Rz. 102

Das erste sachlich begründete Wahlrecht bei der Vollkonsolidierung von Tochterunternehmen besteht gem. § 296 Abs. 1 Satz 1 HGB dann, wenn erhebliche und andauernde Beschränkungen die Ausübung der Rechte des Mutterunternehmens in Bezug auf das Vermögen oder die Geschäftsführung dieses Unternehmens nachhaltig beeinträchtigen. Dieses Wahlrecht korrespondiert mit den in § 290 Abs. 2 HGB kodifizierten Festlegungen, wann stets ein beherrschender Einfluss eines Mutterunternehmens vorliegen soll. Auch diese Lösung ist rechtssystematisch als problematisch anzusehen, da in § 290 Abs. 1 HGB die Beherrschungsmöglichkeit die Voraussetzung für ein Mutter-Tochter-Verhältnis ist. Es ist somit der Fall denkbar, dass ein Mutterunternehmen die Stimmrechtsmehrheit besitzt, aufgrund eines bestehenden und nicht änderbaren Beherrschungsvertrags aber keinen beherrschenden Einfluss ausüben kann. Eigentlich müsste gar nicht bis § 296 HGB geprüft werden, wenn bereits nach § 290 Abs. 1 HGB die Beherrschungsmöglichkeit verneint würde.[1] Daher kann diese Vorschrift als Widerlegungsklausel verstanden werden (DRS 19.81), wenngleich durch die zusätzliche in § 290 HGB explizierte Voraussetzung der Beherrschungsmöglichkeit diese Widerlegung nur noch sehr selten greifen dürfte. Besteht eine Beherrschungsmöglichkeit nicht, so kann nach der hier vertretenen Auffassung auch kein Mutter-Tochter-Verhältnis vorliegen und es kommt somit auch gar nicht zu einem Anwendungsfall für § 296 Abs. 1 Nr. 1 HGB.[2] Durch das Konsolidierungswahlrecht soll gewährleistet werden, dass in den Konzernabschluss nur Tochterunternehmen einbezogen werden, die tatsächlich zum Einflussbereich des Mutterunternehmens gehören, bei denen also das Mutterunternehmen seine ihm zustehenden Rechte auch tatsächlich ausüben kann, nicht aber tatsächlich ausüben muss.[3] Voraussetzungen für das Vollkonsolidierungswahlrecht, die kumulativ zu erfüllen sind und jeweils restriktiv ausgelegt werden, sind:

  • Die Art der Beeinträchtigung muss in der Beschränkung der Ausübung der Rechte bezüglich Vermögen oder Geschäftstätigkeit liegen.
  • Das Ausmaß der Beeinträchtigung muss sich auf erhebliche Beschränkungen beziehen.
  • Der Zeitraum der Beeinträchtigung muss nachhaltig und andauernd sein.

Denkbar sind somit lediglich Anwendungen in Grenzbereichen, wenn es etwa um die Frage der Abgrenzung der andauernden Beeinträchtigung geht.

 

Rz. 103

Die Beschränkungen des Mutterunternehmens in Bezug auf die Geschäftsführung oder das Vermögen des Tochterunternehmens können restriktiv ausgelegt, i. d. R. nur tatsächlicher Natur[4] sein, wie die Eröffnung von Zwangsverwaltungs- oder Konkursverfahren und Auswirkungen politischer Verhältnisse, wie Tätigkeitsverbote für Ausländer in Geschäftsorganen, Kriegswirren oder staatliche Produktionsbeschränkungen.

 
Praxis-Beispiel

Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Einbeziehung von Tochterunternehmen

International agierende Unternehmen gerieten durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine in ein enormes moralisches Dilemma – einerseits wurde die Forderung nach einem möglichst sofortigen Rückzug aller Aktivitäten aus Russland erhoben, andererseits mussten die daraus resultierenden Folgen für die dortigen Mitarbeiter und Kunden bedacht werden.

In diese hochproblematische Gemengelage schafft die staatliche Regulierung schnell Fakten, an denen die betroffenen Unternehmen nicht mehr vorbeikamen. So durften etwa US-Unternehmen und deren Beteiligungen lt. US-Gesetz seit dem 23.6.2022 keine Steuern mehr an den russischen Staat zahlen. Doch wenn russische Unternehmen keine Steuern mehr bezahlen, drohen strafrechtliche Konsequenzen für die Geschäftsführung. Dieses Dilemma ist nur dadurch zu lösen, dass die Verbindungen zu dem russischen Tochterunternehmen gekappt werden – notfalls indem die Anteile verschenkt werden müssen.

Für die Rechnungslegung ist zu unterscheiden, ob die Beteiligung an dem verbundenen Unternehmen bereits formal abgegeben wurde oder ob die Anteile ggf. aufgrund der ausstehenden formalen Umsetzung der Übertragung noch gehalten werden.

Im Konzernabschluss ist die Übertragung der Anteile auf einen anderen Eigentümer als erfolgswirksame Entkonsolidierung zu behandeln, da das Tochterunternehmen aus dem Konsolidierungskreis ausgeschieden ist.

Sollten die Anteile weiter vom Mutterunternehmen oder einem Tochterunternehmen gehalten werden, so käme durch die Sanktionsmaßnahmen das Einbeziehungswahlrecht nach § 296 Abs. 1 HGB in Betracht, da erhebliche und andauernde Beschränkungen die Ausübung der (formalrechtlich ggf. fortbestehenden) Rechte des Mutterunternehmens in Bezug auf das Vermögen oder die Geschäftsführung des Tochterunternehmens nachhaltig beeinträchtigen (DRS 19.82), insbesondere Beschränkungen infolge (ggf. drohender) staatlicher Zwangsmaßnahmen (DRS 19.85 Buchst. d).

Zudem könnten auch in diesen Konstellationen Probleme der Datenbeschaffung geltend gemacht werden, die das Konsolidierungswahlrecht nach § 296 Abs. 1 Nr. 2 HGB anwendbar macht.

Vor...

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