Entscheidungsstichwort (Thema)

Fehlerberichtigung bei Steuerbescheiden

 

Normenkette

AO §§ 93, 222; GG Art. 2-3, 20, 97; LAG § 203

 

Verfahrensgang

BFH (Urteil vom 20.12.1962; Aktenzeichen III 168/62)

BFH (Urteil vom 16.03.1962; Aktenzeichen III 376/61)

BFH (Urteil vom 16.03.1962; Aktenzeichen III 377/61)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.

 

Tatbestand

A.

I.

1. Mit den Bescheiden vom 26. Januar 1960 und 25. Mai 1960 änderte das Finanzamt … auf Weisung der Oberfinanzdirektion … die gegen die Beschwerdeführer zu 1) und 2) auf Grund des Lastenausgleichsgesetzes ergangenen Kreditgewinn- und Vermögensabgabebescheide gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO zu deren Ungunsten ab. Nach Ansicht der Oberfinanzdirektion waren bei den ursprünglichen Veranlagungen zugunsten der Steuerpflichtigen Rechtsfehler unterlaufen; sie seien zu berichtigen; das führe zu einer höheren Veranlagung. Die von den Beschwerdeführern gegen die Berichtigungsbescheide eingelegten Sprungberufungen hatten Erfolg. Das Finanzgericht … hielt eine Fehlerberichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO bei der Kreditgewinn- und Vermögensabgabe für unzulässig und hob die angefochtenen Bescheide auf. Nach – Auffassung des Gerichts hätte der, Gesetzgeber, wenn er die Anwendung der Vorschrift des § 222 Abs. 1 Nr. 3 Halbsatz 2 AO auf die zu den „Steuern vom Vermögen” zählenden Lastenausgleichsabgaben hätte ausschließen wollen, das klar im Gesetzestext zum Ausdruck bringen müssen. Dies sei jedoch nicht geschehen. Das Gericht dürfe das Gesetz nicht entgegen seinem Wortlaut auslegen.

Auf die Rechtsbeschwerden des Finanzamts hob der Bundesfinanzhof durch die beiden Urteile vom 16. März 1962 die Entscheidungen des Finanzgerichts auf und verwies die Verfahren zur neuerlichen Sachentscheidung an das Finanzgericht zurück. Unter Hinweis auf seine bisherige Rechtsprechung (BFHE 66, 407; 66, 654; 71, 134; 74, 677) hielt er die vom Finanzamt vorgenommene Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO für zulässig, weil die in dieser Vorschrift enthaltene Ausnahme für die Steuern vom Vermögen nur auf periodisch zu veranlagende Abgaben, nicht aber auf die einmaligen Vermögensabgaben nach dem Lastenausgleichsgesetz anzuwenden seien. In Einklang mit der Entwicklung des Abgabenrechts wolle das Gesetz diejenigen Steuern durch eine nur beschränkte Berichtigungsmöglichkeit begünstigen, die laufend erhoben und periodisch veranlagt würden. Steuern hingegen, die durch einen einmaligen besonderen Anlaß ausgelöst würden, sollten in richtiger Höhe, unbeeinflußt von Veranlagungsfehlern, erhoben werden können. Wenn im Gesetz von „Steuern vom Vermögen” gesprochen werde, so sei damit in erster Linie die überlieferte Vermögensteuer gemeint und daneben diejenigen Steuern, die dieser Steuer wesensgleich seien. Die Lastenausgleichsabgaben seien stichtagbezogen und ihrer Eigenart nach einmalig. Im übrigen könne sich die Einschränkung des Halbsatzes 2 der gesetzlichen Vorschrift nur auf diejenigen Steuern vom Vermögen beziehen, die schon bestanden hätten, als § 222 im Jahre 1930 seine letzte Fassung erhalten habe.

Mit den fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerden – 2 BvR 246/62 und 2 BvR 257/62 – wenden sich die Beschwerdeführer zu 1) und 2) gegen die Urteile des Bundesfinanzhofs vom 16. März 1962. Nach ihrer Auffassung verletzen diese Entscheidungen das Rechtsstaatsprinzip, weil sich das Gericht nicht auf seine Aufgabe, die Vorschrift des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO auszulegen, beschränkt, sondern einen neuen Rechtssatz im Wege der Rechtsprechung entwickelt und damit in den verfassungsmäßig dem Gesetzgeber vorbehaltenen Bereich eingegriffen habe. § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO schließe bei Steuern vom Vermögen aus, Steuerbescheide zu berichtigen, wenn die Aufsichtsbehörde einen Fehler aufgedeckt habe. Kreditgewinn- und Vermögensabgabe seien Steuern vom Vermögen. Die vom Bundesfinanzhof zugelassene Berichtigungsmöglichkeit für Bescheide über die Kreditgewinn- und Vermögensabgabe habe weder im § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO noch in einer anderen gesetzlichen Bestimmung eine Grundlage. Steuerliche Eingriffe in das Vermögen des Staatsbürgers seien nur auf gesetzlicher Grundlage zulässig.

Die angefochtenen Urteile gehörten sonach nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung und verletzten deshalb das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 2 Abs. 1 GG, indem sie eine steuerliche Belastung ohne gesetzliche Grundlage bewirkten.

2. Mit zwei Bescheiden vom 2. Mai 1960 änderte das Finanzamt … auf Weisung der Oberfinanzdirektion … gegen den Beschwerdeführer zu 3) ergangene, nicht mehr anfechtbare Kreditgewinn- und Vermögensabgabebescheide nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO zu dessen Ungunsten. Nach Auffassung der Oberfinanzdirektion waren bei der ursprünglichen Veranlagung Beurteilungs- und Berechnungsfehler unterlaufen, deren Richtigstellung eine höhere Veranlagung notwendig macht. Die gegen die Berichtigungsbescheide vom Beschwerdeführer eingelegten Einsprüche hatten keinen Erfolg. Auf seine Berufung hob das Finanzgericht … durch die Urteile vom 9. März 1962 die Berichtigungsbescheide auf, weil es eine Fehlerberichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO bei der Kreditgewinn- und Vermögensabgabe für unzulässig hielt. Die dagegen eingelegten Rechtsbeschwerden des Finanzamts führten zur Aufhebung der Berufungsentscheidungen und zur Zurückverweisung an das Finanzgericht durch die Urteile des Bundesfinanzhofs vom 20. Dezember 1962. In der Begründung ging der Bundesfinanzhof von denselben Rechtserwägungen zur Auslegung des § 222 AO aus wie in den Urteilen gegen die Beschwerdeführer zu 1) und 2) vom 16. März 1962.

Die fristgerecht eingelegten Verfassungsbeschwerden des Beschwerdeführers zu 3) – 2 BvR 110/63 und 2 BvR 111/63 – richten sich gegen die Urteile des Bundesfinanzhofs vom 20. Dezember 1962. Nach seiner Auffassung verstoßen die Entscheidungen gegen das Rechtsstaatsprinzip und verletzen sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG, weil sie auf der Anwendung eines Gesetzes beruhen, das nicht Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung ist. Die Vorschrift des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO sei verfassungswidrig und deshalb nichtig. Der Erlaß eines Steuerbescheides sei ein Akt der Rechtsfindung. Es verstoße gegen das Rechtsstaatsprinzip, wenn, wie es § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO zulasse, die Bestandskraft derartiger Rechtsfindungsakte ohne Rücksicht auf ihre formelle Unanfechtbarkeit und ohne weitere einschränkende Voraussetzungen allein deshalb wieder beseitigt werden könne, weil nach Ansicht der Aufsichtsbehörde bei der Veranlagung irgendein Fehler – dazu gehöre auch die unrichtige Anwendung des materiellen Rechts – unterlaufen sei.

Selbst wenn § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO gültig wäre, könne er die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Entscheidungen des Bundesfinanzhofs nicht rechtfertigen. Die extensive Auslegung dieser Vorschrift durch den Bundesfinanzhof sei Gesetzgebung im materiellen Sinne und verstoße deshalb gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz und gegen die kompetenzabgrenzenden Vorschriften des Grundgesetzes.

II.

Der Bundesminister der Finanzen hält die Verfassungsbeschwerden für unbegründet. Die Vorschrift des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO sei mit dem Grundgesetz vereinbar. Bei der Frage der Abänderbarkeit von Steuerbescheiden stehe der Grundsatz der Rechtssicherheit mit dem Gebot der Gerechtigkeit im Einzelfall im Widerstreit. Der Gesetzgeber habe in einem solchen Fall zu entscheiden, welchem der beiden Prinzipien der Vorrang zu geben sei. Er habe sich in voller Erkenntnis dieses Spannungsverhältnisses bei § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO für eine Mittellösung entschieden. Eine Willkür könne in dieser Regelung nicht erblickt werden. Ebensowenig sei die Auslegung der streitigen Norm durch den Bundesfinanzhof willkürlich oder verletze sonst ein Grundrecht; sie verkenne auch nicht die Einwirkung des Grundgesetzes auf das Steuerrecht. Der Bundesfinanzhof habe durch die angegriffenen Entscheidungen keinen neuen Steuertatbestand geschaffen, sondern lediglich eine bereits gegebene gesetzliche Regelung entsprechend ihrem Sinngehalt auf die Veranlagung im Rahmen des Lastenausgleichsrechts angewandt.

 

Entscheidungsgründe

B.

1. Die Bundesregierung hat erklärt, daß sie den Verfahren beitrete. Sie hat jedoch auf mündliche Verhandlung verzichtet. Es kann daher hier unentschieden bleiben, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Bundesregierung einem Verfahren der Verfassungsbeschwerde beitreten kann.

2. Die vier Verfassungsbeschwerden haben dieselben Rechtsfragen zum Gegenstand. Sie werden daher zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

3. Die Entscheidung ergeht ohne mündliche Verhandlung, weil durch sie eine weitere Förderung des Verfahrens nicht zu erwarten ist (§ 94 Abs. 5 BVerfGG).

4. Die Beschwerdeführer rügen die Verletzung ihres Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, insbesondere dem Prinzip der Trennung der Gewalten (vgl. BVerfGE 6, 32 [38 ff.]). Eine solche Verletzung erscheint nach dem vorgetragenen Sachverhalt nicht von vornherein ausgeschlossen. Die Verfassungsbeschwerden sind daher zulässig.

C.

Die Verfassungsbeschwerden sind unbegründet. § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Auch die Anwendung dieser Vorschrift durch die angefochtenen Urteile läßt einen Verstoß gegen Verfassungsrecht nicht erkennen.

I.

1. Bereits die Reichsabgabenordnung vom 13. Dezember 1919 (RGBl S. 1993) regelte in § 212 die Frage der Änderung von Steuerbescheiden für den Fall, daß neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt oder Fehler aufgedeckt wurden. § 212 RAO in der ursprünglichen Fassung lautete:

Wenn nichts Abweichendes vorgeschrieben ist, sind Nachforderungen von Steuern bis zum Ablauf der Verjährungsfrist zulässig.

Hat jedoch bei Steuern, bei denen die Verjährungsfrist (§ 121) mehr als ein Jahr beträgt, das Finanzamt nach Prüfung des Sachverhalts einen besonderen, im Gesetze selbst vorgesehenen schriftlichen Bescheid (Veranlagungs-, Freistellungs- oder Feststellungsbescheid) erteilt, so ist, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist, eine Neuveranlagung nur zulässig, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen.

Eine Neuveranlagung ist ferner zulässig, wenn bei einer Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde Fehler aufgedeckt werden, deren Berichtigung eine höhere Veranlagung rechtfertigt; dies gilt nicht bei den Steuern vom Einkommen und vom Vermögen ausschließlich der Erbschaftsteuer.

Eine Neuveranlagung darf nicht auf eine nach Entstehung des Steueranspruchs erlassene Entscheidung des Reichsfinanzhofs gegründet werden, in der die Steuerpflicht im Gegensatz zu einer früheren, einen gleichen Tatbestand betreffenden höchstrichterlichen Entscheidung bejaht wird.

Durch die Notverordnung vom 1. Dezember 1930 (RGBl I S. 517, 559) wurde die Bestimmung neu formuliert und als § 222 in die Abgabenordnung eingefügt. Seither lautet sie unverändert:

§ 222

(1) Hat bei Steuern, bei denen die Verjährungsfrist mehr als ein Jahr beträgt, das Finanzamt nach Prüfung des Sachverhalts einen besonderen, im Gesetz selber vorgesehenen schriftlichen Bescheid (Steuerbescheid, Steuermeßbescheid, Freistellungsbescheid oder Feststellungsbescheid) erteilt, so findet, soweit nichts anderes vorgeschrieben ist, eine Änderung des Bescheids (eine Berichtigungsveranlagung oder eine Berichtigungsfeststellung) nur statt:

  1. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine höhere Veranlagung rechtfertigen, und die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist;
  2. wenn durch eine Buch- oder Betriebsprüfung vor dem Ablauf der Verjährungsfrist neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine niedrigere Veranlagung rechtfertigen;
  3. wenn bei einer Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde Fehler aufgedeckt werden, deren Berichtigung eine höhere Veranlagung rechtfertigt, und die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist; dies gilt nicht für die Steuern vom Einkommen, vom Ertrage, vom Umsatz und vom Vermögen (ausschließlich der Erbschaftsteuer);
  4. wenn bei einer Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde vor dem Ablauf der Verjährungsfrist Fehler aufgedeckt werden, deren Berichtigung eine niedrigere Veranlagung rechtfertigt.

(2). Eine Berichtigungsveranlagung oder eine Berichtigungsfeststellung darf nicht auf eine nach Entstehung des Steueranspruchs erlassene Entscheidung des Bundesfinanzhofs gegründet werden, in der eine Rechtsfrage im Gegensatz zu einer früheren, einen gleichen Sachverhalt betreffenden höchstrichterlichen Entscheidung entschieden wird.

2. Die Abgabenordnung geht in § 93 von der grundsätzlich freien Abänderbarkeit von Steuerverwaltungsakten aus. Dieser Grundsatz, der auch in § 212 Abs. 1 RAO aF. ausdrücklich anerkannt war, ist jedoch dahin eingeschränkt, daß er nur gilt, „soweit in den §§ 94 bis 96 oder sonst in den Steuergesetzen nichts Abweichendes bestimmt ist”. Für die wichtigsten Steuerverwaltungsakte gilt damit nicht der in § 93 AO normierte Grundsatz, sondern die Sonderregelung in den §§ 94 bis 96 AO und in den sonstigen Steuergesetzen. Zu diesen sonstigen Steuergesetzen, die die Abänderbarkeit im einzelnen regeln, gehört § 222 AO. Diese Vorschrift gibt den Steuerbehörden die Möglichkeit, bestimmte Steuerverwaltungsakte zu ändern, jedoch nur unter den im Gesetz festgelegten Voraussetzungen und bis zur Verjährung der ihnen zugrunde liegenden Steueransprüche.

§ 222 Abs. 1 Nr. 3 AO läßt die Berichtigung von Steuerbescheiden zu, wenn die Aufsichtsbehörde des Finanzamts Fehler aufdeckt. Das Gesetz geht damit von der Einheit der Verwaltung aus. Die Folge davon ist, daß gewisse Steuerverwaltungsakte solange nicht uneingeschränkt Bestandskraft haben, als die Steuerforderung noch nicht verjährt ist. Als Fehler wird jede objektive Unrichtigkeit angesehen, einerlei, ob es sich um eine falsche Tatsachenwürdigung oder um unrichtige Rechtsanwendung handelt.

3. § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO verstößt nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip. Die Vorschrift gibt der Steuerverwaltung die Möglichkeit, zuungunsten des Steuerpflichtigen endgültige, aber fehlerhafte Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern. Sie schränkt die Rechtsbeständigkeit von fehlerhaften Steuerbescheiden im Interesse des Grundsatzes der Steuergerechtigkeit und der Gleichheit der Besteuerung ein.

4. Im Steuerverfahren ist die Finanzbehörde, die nach dem bestehenden Steuerrecht die Steuerschuld des Staatsbürgers festzusetzen hat, zunächst auf die Angaben des Steuerpflichtigen angewiesen. Er kann deshalb nicht erwarten, daß eine zu niedrig festgesetzte Steuerschuld mit Rücksicht auf das Prinzip der Rechtssicherheit bestehenbleibt und auch dann nicht berichtigt wird, wenn die Finanzbehörde nachträglich einen Fehler entdeckt. Andererseits darf er damit rechnen, daß die Finanzbehörde den Steuerbescheid zu seinen Gunsten ändert, wenn sie feststellt, daß er zu Unrecht zu hoch veranlagt worden ist (§ 222 Abs. 1 Nr. 4 AO).

Die durch § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO zugelassene Fehlerberichtigung ist eine Folge des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und dient zugleich der Steuergerechtigkeit. Sie verstößt nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip. Anhaltspunkte dafür, daß § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO unter anderen Gesichtspunkten gegen das Grundgesetz oder seine tragenden Prinzipien verstößt, liegen nicht vor. Die Vorschrift ist daher mit dem Grundgesetz vereinbar.

II.

Die in den angefochtenen Gerichtsurteilen vertretene Auffassung, § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO lasse die Berichtigung von Fehlern in endgültig gewordenen Veranlagungsbescheiden über Lastenausgleichsabgaben (hier: Kreditgewinnabgabe und Vermögensabgabe) zuungunsten des Steuerpflichtigen zu, sofern die Aufsichtsbehörde diese Fehler aufdecke, verstößt nicht gegen das Rechtsstaatsprinzip und verletzt darum auch nicht das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 2 Abs. 1 GG.

1. Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 18, 85 [92]) davon aus, daß gerichtliche Entscheidungen auf eine Verfassungsbeschwerde hin nur in engen Grenzen nachgeprüft werden können, da es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist, die Auslegung einfacher Gesetze und ihre Anwendung auf den konkreten Fall auf ihre Richtigkeit zu kontrollieren. In einem solchen Verfahren kann vielmehr nur geprüft werden, ob durch das angefochtene gerichtliche Urteil Grundrechte oder grundrechtsähnliche Rechte des Beschwerdeführers verletzt werden.

2. Die angegriffenen Urteile des Bundesfinanzhofs halten sich in den Grenzen, die dem Richter bei der Auslegung von Gesetzen durch den Verfassungsgrundsatz der Trennung der Gewalten gezogen sind. Sie verletzen deshalb die Beschwerdeführer nicht in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG.

a) Nach § 203 LAG gilt die Abgabenordnung auch für die Abgabeverpflichtungen auf Grund des Lastenausgleichsgesetzes. Für die Berichtigung von Bescheiden über Lastenausgleichsabgaben gelten daher die Regeln des § 222 AO. Bescheide über solche Abgaben, die auf Fehlern beruhen, die von der Aufsichtsbehörde aufgedeckt worden sind, können also dann berichtigt werden, wenn die Vermögensabgabe, die Kreditgewinnabgabe und Hypothekengewinnabgabe nicht Steuern vom Vermögen im Sinne von § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO sind.

Der Bundesfinanzhof ist der Auffassung, die Vermögensabgabe, die Kreditgewinnabgabe und die Hypothekengewinnabgabe seien zwar Steuern vom Vermögen im finanztechnischen Sinne. Das Verbot der Fehlerberichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO beziehe sich aber nur auf Steuern und Abgaben, die periodisch veranlagt werden. Dazu gehörten die Lastenausgleichsabgaben nicht, da sie als einmalige Abgaben nur einmal festgesetzt werden. Sie seien daher nicht Vermögensteuern im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO.

b) Das Bundesverfassungsgericht hat nicht zu entscheiden, ob die: Auffassung des Bundesfinanzhofs zur Auslegung des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO vom Standpunkt des Steuerrechts richtig ist. Sie ist jedenfalls nicht willkürlich. Wenn das Gericht zwischen Vermögensteuern im herkömmlichen Sinne und den Lastenausgleichsabgaben differenziert, um sie für die Frage der Zulässigkeit der Fehlerberichtigung verschieden zu behandeln, so bringt es dafür vertretbare Gründe vor. Danach verlangen es Sinn und Zweck des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO, daß die Vorschrift, nach der Bescheide über Vermögensteuern nicht deshalb berichtigt werden dürfen, weil die Aufsichtsbehörde Fehler aufgedeckt hat auf Bescheide über Lastenausgleichsabgaben nicht anzuwenden ist. Diese Auslegung des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO hält sich noch im Rahmen der richterlichen Interpretation, zu der die an Gesetz und Recht gebundenen und nur ihm unterworfenen Richter (Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG) seit jeher berufen sind. Diese Art der Gesetzesauslegung, die dem Gesetzeswortlaut nach dem ihm innewohnenden Sinn gerecht wird, gehört im Rechtsstaat zur Aufgabe der Gerichte (vgl. BVerfGE 3, 225 [242]).

c) Es handelt sich also nicht um eine Rechtsprechung contra legem. Das anzuwendende Gesetz läßt vielmehr die Auslegung zu, die Abgabenordnung verstehe unter Steuern vom Vermögen im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO nur solche Abgaben vom Vermögen, die fortlaufend erhoben und periodisch veranlagt werden, beziehe sich aber nicht auf einmalige Abgaben. Die Lastenausgleichsabgaben sind als Abgaben besonderer Art entstanden und konnten nicht vorausgesehen werden, als § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO in der heutigen Fassung geschaffen wurde. Es kann daher die Auffassung vertreten werden, daß ihre Rechtsnatur so große Unterschiede zu den anderen Abgaben vom Vermögen aufweist, daß ihre Andersartigkeit bei der Auslegung des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO berücksichtigt werden darf.

Der Wortlaut des § 222 Abs. 1 Nr. 3 AO ist zu der hier zu entscheidenden Frage nicht eindeutig, sondern auslegungsfähig. Der Bundesgesetzgeber hat die Lösung der Frage, ob Bescheide über Lastenausgleichsabgaben nach Fehleraufdeckung durch die Aufsichtsbehörde berichtigt werden können, der Rechtsprechung überlassen. Seit 1958 kannte er dazu die Auffassung des Bundesfinanzhofs. Wenn er dessen Auslegung als mit dem Gesetz unvereinbar gehalten hätte, so wäre es ihm seither möglich gewesen, durch einen Akt der Gesetzgebung das Problem im anderen Sinne zu entscheiden. Das ist aber nicht geschehen.

Damit ist auch der Einwand ausgeräumt, die Auslegung des Bundesfinanzhofs verletze den „Vorbehalt des Gesetzes”.

 

Fundstellen

BStBl I 1966, 181

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