Leitsatz (redaktionell)

1. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (Krankheit und eingeschränkteBelastbarkeit des Geschäftsführers bei gleichzeitigen persönlichen Schicksalsschlägen und existentiell vorrangigen Aufgaben).

2. Änderung wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen mangels Verschulden des Geschäftsführers in persönlicher Ausnahmesituation.

3. Billigkeitsgesichtspunkt existentiellen Rückschlags in Russland.

 

Normenkette

AO §§ 110, 163

 

Tatbestand

In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist zwischen den Beteiligten streitig, ob für den verspätet eingegangenen Einspruch gegen den Bescheid betreffend Umsatzsteuer 1993 und Verspätungszuschlag zur Umsatzsteuer 1993 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.

Die Klägerin verkauft Werbezeiten im Fernsehen und Radio in einer russischen Großstadt. Nach Intendantenwechsel bei dem – an der Klägerin zu 49 % beteiligten – Fernsehen wurden am 28. Dezember 1992 widerrechtlich die Geschäftsräume der russischen Betriebsstätte der Klägerin auf Veranlassung der Intendantin geschlossen sowie Geschäftseinrichtung und -unterlagen beschlagnahmt. Diesbezügliche zivilrechtliche und politische Auseinandersetzungen – einschließlich Einschaltung des dortigen Bürgermeisters, der dortigen Staatsanwaltschaft, des deutschen Bundeskanzleramts, des auswärtigen Amts, der Handelskammer Hamburg, der Zivil- und Schiedsgerichtsbarkeit – sind noch nicht abgeschlossen (Finanzgerichtsakte –FG-A– Bl. 9, 34, 39, 86 ff).

Der Geschäftsführer der Klägerin erlitt am 10. Februar 1995 einen Herzinfarkt und wurde deswegen stationär vom 10. Februar 1995 bis zum 5. März 1995 in einem Krankenhaus in Hannover und ab dem 13. März 1995 in einer Rehabilitationsklinik in Ostholstein behandelt (Arztberichte, Umsatzsteuerakte –USt-A– Bl. 28 f, 30 ff).

In der Nacht zum 8. April 1995 brannte sein Wohnhaus. Dieses wurde dadurch nahezu unbewohnbar, so daß er für seine Familie bzw. seine Kinder eine neue Bleibe suchen mußte. Auf eigenen Wunsch wurde er daher am 8. April 1995 vorzeitig aus der Rehabilitationsklinik in die hausärztliche Betreuung entlassen (FG-A Bl. 30 ff, 37 f).

Ohne vorherige Anmahnung der Umsatzsteuer-Erklärung 1993 schätzte das ursprünglich zuständig gewesene und zuerst beklagte Finanzamt (FA) für Körperschaften Hamburg-… mit Bescheid vom 10. April 1995 die Besteuerungsgrundlagen für die Umsatzsteuer 1993. Dabei ging das FA von 1 Mio DM Umsatz mit 15 % Umsatzsteuer und 50 % Kosten mit 15 % Vorsteuer aus; es differenzierte nicht zwischen Umsätzen im Inland und im Ausland (vgl. Körperschaftsteuer-Akte –KSt-A– Bl. 18). Danach betrug die geforderte Umsatzsteuer 75.000 DM. Eine Nachprüfung wurde nicht vorbehalten. Daneben setzte das FA wegen der Nichtabgabe der Steuererklärung einen Verspätungszuschlag von 1.000 DM fest. Der Bescheid wurde am 10. April 1995 zur Post gegeben (USt-A Bl. 11).

Einspruch wurde nicht innerhalb der Rechtsbehelfsfrist eingelegt, die – drei Tage nach Postaufgabe – am 13. April 1995 begann und normalerweise einen Monat später abgelaufen wäre, sich jedoch wochenendbedingt von Sonnabend, den 13. Mai 1995, bis Montag, den 15. Mai 1995, verlängerte.

An diesem Tag war der Bürgermeister der russischen Großstadt zu Gast in der Handelskammer Hamburg, wo der Geschäftsführer der Klägerin sich an ihn wenden und ihm ein Schreiben mitgeben konnte (FG-A Bl. 88).

Die als Prokuristin den Geschäftsführer bei der Durchsicht der Geschäftspost unterstützende und vertretende 83-jährige Schwiegermutter des Geschäftsführers stürzte am 12. April 1995 und wurde dadurch zum dauernden Pflegefall (FG-A Bl. 31, 38; Arztberichte, FG-A Bl. 43, 44). Sie kam zeitweise in stationäre Behandlung (ärztliche Diagnose, FG-A Bl. 42). Am 26. April 1995 erlitt sie einen erneuten schweren Schlaganfall. Seitdem konnte sie nicht mehr sprechen und nur eingeschränkt verstehen (ärztliches Attest, USt-A Bl. 33). Sie starb am 24. Juni 1995 (Sterbeurkunde, USt-A Bl. 36).

Der herzkranke Geschäftsführer wurde weiter in Hamburg stationär vom 30. April 1995 bis zum 1. Mai 1995 und vom 7. bis 19. Oktober 1995 sowie ambulant u.a. am 10. Mai, 6. und 7. Juni 1995 behandelt (ärztliche Diagnosen, USt-A Bl. 34, 35, 37). In den Zeiträumen vor und nach seinen stationären Behandlungen in 1995 war er nicht voll belastbar (ärztliche Bescheinigung FG-A Bl. 40).

Die Klägerin legte erst am 19. Mai 1995 Einspruch gegen den Umsatzsteuerbescheid 1993 und Beschwerde gegen den Verspätungszuschlag ein (USt-A Bl. 21).

Zwischenzeitlich waren bei der Klägerin anderweitige Bescheide des FA vom 10. April, 4. Mai und 24. Mai 1995 eingegangen; diese wurden ebenfalls am 19. Mai 1995 angefochten (KSt-A Bl. 37).

Die Klägerin reichte ihre Umsatzsteuererklärung 1993 am 3. Juni 1996 nach (USt-A Bl. 22). Am 5. Juni 1995 begründete sie ihren Einspruch in dieser Sache und beantragte wegen der Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Krankheit des Geschäftsführers nach seinem Herzinfarkt. Nach Krankenhausaufenthalt, Rehabilitations- und Schonzeit habe ...

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