Leitsatz (amtlich)

1. Eine Haftung des Fahrzeugherstellers in einem sogenannten Dieselfall aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6, 27 EG FGV oder i.V.m. Vorschriften der VO (EG) Nr. 715/2007 oder der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 692/2008 kommt nicht in Betracht, da diese Normen keine Schutzgesetze im Sinn von § 823 Abs. 2 BGB sind.

2. Unterstellt man zugunsten des Klägers, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2007/46/EG auch den Schutz eines Fahrzeugerwerbers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrages bezwecken, scheitert die Einordnung der §§ 6, 27 EG-FGV, der Vorschriften der VO (EG) Nr. 715/2007 oder der Durchführungsverordnung (EG) Nr. 692/2008 als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB dennoch daran, dass die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs weder sinnvoll noch im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheint.

 

Normenkette

BGB § 823 Abs. 2, §§ 826, 831; EG-FGV §§ 6, 27

 

Verfahrensgang

LG Stuttgart (Urteil vom 10.10.2019; Aktenzeichen 29 O 366/18)

 

Tenor

1. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 10.10.2019, Az. 29 O 366/18, abgeändert. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Anschlussberufung des Klägers wird zurückgewiesen.

3. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits in beiden Instanzen zu tragen.

4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn diese nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils beizutreibenden Betrages leistet.

5. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.

Beschluss

Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf bis 45.000,00 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I. Der Kläger verlangt von der Beklagten Schadensersatz wegen des Erwerbs des streitgegenständlichen Fahrzeugs, da dieses von der Beklagten mit unzulässigen Abschalteinrichtungen versehen worden sei.

1. Der Kläger kaufte das streitgegenständliche Fahrzeug XY, im Juli 2011 als Neufahrzeug von der Beklagten zum Preis von 42.500,00 EUR.

Das Fahrzeug wurde von der Beklagten hergestellt, ist mit einem Motor mit der Bezeichnung OM 651 ausgestattet und verfügt über eine EG-Typgenehmigung nach der Schadstoffklasse Euro 5. Es ist von einem Rückrufbescheid des Kraftfahrt-Bundesamts (KBA) wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung betroffen, der im Oktober 2019 - nach Schluss der mündlichen Verhandlung in erster Instanz - erlassen wurde.

In dem Fahrzeug kommt eine Abgasrückführung (AGR) zur Anwendung, bei der das im Rahmen der Verbrennung entstandene Abgas in den Brennraum zurückgeleitet wird und somit erneut an der Verbrennung teilnimmt, was sich mindernd auf die Stickoxidemissionen (NOx-Emissionen) auswirkt. Die AGR arbeitet bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug u.a. temperaturgesteuert, wird also beim Unterschreiten einer Schwellentemperatur reduziert (sog. "Thermofenster"). Die technischen Details und die rechtliche Bewertung dieser Funktion sind streitig.

Weiter ist die Funktion "geregeltes Kühlmittelthermostat" (auch "Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung", daher im Weiteren KSR) implementiert. Die verzögerte Erwärmung des Motors führt bei aktivierter KSR zu niedrigeren NOx-Emissionen. Auch hinsichtlich dieser Funktion ist streitig, wann bzw. unter welchen Umständen sie abgeschaltet wird und wie dies sodann rechtlich zu bewerten ist. Der o.g. Bescheid des KBA ist mit der Feststellung einer Abschaltbedatung dieser Funktion begründet, die das KBA für unzulässig hält. Die Beklagte hat gegen diesen Bescheid Widerspruch eingelegt und nach Zurückweisung desselben Anfechtungsklage erhoben; über diese ist noch nicht entschieden.

Mit Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 09.10.2018 (Anl. K 3) machte der Kläger gegenüber der Beklagten Schadensersatzansprüche geltend und erklärte die Anfechtung des Kaufvertrages wegen arglistiger Täuschung sowie den Rücktritt vom Kaufvertrag wegen erheblicher Mängel.

Am 27.11.2022 wies das Fahrzeug eine Laufleistung von 133.053 km auf.

2. In erster Instanz hatte der Kläger vorgetragen,

sämtliche zwischen 2006 -2017/2018 verkauften Dieselfahrzeuge der Beklagten überschritten die Grenzwerte der Euro 5 und Euro 6 Norm im Realbetrieb sowie auf dem "realen Prüfstand" (ohne illegale Beeinflussung) teilweise massiv, wie sich aus durchgeführten Messungen u.a. des Bundesverkehrsministeriums, der Deutschen Umwelthilfe und des Umweltbundesamtes in Zusammenarbeit mit der TU G. ergebe. Die Messwerte belegten, dass die Beklagte eine Software verwendet habe, durch die das Verhalten des Fahrzeugs bei Erkennen einer Prüfsituation grundsätzlich anders gesteuert werde als im Realbetrieb. Der Prüfmodus werde aufgrund der Konditionierung des Fahrzeugs für den NEFZ erkannt und so angepasst, dass hierbei die Schadstoffreduktion für die Dauer der Prüfung maximal effektiv erfolge. Außerhalb des Prüfzyklus sei das nicht der Fall.

Das im streitgegenständlichen Fahrzeug enthaltene Thermofenster sei so gestaltet, dass die ...

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