Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtliches Gehör auch bei Entscheidung über Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör.

 

Leitsatz (redaktionell)

Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ein Recht darauf, daß er Gelegenheit erhält, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern, vor Gericht Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen. Dies gilt auch für das Verfahren bei Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag. Zwar schreibt die Zivilprozeßordnung die Anhörung der Gegenpartei nicht ausdrücklich vor; die Pflicht zur Anhörung folgt jedoch unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; ZPO §§ 230, 238

 

Verfahrensgang

LG Wiesbaden (Beschluss vom 21.06.1982; Aktenzeichen 8 S 168/82)

 

Tenor

1. Der Beschluß des Landgerichts Wiesbaden vom 21. Juni 1982 – 8 S 168/82 – verletzt Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Wiesbaden zurückverwiesen.

2. Das Land Hessen hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Beklagten des Ausgangsverfahrens wohnen im Hause des Beschwerdeführers zur Miete. Durch Urteil des Amtsgerichts Wiesbaden vom 14. Dezember 1981 wurden die Beklagten auf Antrag des Beschwerdeführers verpflichtet, Gegenstände auf dem Dachboden und unter der Kellertreppe zu entfernen und die Treppe vom Erdgeschoß zum ersten Obergeschoß regelmäßig zu reinigen. Das Urteil wurde den Parteien am 24. März 1982 zugestellt.

Am 26. April 1982 beantragten die Beklagten beim Landgericht Wiesbaden die Gewährung von Prozeßkostenhilfe für die Berufungsinstanz. Durch Beschluß vom 1. Juni 1982 gab das Landgericht diesem Antrag statt, ohne daß der Beschwerdeführer zu dem Antrag gehört worden war.

Mit Schriftsatz vom 15. Juni 1982, eingegangen bei Gericht am 16. Juni 1982, beantragten die Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist. Gleichzeitig legten sie Berufung ein und begründeten diese. Durch Beschluß vom 21. Juni 1982 entsprach das Landgericht dem Wiedereinsetzungsgesuch, ohne zuvor dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Der Wiedereinsetzungsbeschluß wurde dem Beschwerdeführer am 5. Juli 1982 zugestellt.

Über die Berufung der Beklagten hat das Landgericht noch nicht entschieden.

II.

1. Mit der fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG. Zur Begründung weist er darauf hin, daß das Landgericht den Wiedereinsetzungsbeschluß ohne seine vorherige Anhörung erlassen habe. Bei Gewährung rechtlichen Gehörs hätte er geltend gemacht, daß die Angaben der Beklagten über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse unzutreffend seien und daß sie demnach die Einlegung der Berufung nicht von der Bewilligung der Prozeßkostenhilfe abhängig machen durften.

2. Der Hessische Ministerpräsident und die Beklagten des Ausgangsverfahrens haben sich zu der Verfassungsbeschwerde geäußert:

Der Hessische Ministerpräsident hält die Verfassungsbeschwerde für zulässig und begründet.

Die Beklagten des Ausgangsverfahrens bestreiten, daß sie gegenüber dem Gericht unrichtige Angaben über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse gemacht hätten.

III.

1. Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, daß die Vorabentscheidung über die Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Berufungsfrist selbständig mit Verfassungsbeschwerde anfechtbar ist (BVerfGE 8, 253 (254 f.)). Der Beschwerdeführer hat auch ein Rechtsschutzinteresse daran, daß über die von ihm eingelegte Verfassungsbeschwerde vor Abschluß der Berufungsinstanz entschieden wird (vgl. BVerfGE 53, 109 (113)).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist auch begründet. Der angegriffene Wiedereinsetzungsbeschluß verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 103 Abs. 1 GG.

a) Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ein Recht darauf, daß er Gelegenheit erhält, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern, vor Gericht Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen (st. Rspr., vgl. etwa BVerfGE 1, 418 (429); 50, 280 (284); Beschluß vom 28. September 1982 – 2 BvR 125/82 –, Umdruck S. 5). Dies gilt auch für das Verfahren bei Entscheidung über einen Wiedereinsetzungsantrag. Zwar schreibt die Zivilprozeßordnung die Anhörung der Gegenpartei nicht ausdrücklich vor; die Pflicht zur Anhörung folgt jedoch unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG (BVerfGE 8, 253 (255); 53, 109 (114); vgl. auch Thomas/Putzo, ZPO, 11. Aufl., § 238, Anm. 1 c).

Das Landgericht hat somit den Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt, indem es den Beklagten auf ihre Angaben hin Wiedereinsetzung gewährte, ohne vorher den Beschwerdeführer hierzu gehört zu haben.

b) Die angegriffene Entscheidung beruht auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs. Der Beschwerdeführer hat in seiner Verfassungsbeschwerde beachtliche Gründe gegen die Gewährung der Wiedereinsetzung vorgebracht. Es ist daher nicht auszuschließen, daß seine – rechtzeitige – Anhörung zu einer anderen Entscheidung geführt hätte. Dem steht die vorausgegangene Bewilligung der Prozeßkostenhilfe nicht entgegen; denn diese kann gemäß § 124 ZPO unter bestimmten Voraussetzungen aufgehoben werden.

3. Die angegriffene Entscheidung ist daher aufzuheben; die Sache ist an das Landgericht Wiesbaden zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht aus § 34 Abs. 4 BVerfGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1611089

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