen Zahl betroffener Personen oder wenn diese Personen nicht über ein buchhalterisches System verfügten, das es ihnen erlaube, diese Dienstleistungen und ihren Wert zu ermitteln.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank van eerste aanleg Oost-Vlaanderen, Afdeling Gent (Gericht Erster Instanz Ostflandern, Abteilung Gent, Belgien) mit Entscheidung vom 30. Mai 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Juni 2022, in dem Verfahren

Osteopathie Van Hauwermeiren BV

gegen

Belgische Staat

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) und der Richterin I. Ziemele,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der Osteopathie Van Hauwermeiren BV, vertreten durch B. Hermans, S. Lippens und L. Van Lembergen, Advocaten,
  • der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, J.-C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte,
  • der spanischen Regierung, vertreten durch I. Herranz Elizalde als Bevollmächtigten,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaitė und W. Roels als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 267 AEUV.

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Osteopathie Van Hauwermeiren BV und dem belgischen Staat über ein Protokoll sowie über einen Steuer- und Nacherhebungsbescheid für die für den Zeitraum von 2013 bis 2019 geschuldete Mehrwertsteuer, über eine Geldbuße und Zinsen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Art. 132 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

c) Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe durchgeführt werden”.

Belgisches Recht

Rz. 4

Art. 44 des Wetboek van de belasting over de toegevoegde waarde (Belgisch Staatsblad, 17. Juli 1969, S. 7046, im Folgenden: Mehrwertsteuergesetzbuch) sieht vor, dass bestimmte Dienstleistungen von der Mehrwertsteuer befreit sind.

Rz. 5

Art. 8 der Bijzondere wet van 6 januari 1989 op het Grondwettelijk Hof (Sondergesetz vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof) (Belgisch Staatsblad, 7. Januar 1989, S. 315) ermächtigt den Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof, Belgien), bestimmte Wirkungen einer Rechtsvorschrift, die er für nichtig erklärt, bestehen zu lassen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rz. 6

Osteopathie Van Hauwermeiren ist eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die vom 1. Januar 2006 bis zum 30. September 2020 der Mehrwertsteuer für die wirtschaftliche Tätigkeit „Sonstiges Gesundheitswesen” unterlag.

Rz. 7

Mit Entscheidung vom 28. September 2017 hatte der Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof) dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, die sich insbesondere auf die auf osteopathische Tätigkeiten anwendbare nationale Steuerregelung und auf die Auslegung von u. a. Art. 132 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112 bezogen sowie auf die Möglichkeit für ein nationales Gericht, eine nationale Vorschrift anzuwenden, die es dazu ermächtigt, bestimmte Wirkungen eines für nichtig erklärten Rechtsakts aufrechtzuerhalten, um die Wirkung nationaler Vorschriften, die es für mit dieser Richtlinie unvereinbar erklärt hat, bis zur Herstellung ihrer Vereinbarkeit mit der Richtlinie vorläufig bestehen zu lassen.

Rz. 8

Der Gerichtshof hat diese Fragen in seinem Urteil vom 27. Juni 2019, Belgisch Syndicaat van Chiropraxie u. a. (C-597/17, EU:C:2019:544), beantwortet.

Rz. 9

Im Nachgang dieses Urteils erklärte der Grondwettelijk Hof (Verfassungsgerichtshof) in seinem Urteil vom 5. Dezember 2019 Art. 44 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzbuchs für nichtig, da diese Bestimmung nicht zulasse, die Mehrwe...

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