Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit einer Normenkontrolle im Zusammenhang mit vorkonstitutionellem Gesetz. Speiseeissteuerordnung der Stadt Kiel

 

Leitsatz (amtlich)

Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ist auch dann anzuwenden, wenn das Gericht ein Gesetz für ungültig hält, von dessen Gültigkeit oder Ungültigkeit die Gültigkeit oder Ungültigkeit eines anderen Gesetzes abhängt, das seinerseits die unmittelbare Rechtsgrundlage des vom Gericht zu überprüfenden staatlichen Hoheitsaktes ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

Zur Frage der Gültigkeit der Speiseeissteuer der Stadt Kiel, gestützt auf das preußische Kommunalabgabengesetz.

 

Normenkette

GG Art. 100 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 Nr. 1, Art. 126; BVerfGG Art. 86 Abs. 2; KAG PR §§ 13, 18; RFAG §§ 2, 5

 

Gründe

I.

Die Stadt Kiel hat am 29. März/19. April 1951 eine auf §§ 13, 18 des preußischen Kommunalabgabengesetzes vom 14. Juli 1893 (GS S. 152) gestützte Steuerordnung erlassen, durch welche die entgeltliche Abgabe von Speiseeis zum alsbaldigen Verzehr an Verbraucher und der Eigenverbrauch innerhalb des Stadtgebietes Kiel besteuert wird. Die Gültigkeit dieser Steuerordnung wird in einem Verwaltungsrechtsstreit, der in der Berufungsinstanz beim Oberverwaltungsgericht Lüneburg anhängig ist, angegriffen. Der Anfechtungskläger trägt vor, sie stehe im Widerspruch zu §§ 2 und 5 des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemeinden (Finanzausgleichsgesetz vom 27. April 1926 (RGBl. I S. 203 – RFAG –), weil sie eine Steuer auf den Umsatz sei, die mit Rücksicht auf die Bundesumsatzsteuer nicht erhoben werden dürfe. Die Stadt Kiel meint, die §§ 2 und 5 RFAG ständen der Steuerordnung nicht entgegen, weil die Speiseeissteuer eine Steuer „mit örtlich bedingtem Wirkungskreis” sei. Auf solche Steuern seien §§ 2 und 5 RFAG nicht mehr anwendbar, da die Länder hierfür nach Art. 105 GG die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz hätten.

Das Oberverwaltungsgericht hat am 23. Oktober 1952 folgenden Beschluß gefaßt:

  1. Das Verfahren wird gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt.
  2. Die Akten sind gemäß Art. 100 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 126 GG, § 13 Ziff. 11 und Ziff. 14 in Verbindung mit §§ 80 und 86 Abs. 2 BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung über folgende Fragen vorzulegen:

Ist die uneingeschränkte Weitergeltung der §§ 2 und 5 des Reichsfinanzausgleichsgesetzes vom 27. April 1926 (RGBl. I S. 203) mit Art. 105 Abs. 2 Ziff. 1 GG vereinbar, der die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes auf Verbrauchs- und Verkehrssteuern mit Ausnahme der Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis beschränkt?

Im Falle der Verneinung der Frage zu 1.: Bedarf es zur Einführung einer neuen Gemeindesteuer mit örtlich bedingtem Wirkungskreis einer landesgesetzlichen Ermächtigung?

Es begründet diesen Beschluß mit folgenden Erwägungen:

  1. Die Speiseeissteuer sei eine „Verbrauchs- und Verkehrssteuer mit örtlich bedingtem Wirkungskreis” (Art. 105 Abs. 2 Ziff. 1 GG).
  2. Die Speiseeissteuer sei – abgesehen von ihrer örtlichen Bedingtheit – mit der Bundesumsatzsteuer gleich oder zumindest gleichartig.
  3. Die Entscheidung des Rechtsstreites hänge daher davon ab, ob §§ 2 und 5 RFAG auch insoweit fortgelten, als sie sich auf „Verbrauchs- und Verkehrssteuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis” beziehen; diese Frage sei zu verneinen.

II.

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung, der Landesregierung Schleswig-Holstein und den Beteiligten des Anfechtungsprozesses Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

Die Bundesregierung hält den Antrag für unzulässig. Ein Verfahren gemäß Art. 100 GG komme nicht in Betracht, da das Reichsfinanzausgleichsgesetz vorkonstitutionelles Recht sei. Eine Meinungsverschiedenheit, ob es als Bundesrecht fortgelte, liege nicht vor; diese Frage sei für den Ausgang des Verfahrens auch unerheblich. Für die Entscheidung der Eventualfrage sei das Bundesverfassungsgericht nicht kompetent.

Die Landesregierung Schleswig-Holstein teilt die Rechtsauffassung der Stadt Kiel.

Der Anfechtungskläger bittet in erster Linie um Überprüfung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 1953 – 1 BvL 21/51 – (BVerfGE 2, 124), wonach vorkonstitutionelle Gesetze vom Bundesverfassungsgericht im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG nicht zu prüfen sind. Hilfsweise regt er an, die Vorlagefrage dahin umzudeuten, „ob das von der Stadt Kiel und der Regierung Schleswig-Holstein in Ausführung der Art. 105 und 106 GG unterstellte Landesrecht, auf welchem die angegriffene Satzung materiell basiert, mit dem Grundgesetz vereinbar ist”. Ausgangspunkt hierfür ist seine Auffassung: durch Art. 105 und 106 GG werde das Steuerrecht so grundlegend umgestaltet, daß Gemeindesteuerordnungen über Steuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis ohne ausdrückliche neue landesgesetzliche Ermächtigungen nicht erlassen werden dürften. Wenn einzelne Gemeinden ohne landesgesetzliche Ermächtigungen Steuerordnungen erließen, so stützten sie sich dabei unzulässigerweise unmittelbar auf Art. 105 GG. Das zu verhindern sei Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts.

Der Anfechtungskläger trägt weiter vor: es bestehe eine Meinungsverschiedenheit im Sinne des Art. 126 GG, denn man könne grundsätzlich keinen Unterschied zwischen den Fragen machen,

  1. „ob die §§ 2 und 5 des Reichsfinanzausgleichsgesetzes überhaupt noch als Bundesrecht fortgelten, oder
  2. ob die §§ 2 und 5 des Reichsfinanzausgleichsgesetzes noch fortgelten, soweit sie sich auf Verbrauchs- und Verkehrssteuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis beziehen;
  3. ob die §§ 2 und 5 des Reichsfinanzausgleichsgesetzes schlechthin noch fortgelten.”

Zumindest sei aber über die Eventualfrage des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg in analoger Anwendung des Art. 100 GG zu entscheiden.

III.

Der Antrag ist unzulässig.

1. Die Besonderheit des Falles liegt darin, daß das Oberverwaltungsrecht nicht das preußische Kommunalabgabengesetz, auf das sich die Steuerordnung stützt, für ungültig hält, sondern die Normen des Reichsfinanzausgleichsgesetzes, die der Gültigkeit der Steuerordnung nach Meinung des vorlegenden Gerichts entgegenstehen. Das schließt indessen die Zulässigkeit der Vorlage noch nicht aus. Art. 100 Abs. 1 GG ist vielmehr auch dann anzuwenden, wenn das Gericht ein Gesetz für ungültig hält, von dessen Gültigkeit oder Ungültigkeit die Gültigkeit oder Ungültigkeit eines anderen Gesetzes abhängt, das seinerseits die unmittelbare Rechtsgrundlage des vom Gericht zu überprüfenden staatlichen Hoheitsaktes ist; denn auch auf die Gültigkeit des nur mittelbar anzuwendenden Gesetzes kommt es bei der Entscheidung an.

2. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 1953 (BVerfGE 2, 124) hat jedoch im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG jedes Gericht selbständig die Rechtsfrage zu prüfen und zu entscheiden, ob ein vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassenes Gesetz mit dem Grundgesetz vereinbar ist oder nicht. Das Reichsfinanzausgleichsgesetz vom 27. April 1926 ist ein solches Gesetz. Hält das Oberverwaltungsgericht es für grundgesetzwidrig, so hat es dieses Gesetz nicht anzuwenden, ohne daß ein Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG in Betracht käme.

3. Auch die Voraussetzungen eines Verfahrens nach Art. 126 GG, § 13 Ziff. 4, 86 Abs. 2 BVerfGG liegen nicht vor. Aus den Akten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ergibt sich nicht, daß Meinungsverschiedenheiten über das Fortgelten der §§ 2 und 5 RFAG als Bundesrecht bestünden. Streitig ist vielmehr, ob die Bestimmungen noch fortgelten, soweit sie sich auf „Verbrauchs- und Verkehrssteuern mit örtlich bedingtem Wirkungskreis” beziehen. Diese Frage würde zwar in einem Verfahren nach Art. 126 GG vom Bundesverfassungsgericht als Vorfrage zu entscheiden sein. Beschränkt sich jedoch die Meinungsverschiedenheit auf die Frage des Fortgeltens schlechthin, so kommt kein Verfahren nach Art. 126 GG, § 86 Abs. 2 BVerfGG in Betracht.

Eine Meinungsverschiedenheit darüber, ob das Reichsfinanzausgleichsgesetz als Bundesrecht oder Landesrecht weitergilt, wäre außerdem unerheblich, weil die Entscheidung des Verwaltungsrechtsstreites nicht davon abhängt, auf welcher Ebene das Reichsfinanzausgleichsgesetz – seine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz unterstellt – weitergilt (§ 86 Abs. 2 BVerfGG).

4. Der Eventualantrag des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg ist unzulässig, da die Voraussetzungen einer Vorlage in Art. 100 GG und Art. 126 GG in Verbindung mit § 86 Abs. 2 BVerfGG abschließend geregelt sind. Eine Ausdehnung der Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts über den gesetzlich gezogenen Rahmen hinaus in analoger Anwendung der Zuständigkeitsbestimmungen ist unzulässig (vgl. BVerfGE 1, 396 [409]).

5. Eine Umdeutung des Vorlagebeschlusses des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg, wie sie der Anfechtungskläger wünscht, ist nicht nur angesichts des klaren Wortlauts dieses Beschlusses unmöglich, sie würde auch die Entscheidungsfreiheit des vorlegenden Gerichts unzulässig einengen.

Die Vorlage wäre aber auch dann unzulässig, wenn man dem Gericht unterstellte, es habe die Rechtsgültigkeit der Steuerordnung durch das Bundesverfassungsgericht nachprüfen lassen wollen. Dem steht schon entgegen, daß sie kein Gesetz im formellen Sinne ist (BVerfGE 1, 184 [201]). Das Oberverwaltungsgericht hat daher über die Rechtsgültigkeit der Speiseeissteuerordnung selbst zu befinden. Im übrigen geht es von der Gültigkeit der Steuerordnung aus, wahrend Art. 100 GG voraussetzt, daß das Gericht die zu prüfende Norm für verfassungswidrig hält.

Auch ein Verfahren nach Art. 126 GG käme hinsichtlich der Speiseeissteuerordnung nicht in Betracht, denn sie ist weder Bundesrecht noch Landesrecht; außerdem ist sie nach Erlaß des Grundgesetzes ergangen, so daß eine Fortgeltung gemäß Art. 124, 125 GG nicht in Frage kommt.

Wollte man aber gar annehmen, daß die Vereinbarkeit des preußischen Kommunalabgabengesetzes mit dem Reichsfinanzausgleichsgesetz vom Bundesverfassungsgericht geprüft werden sollte, so wäre die Vorlage ebenfalls unzulässig. Beide Gesetze sind vor dem Grundgesetz in Kraft getreten. Ein etwaiger Normenkonflikt zwischen ihnen würde bereits vor dem 7. September 1949 bestanden haben. In solchen Fällen haben die Gerichte in eigener Zuständigkeit zu entscheiden (BVerfGE 2, 136 [139]). Ein Verfahren nach Art. 126 GG wäre genauso unzulässig, weil keine streiterhebliche Meinungsverschiedenheit darüber besteht, ob das preußische Kommunalabgabengesetz als Landes- oder Bundesrecht weitergilt.

Der Antrag ist daher gemäß § 24 BVerfGG als unzulässig zu verwerfen.

 

Fundstellen

BVerfGE 2, 341

BVerfGE, 341

MDR 1953, 538

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