Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirksamkeit der Rücknahme eines Einspruchs

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Rücknahme eines Einspruchs ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung des Einspruchsführers, die mit hinreichender Deutlichkeit zum Ausdruck bringt, dass der Einspruch nicht weiter verfolgt wird. Wie jede Willenserklärung unterliegt auch diese den Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB. Maßgeblich ist hierfür, wie das FA als Erklärungsempfänger den objektiven Erklärungswert des Rücknahmeschreibens verstehen musste. Dabei sind auch Umstände in Betracht zu ziehen, die sich nicht aus dem Rücknahmeschreiben selbst ergeben, die jedoch der entscheidenden Behörde und ggf. den anderen Verfahrensbeteiligten (z. B. aufgrund mündlicher Erklärungen des Einspruchsführers) bekannt sind. Ebenso ist auf die Steuerakten zurückzugreifen.

2. Im Hinblick auf die einschneidenden Folgen der Rücknahme für den Rechtsschutz des Steuerpflichtigen, die bei Ablauf der Einspruchsfrist zur Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts führt, gebietet die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, im Zweifelsfall die Erklärung dahingehend auszulegen, dass der Einspruch nicht zurückgenommen werden sollte.

3. Eine wirksam gewordene Rücknahme ist grundsätzlich wegen ihrer unmittelbaren Gestaltungswirkung weder widerruflich noch nach den zivilrechtlichen Vorschriften über Willenserklärungen, auch nicht wegen Irrtums, anfechtbar.

4. Eine rechtlich offensichtlich unzutreffende Auskunft oder Belehrung des FA kann die Unwirksamkeit der Rücknahme des Einspruchs nur begründen, sofern die Rücknahmeerklärung durch die Finanzbehörde veranlasst worden ist.

5. Die Rücknahmeerklärung ist auch nicht ausnahmsweise deswegen unwirksam, weil das FA einen unzutreffenden rechtlichen Hinweis über die Erfolgsaussichten des Einspruchs erteilt hat.

 

Normenkette

AO § 80 Abs. 1 Sätze 1-2, § 362 Abs. 2 Sätze 1-2, § 357 Abs. 1

 

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.

2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger.

 

Tatbestand

I.

Der Kläger wird zusammen mit seiner Ehefrau beim Beklagten (dem Finanzamt – FA –) zur Einkommensteuer veranlagt. Beide erzielten im Streitjahr Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit sowie aus Vermietung und Verpachtung und sonstige Einkünfte. Daneben erzielte der Kläger noch Einkünfte aus Kapitalvermögen und aus privaten Veräußerungsgeschäften.

In der Einkommensteuererklärung 2000, bei deren Anfertigung der Steuerberater und Wirtschaftsprüfer S mitgewirkt hat, erklärte der Kläger darüber hinaus Einkünfte aus Gewerbetrieb nach § 17 Einkommensteuergesetz (EStG) aus der Veräußerung von 120.000 Aktien in Höhe von 1.934.321 DM. Diesen Gewinn berücksichtigte das Finanzamt erklärungsgemäß im Einkommensteuerbescheid 2000 vom 31. Juli 2002.

Dagegen legte der Kläger am 3. August 2002 Einspruch ein. Er trug vor, dass sein Steuerberater S eine ausführliche Begründung des Sachverhalts übersenden werde und dass er S die Vollmacht erteile, seine Interessen gegenüber dem FA zu vertreten.

Am 7. August 2002 teilte S dem FA bezugnehmend auf den Einspruch des Klägers mit, das durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2001 die Wesentlichkeitsgrenze des § 17 EStG von vorher 25 % auf 10 % ab dem 1. Januar 1999 abgesenkt worden sei. In R 140 Abs. 2 EStR werde geregelt, dass auch derjenige als wesentlich beteiligt gelte, der vor dem 1. Januar 1999 zu weniger als 25 %, aber mindestens zu 10 % beteiligt sei. Das Finanzgericht Baden-Württemberg habe in seinem Beschluss vom 8. Dezember 2000 (9 V 85/00, DStR 2001, 119) entschieden, dass gegen die Rechtmäßigkeit der Anwendung der R 140 Abs. 2 EStR ernsthafte Zweifel bestünden. S führte weiter aus: „Unter Berufung auf die genannte Entscheidung und die Verfügung der OFD Düsseldorf vom 5. November 2001 S 2244-51-St 122-K legen wir diesbezüglich gegen den Einkommensteuerbescheid 2000 Einspruch ein.”

Am 3. September 2002 beantragte S unter Bezugnahme auf den Einspruch des Klägers das Ruhen des Rechtsbehelfsverfahrens, bis über das beim Bundesfinanzhof – BFH – unter dem Az. VIII R 25/02 anhängige Revisionsverfahren (nachfolgendes Verfahren beim Bundesverfassungsgericht – BVerfG – 2 BvR 748/05) entschieden sei.

Der Einkommensteuerbescheid 2000 wurde mehrmals aus hier nicht streitigen Gründen geändert, zuletzt mit Bescheid vom 14. November 2003. Diese Bescheide wurden dem Kläger und seiner Ehefrau bekanntgegeben.

Am 10. Mai 2011 teilte das FA S – den Kläger und seine Ehefrau betreffend, unter Bezugnahme auf die Steuernummer xxxx und die Identifikationsnummern des Klägers und seiner Ehefrau mit, dass sich der Einspruch vom 3. August 2002 gegen den Einkommensteuerbescheid 2000 in Bezug auf die Besteuerung eines Veräußerungsgewinns nach § 17 EStG richte. Der Einspruch habe bisher antragsgemäß bis zur Entscheidung des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit der rückwirkenden Absenkung der Beteiligungsgrenze geruht. Das BVerfG habe mit Beschluss vom 7. Oktober 2010 über die Verfahren 2 BvR 748/05, 2 BvR 753/05 und 2 BvR 1738/05 (BFHE 209, 275, BStBl II 200...

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