Leitsatz (amtlich)

a) Führt eine übermäßige Überspannung zu Schäden an üblichen Verbrauchsgeräten, liegt ein Fehler des Produkts Elektrizität vor.

b) Nimmt der Betreiber des Stromnetzes Transformationen auf eine andere Spannungsebene - hier in die sog. Niederspannung für die Netzanschlüsse von Letztverbrauchern - vor, ist er Hersteller des Produkts Elektrizität.

c) In diesem Fall ist das Produkt Elektrizität erst mit der Lieferung des Netzbetreibers über den Netzanschluss an den Anschlussnutzer in den Verkehr gebracht.

 

Normenkette

ProdHaftG § 1 Abs. 1 S. 1, §§ 2, 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Wuppertal (Urteil vom 05.03.2013; Aktenzeichen 16 S 15/12)

AG Wuppertal (Urteil vom 21.02.2012; Aktenzeichen 39 C 291/10)

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil der 16. Zivilkammer des LG Wuppertal vom 5.3.2013 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Rz. 1

Der Kläger macht gegen die Beklagte Schadensersatz wegen eines Überspannungsschadens geltend. Die Beklagte ist Betreiberin eines kommunalen Stromnetzes und stellt dieses den Stromproduzenten (Einspeisern) und Abnehmern zur Verfügung. Dazu transformiert sie den Strom auf eine andere Spannungsebene (Niederspannung). Der Kläger ist mit seinem Haus an das Niederspannungsnetz der Beklagten angeschlossen.

Rz. 2

Am 6.5.2009 gab es eine Störung der Stromversorgung im Wohnviertel des Klägers. Nach einem Stromausfall trat in seinem Hausnetz eine Überspannung auf, durch die mehrere Elektrogeräte und die Heizung beschädigt wurden. Die Ursache für die Überspannung lag in der Unterbrechung von zwei sog. PEN-Leitern (PEN = protective earth neutral) in der Nähe des Hauses des Klägers, über die sein Haus mit der Erdungsanlage verbunden war.

Rz. 3

Das AG hat die auf Zahlung von 2.847,37 EUR nebst Zinsen und Kosten gerichtete Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das LG das Urteil des AG teilweise abgeändert und die Beklagte zur Zahlung von 2.347,37 EUR nebst Zinsen und Kosten an den Kläger verurteilt. Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Mit ihrer vom LG zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils.

 

Entscheidungsgründe

I.

Rz. 4

Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht dem Kläger nach § 1 Abs. 1 ProdHaftG ein Anspruch auf Schadensersatz gegen die Beklagte abzgl. der Selbstbeteiligung von 500 EUR gem. § 11 ProdHaftG zu. Elektrizität sei nach § 2 ProdHaftG vom Schutzbereich des Gesetzes als Produkt umfasst. Ein Fehler i.S.d. § 3 ProdHaftG liege vor, wenn berechtigte Sicherheitserwartungen hinsichtlich des gelieferten Stroms enttäuscht würden, also wenn er unzulässige Spannungs- oder Frequenzschwankungen aufweise. Die Beklagte sei jedenfalls deshalb i.S.d. § 4 ProdHaftG als Herstellerin der fehlerhaften Elektrizität anzusehen, weil sie das Produkt - durch Transformation auf eine andere Spannungsebene - verändert habe.

Rz. 5

Ansprüche aus dem Produkthaftungsgesetz seien nicht durch § 18 Niederspannungsanschlussverordnung (NAV) gesperrt. Der Norm könne keine Beschränkung der Haftung auf verschuldensabhängige Tatbestände entnommen werden.

II.

Rz. 6

Diese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichen Nachprüfung stand. Das Berufungsgericht hat mit Recht eine Haftung der Beklagten für die durch die Überspannung verursachten Schäden gem. § 1 Abs. 1 Satz 1, § 2, § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 ProdHaftG bejaht.

Rz. 7

1. Das Berufungsgericht ist rechtsfehlerfrei davon ausgegangen, dass durch einen Fehler des Produkts Elektrizität Schäden an üblichen Verbrauchsgeräten des Klägers entstanden sind. Gemäß § 2 ProdHaftG ist neben beweglichen Sachen auch Elektrizität ein Produkt im Sinne des Produkthaftungsgesetzes. Nach den getroffenen Feststellungen wies die Elektrizität aufgrund der Überspannung einen Fehler gem. § 3 Abs. 1 ProdHaftG auf, der die Schäden an den Elektrogeräten und der Heizung verursacht hat.

Rz. 8

Ein Produkt hat nach § 3 Abs. 1 ProdHaftG einen Fehler, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände berechtigterweise erwartet werden kann. Abzustellen ist dabei nicht auf die subjektive Sicherheitserwartung des jeweiligen Benutzers, sondern objektiv darauf, ob das Produkt diejenige Sicherheit bietet, die die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält (vgl. BGH, Urt. v. 16.6.2009 - VI ZR 107/08, BGHZ 181, 253 Rz. 12 m.w.N.; v. 17.3.2009 - VI ZR 176/08, VersR 2009, 649 Rz. 6; v. 5.2.2013 - VI ZR 1/12, VersR 2013, 469 Rz. 12). Die nach § 3 Abs. 1 ProdHaftG maßgeblichen Sicherheitserwartungen beurteilen sich grundsätzlich nach denselben objektiven Maßstäben wie die Verkehrspflichten des Herstellers im Rahmen der deliktischen Haftung gem. § 823 Abs. 1 BGB (vgl. BGH, Urt. v. 16.6.2009 - VI ZR 107/08, a.a.O., m.w.N.). Dabei kann die Beachtung gesetzlicher Sicherheitsvorschriften oder die Befolgung technischer Normen, wie z.B. DIN-Normen oder sonstiger technischer Standards, von Bedeutung sein, wobei dies allerdings nicht bedeutet, dass ein Produkt bei Befolgung solcher Normen immer als fehlerfrei angesehen werden müsste (vgl. BT-Drucks. 11/2447, 19; Kullmann in Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler, Produzentenhaftung, Kza 3604 II 3b bb [Stand: Juni 2010]; Palandt/Sprau, BGB, 73. Aufl., § 3 ProdHaftG Rz. 4; zu Verkehrssicherungspflichten BGH, Urt. v. 9.9.2008 - VI ZR 279/06, VersR 2008, 1551 Rz. 16 m.w.N.).

Rz. 9

Die Verordnung über Allgemeine Bedingungen für den Netzanschluss und dessen Nutzung für die Elektrizitätsversorgung in Niederspannung vom 1.11.2006 (Niederspannungsanschlussverordnung - NAV, BGBl. I, 2477, zuletzt geändert durch Art. 4 der Verordnung vom 3.9.2010, BGBl. I, 1261) konkretisiert in ihrem Anwendungsbereich die berechtigten Sicherheitserwartungen an das Produkt Elektrizität (vgl. zu der Vorgängerverordnung AVBEltV Klein, BB 1991, 917, 920; ders., Die Haftung der Versorgungsunternehmen für Störungen in der Versorgungszufuhr, 1988, S. 247 f.; Schmidt-Salzer in Schmidt-Salzer/Hollmann, Kommentar zur EG-Richtlinie Produkthaftung, Band 1, 1986, Art. 2 Rz. 80 mit Fn. 48; Staudinger/Oechsler, BGB, Neubearb. 2014, § 2 ProdHaftG Rz. 49). Gemäß § 16 Abs. 3 NAV hat der Netzbetreiber Spannung und Frequenz möglichst gleichbleibend zu halten; allgemein übliche Verbrauchsgeräte und Stromerzeugungsanlagen müssen einwandfrei betrieben werden können (s. auch Ahnis/de Wyl, IR 2007, 77, 80; zu Spannung und Frequenz § 7 NAV, § 5 Abs. 1 Stromgrundversorgungsverordnung - StromGVV).

Rz. 10

Danach liegt ein Verstoß gegen die berechtigten Sicherheitserwartungen in das Produkt Elektrizität jedenfalls dann vor, wenn eine Überspannung wie im Streitfall zu Schäden an üblichen Verbrauchsgeräten führt (vgl. Ahnis/de Wyl, a.a.O.; Hartmann in Danner/Theobald, Energierecht, IV., § 16 NAV Rz. 9 f. [Stand: Januar 2007]; de Wyl/Eder/Hartmann, Netzanschluss- und Grundversorgungsverordnungen, 2008, § 16 NAV Rz. 3). In diesem Fall ist der Bereich der Spannungsschwankungen, mit denen der Verkehr rechnen muss, nicht mehr eingehalten. Es wird allgemein angenommen, dass zumindest bei übermäßigen Frequenz- oder Spannungsschwankungen eine Haftung nach § 1 ProdHaftG ausgelöst werden kann (vgl. Graf von Westphalen in Foerste/Graf von Westphalen, Produkthaftungshandbuch, 3. Aufl., § 47 Rz. 26; Lenz in Lenz, Produkthaftung, 2014, § 3 Rz. 299; Lorenz, ZHR 151 (1987), 1, 18; Kullmann in Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler, Produzentenhaftung, Kza 3603 II 1 [Stand: September 2008] und in ProdHaftG, 6. Aufl., § 2 Rz. 5; Mayer, VersR 1990, 691, 697; Wagner in MünchKomm/BGB, 6. Aufl., § 2 ProdHaftG Rz. 3; Palandt/Sprau, a.a.O., § 2 ProdHaftG Rz. 1 a.E.; Staudinger/Oechsler, a.a.O., Rz. 45; Unberath/Fricke, NJW 2007, 3601, 3604).

Rz. 11

Die Revision wendet ohne Erfolg ein, das Berufungsgericht habe nicht berücksichtigt, dass nach den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen die redundante Auslegung des Niederspannungsnetzes der Beklagten dem Stand der Technik sowie der geübten Praxis in vielen deutschen Verteilungsnetzen entsprochen und die Anforderungen an die ausreichende Versorgungsqualität erfüllt habe. Denn abzustellen ist bei der verschuldensunabhängigen Haftung nach dem Produkthaftungsgesetz allein auf den Fehler des Produkts, nicht hingegen darauf, ob und ggf. welche Fehler dem Produktionsvorgang selbst oder den diesem nachfolgenden Prozessen anhafteten. Im Streitfall war das Produkt Elektrizität fehlerhaft, weil - wegen der Unterbrechung der beiden PEN-Leiter - eine übermäßige Überspannung auftrat. Offenbleiben kann, wie die von der Revision angesprochenen Fälle zu beurteilen sind, in denen die Unregelmäßigkeiten auf besondere Umstände wie etwa Naturgewalten zurückzuführen sind.

Rz. 12

2. Die Beklagte ist als Herstellerin des fehlerhaften Produkts Elektrizität gem. § 4 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG anzusehen.

Rz. 13

a) Nach dieser Vorschrift ist Hersteller im Sinne des Produkthaftungsgesetzes, wer das Endprodukt, einen Grundstoff oder ein Teilprodukt hergestellt hat. Ebenso wie Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 85/374/EWG des Rates vom 25.7.1985 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Haftung für fehlerhafte Produkte (ABl. Nr. L 210 vom 7.8.1985, S. 29, zuletzt geändert durch Art. 1 der Richtlinie 1999/34/EG vom 10.5.1999, ABl. Nr. L 141 vom 4.6.1999, S. 20) definiert § 4 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG weder den Begriff des Herstellens noch den Begriff des Herstellers direkt. Er bestimmt nur, wer dem Herstellerkreis haftungsrechtlich zugeordnet werden muss (vgl. Taschner/Frietsch, Produkthaftungsrecht und EG-Produkthaftungsrichtlinie, 2. Aufl., ProdHaftG § 4 Rz. 4; Graf von Westphalen, a.a.O., § 49 Rz. 2). Wer im Einzelfall Hersteller des Produkts Elektrizität ist, ist im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung des § 4 Abs. 1 Satz 1 ProdHaftG zu ermitteln (vgl. EuGH, Urt. v. 29.5.1997 - Rs. C-300/95, Slg. 1997, I-2649 Rz. 38; Lenz, a.a.O., § 3 Rz. 277; Staudinger/Oechsler, a.a.O., Einl. zum ProdHaftG Rz. 43 ff.). Die Auslegung muss sich so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen (vgl. BGH, Urt. v. 26.11.2008 - VIII ZR 200/05, BGHZ 179, 27 Rz. 19 m.w.N.; v. 21.12.2011 - VIII ZR 70/08, BGHZ 192, 148 Rz. 24 m.w.N.). In diesem Zusammenhang ist im Streitfall insb. zu berücksichtigen, dass die Richtlinie 85/374/EWG u.a. das Ziel verfolgt, den Schutz der Verbraucher zu gewährleisten (vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - Rs. C-495/10, VersRAI 2012, 34 Rz. 22, 31 - Dutrueux).

Rz. 14

b) Zur Richtlinie 85/374/EWG hat der Europäische Gerichtshof unter Bezugnahme auf die Begründung des Richtlinienvorschlags vom 9.9.1976 (Bulletin der EG, Beilage 11/76, Erl. zu Art. 1 Nr. 6 = BT-Drucks. 7/5812, 6 f. zu Art. 1 Buchst. e) darauf hingewiesen, dass nach Abwägung der jeweiligen Rollen der verschiedenen in den Herstellungs- und Vertriebsketten tätig werdenden Wirtschaftsteilnehmer die Entscheidung getroffen wurde, die Haftung für durch fehlerhafte Produkte verursachte Schäden in der durch die Richtlinie geschaffenen rechtlichen Regelung grundsätzlich dem Hersteller und nur in einigen beschränkten Fällen dem Importeur und dem Lieferanten aufzubürden. Da der Lieferant in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle lediglich das gekaufte Produkt unverändert weitergibt und nur der Hersteller die Möglichkeit hat, auf die Qualität des Produktes einzuwirken, wird es als angebracht angesehen, die Haftung für fehlerhafte Produkte auf den Hersteller zu konzentrieren (vgl. EuGH, Urt. v. 10.1.2006 - Rs. C-402/03, NJW 2006, 1409 Rz. 27 ff. - Skov und Bilka; Urt. v. 21.12.2011 - Rs. C-495/10, a.a.O., Rz. 25 - Dutrueux).

Rz. 15

c) Bei der Auslegung des Herstellerbegriffs ist der enge Zusammenhang zu dem Produktbegriff des § 2 ProdHaftG zu berücksichtigen (vgl. Staudinger/Oechsler, a.a.O., § 4 ProdHaftG Rz. 12; Graf von Westphalen, a.a.O., § 49 Rz. 3). Der Herstellerbegriff setzt danach grundsätzlich das "Erzeugen eines Produkts" i.S.d. § 2 ProdhaftG voraus (vgl. Kullmann in Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler, a.a.O., Kza 3605 I 2b [Stand: Juni 2009]). Nach der Begründung des Richtlinienvorschlags vom 9.9.1976 sind mit dem Begriff des Herstellers alle Personen gemeint, die in eigener Verantwortung an dem Prozess der Herstellung des Produkts beteiligt waren (vgl. Bulletin der EG, Beilage 11/76, Erl. zu Art. 2 Nr. 7 = BT-Drucks. 7/5812, 7 zu Art. 2 Buchst. a). In diesem Sinne wird auch im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie ausgeführt, dass es der Schutz des Verbrauchers erfordert, dass alle am Produktionsprozess Beteiligten haften, wenn das Endprodukt oder der von ihnen gelieferte Bestandteil oder Grundstoff fehlerhaft ist (vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - Rs. C-495/10, a.a.O., Rz. 23 - Dutrueux; Taschner/Frietsch, a.a.O., § 4 Rz. 3 f.).

Rz. 16

d) Hersteller ist demnach jeder, in dessen Organisationsbereich das Produkt entstanden ist (vgl. Brüggemeier/Reich, WM 1986, 149, 151; Wagner in MünchKomm/BGB, a.a.O., § 4 ProdHaftG Rz. 6; PWW/Schaub, BGB, 8. Aufl., § 4 ProdHaftG Rz. 2; Soergel/Krause, BGB, 13. Aufl., § 4 ProdHaftG Rz. 3; s. auch OLG Düsseldorf, IHR 2012, 197, 201; Staudinger/Oechsler, a.a.O., § 4 ProdHaftG Rz. 10). Der Umkehrschluss aus der Lieferantenhaftung nach § 4 Abs. 3 ProdHaftG ergibt, dass die Herstellung vom Produktvertrieb bzw. Produkthandel abzugrenzen ist (Staudinger/Oechsler, a.a.O., Rz. 8). Für die Abgrenzung ist entscheidend, ob in die Produktgestaltung oder in eine wesentliche Produkteigenschaft eingegriffen wird oder ob eine im Vergleich mit dem Herstellungsprozess nur unerhebliche Manipulation am Produkt erfolgt (Staudinger/Oechsler, a.a.O., Rz. 37; Taschner/Frietsch, a.a.O., Rz. 23; Wagner in MünchKomm/BGB, a.a.O., Rz. 12; s. auch die Beispiele bei Kullmann in Kullmann/Pfister/Stöhr/Spindler, a.a.O., Kza 3605 II 1b [Stand: September 2008]; ders. ProdHaftG, 6. Aufl., § 4 Rz. 16 ff.). Dabei kommt es insb. auf die sicherheitsrelevanten Eigenschaften des Produktes an (vgl. OLG Düsseldorf NJW-RR 2001, 458; Wagner in MünchKomm/BGB, a.a.O., Rz. 7, 12). Es kommt hingegen nicht darauf an, ob der Hersteller zum Zeitpunkt des Inverkehrbringens des Produkts feststellbar war oder nicht. Dieser Gesichtspunkt kann allein für die Frage von Bedeutung sein, ob ein Lieferant gem. § 4 Abs. 3 ProdHaftG wie ein Hersteller haftet (BGH, Urt. v. 21.6.2005 - VI ZR 238/03, VersR 2005, 1297, 1298).

Rz. 17

e) Nach diesen Grundsätzen ist die Beklagte im Streitfall als Herstellerin des Produkts Elektrizität anzusehen. Dies ergibt sich bereits aus der Feststellung des Berufungsgerichts, dass die Beklagte als Betreiberin des Stromnetzes in W. Transformationen auf eine andere Spannungsebene, nämlich die sog. Niederspannung für die Netzanschlüsse von Letztverbrauchern, vornimmt. In diesem Fall wird - anders als bei einem reinen Lieferungs- oder Weiterverteilungsunternehmen - die Eigenschaft des Produkts Elektrizität durch den Betreiber des Stromnetzes in entscheidender Weise verändert, weil es nur nach der Transformation für den Letztverbraucher mit den üblichen Verbrauchsgeräten nutzbar ist. Folgerichtig wird auch im Schrifttum angenommen, dass in einem solchen Fall der "Lieferant" der Elektrizität mit der von ihm geänderten Eigenschaft als Hersteller anzusehen ist (vgl. Wagner in MünchKomm/BGB, a.a.O., Rz. 12; Klein, BB 1991, 917, 921; Schweers, Vertragsbeziehungen und Haftung im novellierten Energiewirtschaftsrecht, 2001, S. 141; Unberath/Fricke, a.a.O., 3605; für eine - regelmäßig gegebene - Haftung nach § 4 Abs. 3 ProdHaftG Witzstrock, VersR 2002, 1457, 1460).

Rz. 18

3. Die Revision beruft sich auch ohne Erfolg auf den Haftungsausschluss nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 ProdHaftG. Sie meint, das Berufungsgericht habe rechtsfehlerhaft nicht berücksichtigt, dass das Produkt Elektrizität zu dem Zeitpunkt, zu dem der Strom in das Niederspannungsnetz eingespeist worden sei, keine unzulässigen Spannungs- und Frequenzschwankungen aufgewiesen habe und damit nicht fehlerhaft gewesen sei. Damit setzt sie jedoch den Zeitpunkt des Inverkehrbringens zu früh an. Der Strom ist nicht mit der Einspeisung in das Niederspannungsnetz in den Verkehr gebracht worden, sondern erst mit der Belieferung des Klägers über den Netzanschluss. Zu diesem Zeitpunkt war das Produkt Elektrizität fehlerhaft.

Rz. 19

a) Nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 ProdHaftG ist die Ersatzpflicht des Herstellers ausgeschlossen, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Produkt den Fehler, der den Schaden verursacht hat, noch nicht hatte, als der Hersteller es in den Verkehr brachte. Der Begriff des Inverkehrbringens, den die Richtlinie nicht definiert, ist unter Berücksichtigung der Zielsetzung der Richtlinie und des mit ihr verfolgen Zwecks auszulegen. Die Fälle, in denen der Hersteller sich von seiner Haftung befreien kann (Art. 7 der Richtlinie), sind dabei im Interesse der durch ein fehlerhaftes Produkt Geschädigten eng auszulegen (vgl. EuGH, Urt. v. 10.5.2001 - Rs. C-203/99, NJW 2001, 2781 Rz. 14 f. - Veedfald; vom 9.2.2006 - Rs. C-127/04, NJW 2006, 825 Rz. 23 ff. - O'Byrne).

Rz. 20

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs setzt ein Inverkehrbringen voraus, dass das Produkt den vom Hersteller eingerichteten Prozess der Herstellung verlassen hat und in einen Prozess der Vermarktung eingetreten ist, in dem es in ge- oder verbrauchsfertigem Zustand öffentlich angeboten wird (vgl. EuGH, Urt. v. 9.2.2006 - Rs. C-127/04, a.a.O., - O'Byrne, zu Art. 11 der Richtlinie; Katzenmeier in Dauner-Lieb/Langen, BGB, 2. Aufl., § 1 ProdHaftG Rz. 17; Wagner in MünchKomm/BGB, a.a.O., § 1 ProdHaftG Rz. 24 ff.; Staudinger/Oechsler, a.a.O., § 1 ProdHaftG Rz. 44 ff.). Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften und die Begründungen zum Entwurf des Produkthaftungsgesetzes haben eine Erläuterung des Begriffs des Inverkehrbringens nicht als erforderlich angesehen, weil sich der Begriff "aus seinem natürlichen Wortsinn von selbst verstehe" (Bulletin der EG, Beilage 11/76, Erl. zu Art. 5 = BT-Drucks. 7/5812, 8 sowie BT-Drucks. 11/2447, 14). Die amtliche Begründung zu § 1 ProdhaftG führt dazu aus, ein Produkt sei gewöhnlich in den Verkehr gebracht, wenn es in die Verteilungskette gegeben worden sei, also wenn der Hersteller es aufgrund seines Willensentschlusses einer anderen Person außerhalb seiner Herstellersphäre übergeben habe (BT-Drucks. 11/2447, 14). Diese Ansicht wird jedenfalls hinsichtlich des Endherstellers geteilt, weil aus seiner Perspektive ein Inverkehrbringen nur die Abgabe an den Handel oder an den Endverbraucher sein könne (Schmidt-Salzer, a.a.O., Art. 7 Rz. 15; vgl. auch § 6 des österreichischen Produkthaftungsgesetzes, wonach ein Produkt in den Verkehr gebracht ist, sobald es der Unternehmer einem anderen in dessen Verfügungsmacht oder zu dessen Gebrauch übergeben hat).

Rz. 21

b) Bei der Übertragung dieser Grundsätze auf den Streitfall ist zu beachten, dass Art. 7 der Richtlinie 85/374/EWG im Unterschied zu deren Art. 11 eng auszulegen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 9.2.2006 - Rs. C-127/04, a.a.O., - O'Byrne). Zudem sind die Besonderheiten des Produkts Elektrizität zu berücksichtigen. Im Hinblick darauf liegt ein Inverkehrbringen des Produkts Elektrizität erst mit der Lieferung des von dem Netzbetreiber übergabefähig transformierten Stroms über den Netzanschluss an den Anschlussnutzer vor (vgl. Katzenmeier in Dauner-Lieb/Langen, a.a.O.; Klein, BB 1991, 917, 923; ders., Die Haftung der Versorgungsunternehmen für Störungen in der Versorgungszufuhr, 1988, S. 245, 250 f.; Schweers, Vertragsbeziehungen und Haftung im novellierten Energiewirtschaftsrecht, 2001, S. 142). Denn aus der Niederspannungsanschlussverordnung ergibt sich, dass der Netzbetreiber gerade für die Stromqualität am Netzanschluss verantwortlich ist. Der Netzanschluss verbindet das Elektrizitätsversorgungsnetz der allgemeinen Versorgung mit der elektrischen Anlage des Anschlussnehmers. Er beginnt an der Abzweigstelle des Niederspannungsnetzes und endet grundsätzlich mit der Hausanschlusssicherung (vgl. § 5 NAV). Netzanschlüsse werden durch den Netzbetreiber hergestellt (§ 6 Abs. 1 Satz 1 NAV). Sie gehören noch zu den Betriebsanlagen des Netzbetreibers (§ 8 Abs. 1 Satz 1 NAV). Die Nutzung durch den Letztverbraucher mit den üblichen Verbrauchsgeräten beginnt mithin beim Netzanschluss und setzt einen fehlerfreien Strom zum Zeitpunkt der Entnahme des Stroms aus dem Elektrizitätsversorgungsnetz der allgemeinen Versorgung voraus. Nur dies wird den Interessen der durch die Richtlinie 85/374/EWG geschützten geschädigten Anschlussnutzer gerecht, für die entscheidend ist, dass ihnen eine fehlerfreie Elektrizität über ihren Stromanschluss zur Verfügung gestellt wird. Das Argument der Revision, der Herstellungsprozess "Umwandlung von Strom aus Mittelspannung in Niederspannung" sei mit der fehlerfreien Umspannung und Einspeisung in das Niederspannungsnetz abgeschlossen, greift zu kurz. Zwar qualifiziert - wie gezeigt - jedenfalls die Umspannung die Beklagte als Herstellerin im Sinne des Produkthaftungsgesetzes. Daraus folgt aber nicht, dass das Produkt Elektrizität mit Abschluss des Umspannungsprozesses auch ihre Sphäre als Herstellerin verlassen hätte. Denn ihre Verantwortung für die Qualität des gelieferten Stroms (vgl. § 16 Abs. 3 und 4, § 7 NAV) wirkt bis zum Zeitpunkt der Übergabe an den Anschlussnutzer weiter. Die Beklagte, welche dafür nach § 1 Abs. 4 ProdHaftG die Beweislast trägt, hat nichts dafür vorgetragen, dass zu dem nach den vorstehenden Ausführungen maßgeblichen Zeitpunkt ein fehlerfreies Produkt vorgelegen hat.

Rz. 22

4. Das Berufungsgericht hat mit Recht und von der Revision unbeanstandet angenommen, dass die Vorschrift des § 18 NAV der Haftung der Beklagten nicht entgegensteht. Es hat zutreffend auf die Begründung der Niederspannungsanschlussverordnung hingewiesen, nach der § 18 NAV die Haftung der Netzbetreiber nach dem Produkthaftungsgesetz unberührt lässt (BR-Drucks. 367/06, 60). Dementsprechend bezieht § 18 Abs. 1 Satz 1 NAV sich schon dem Wortlaut nach nur auf die Haftung aus Vertrag, Anschlussnutzungsverhältnis oder unerlaubter Handlung.

Rz. 23

5. Der erkennende Senat ist nicht gehalten, den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 1 bis 3 AEUV um eine Vorabentscheidung zu ersuchen. Die Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte der Mitgliedstaaten entfällt, wenn die betreffende gemeinschaftsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder wenn die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum mehr bleibt (vgl. EuGH, Urt. v. 6.10.1982 - Rs. C-283/81 - CILFIT, Slg. 1982, 3415, 3429 f., Rz. 14 ff.; v. 15.9.2005 - Rs. C-495/03 - Intermodal Transports, Slg. 2005, I-8191, 8206 Rz. 33 und ständig; BGH, Beschl. v. 22.3.2010 - NotZ 16/09, BGHZ 185, 30 Rz. 33). Angesichts der augenfälligen Herstellereigenschaft des den Strom transformierenden Netzbetreibers und der daraus folgenden Verantwortung für die Stromqualität bei der Übergabe an den Verbraucher ist letzteres der Fall.

 

Fundstellen

Haufe-Index 6661153

BGHZ 2014, 242

BB 2014, 1300

DB 2014, 13

DB 2014, 6

DB 2014, 892

NJW 2014, 2106

NJW 2014, 32

BauR 2014, 1362

EBE/BGH 2014

WM 2014, 1243

ZIP 2014, 22

DAR 2014, 313

JZ 2014, 337

JuS 2014, 13

MDR 2014, 525

MDR 2014, 8

RDV 2014, 272

RdE 2014, 234

VersR 2014, 593

GV/RP 2015, 93

KomVerw/LSA 2015, 72

RÜ 2014, 346

RdW 2014, 211

ZD 2014, 379

ZNER 2014, 262

ER 2014, 135

EWeRK 2014, 233

EnWZ 2014, 321

FuBW 2015, 121

FuHe 2015, 191

FuNds 2015, 187

GK/Bay 2014, 397

GK 2014, 349

IR 2014, 109

KomVerw/B 2015, 69

KomVerw/MV 2015, 68

KomVerw/T 2015, 72

LL 2014, 410

NWB-BB 2014, 164

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