Leitsatz (amtlich)

1. Lehnt ein Finanzgericht durch Beschluß eine Streitwertfeststellung ab, weil es seine sachliche Zuständigkeit verneint, so ist hiergegen im Rahmen des § 286 Abs. 1 AO die Rb. zulässig.

2. Die Vorschriften des § 94 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 4 Satz 1 AO gelten entsprechend für die Beschwerdeentscheidungen der Oberfinanzdirektion über Vorauszahlungsbescheide.

3. Wird eine Berufung nach § 94 Abs. 2 AO zur Hauptsache und hinsichtlich der Rechtsmittelkosten erledigt, so hat das Finanzgericht, soweit erforderlich, den Streitwert für die Berufungsinstanz festzustellen.

4. Die nach Erlaß eines Änderungs- oder Zurücknahmebescheids und Erklärung der Kostenübernahme (§ 94 Abs. 2 AO) vom Steuerpflichtigen ausgesprochene Zurücknahme der Berufung ist im allgemeinen keine Rechtsmittelzurücknahme im Sinne der §§ 253, 311 Abs. 3 und 319 Abs. 2 Ziff. 2 AO.

 

Normenkette

AO § 94 Abs. 2, 4, §§ 253, 311 Abs. 3, § 319 Abs. 2, § 320 Abs. 2

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Streitwert vom Finanzgericht oder von der Verwaltungsbehörde festzustellen ist, wenn die Berufung nach § 94 Abs. 2 Satz 2 AO erledigt worden ist.

Das Finanzamt hatte den Steuerpflichtigen durch Vorauszahlungsbescheid zur Gewerbesteuer herangezogen. Die Beschwerde des Steuerpflichtigen dagegen hatte das beschwerdeführende Landesfinanzamt (Bf.) als unbegründet zurückgewiesen. Während des anschließenden Berufungsverfahrens hob der Bf. seine Beschwerdeentscheidung und den Vorauszahlungsbescheid "gemäß § 93 AO" ersatzlos wieder auf mit dem Zusatz: "Die Kosten des Rechtsmittelsverfahrens trägt das Land (§ 309 AO)." Auf die Bitte des Bf. und auf Rückfrage der Vorinstanz erklärte der Steuerpflichtige: "In der Gewerbesteuersache ... nehme ich die Berufung hiermit zurück, nachdem das Landesfinanzamt den Berufungsführer klaglos gestellt und die Kosten des Verfahrens in vollem Umfang übernommen hat." In der Folge beantragte der Bf., den Streitwert für die Berufungsinstanz gerichtlich festzustellen, um den Kostenerstattungsantrag des Steuerpflichtigen erledigen zu können. Die Vorinstanz lehnte den Antrag durch Kammerbeschluß ab, weil nach § 320 Abs. 1 in Verbindung mit § 319 Abs. 2 Ziff. 2 AO nicht das Gericht, sondern der Bf. für die Streitwertfeststellung zuständig sei. Die Vorinstanz hat dazu im wesentlichen ausgeführt: Das Verwaltungsgericht könne den Streitwert nur feststellen, wenn die Berufung noch anhängig sei. Durch die Zurücknahme der Berufung sei das Verfahren aber endgültig beendet und kraft gesetzlicher Regelung das Landesfinanzamt zur Streitwertfeststellung zuständig geworden. Der Bundesfinanzhof habe zwar in seinem Urteil I 10/58 S vom 16. Februar 1960 (BStBl 1960 III S. 145, Slg. Bd. 70 S. 388) angenommen, daß der Streitwert vom Finanzgericht festzustellen sei, wenn es infolge Änderung des angefochtenen Bescheids nach § 94 Abs. 2 Satz 2 AO weder in der Hauptsache noch über die Kostentragung entscheide. Das könne aber nach Ansicht der Kammer nicht gelten, wenn der Steuerpflichtige abschließend seine Berufung zurückgenommen habe.

Mit der von der Vorinstanz wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassenen Rb. wird unrichtige Rechtsanwendung gerügt. Der Bf. ist der Auffassung, es habe sich um keine echte Berufungszurücknahme gehandelt, weil eine solche nach der Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache und im Kostenpunkt gegenstandslos und zur Rechtssicherheit und zur Rechtsklarheit nicht unbedingt rechtlich erforderlich sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist begründet.

1. Die Rb. ist zulässig. Streitwertfeststellungen der Finanzgerichte sind selbständig mit der Rb. anfechtbar, wenngleich die AO ein solches Rechtsmittel nicht besonders vorsieht (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs II 190/54 S vom 30. März 1955, BStBl 1955 III S. 158, Slg. Bd. 60 S. 415, und I 10/58 S, a. a. O.). Im vorliegenden Fall handelt es sich zwar nicht um die Höhe des Streitwerts, sondern um die sachliche Zuständigkeit zur Streitwertfeststellung. Die Gründe, die zur selbständigen Anfechtbarkeit der Streitwertfeststellung des Finanzgerichts führen, rechtfertigen jedoch auch, die Rb. im Streit wegen der sachlichen Zuständigkeit im Rahmen des § 286 Abs. 1 AO zuzulassen. Hinsichtlich der Höhe des Streitwertes ist die Rb. gegeben, insbesondere weil sonst ein unterschiedlicher Rechtszug bestände gegenüber den Streitwertfeststellungen der Finanzverwaltungsbehörden. Auch für die Frage der sachlichen Zuständigkeit steht der Rechtsweg zum Finanzgericht und zum Bundesfinanzhof offen, wenn die Finanzverwaltungsbehörde die Streitwertfeststellung unzuständigkeitshalber abgelehnt hat. Das Urteil des Bundesfinanzhofs VI 106/63 S vom 13. März 1964 (BStBl 1964 III S. 316) steht nicht entgegen. Es betrifft nur das Kostenerlaßverfahren nach § 319 Abs. 1 AO und läßt das Verfahren zur Streitwertfeststellung unberührt.

2. Die Vorinstanz ist zutreffend davon ausgegangen, daß es sich bei der ersatzlosen Aufhebung der Beschwerdeentscheidung und des Vorauszahlungsbescheides sowie bei der Kostenübernahme um Maßnahmen nach § 94 AO gehandelt hat. Nach dem Wortlaut des Abs. 4 dieser Vorschrift können zwar nur Einspruchsentscheidungen unter den gleichen Voraussetzungen wie Steuerbescheide zurückgenommen oder geändert werden, nicht dagegen andere Rechtsmittelentscheidungen. Zu den anderen Rechtsmittelentscheidungen hat von Anfang an auch die Beschwerdeentscheidung gezählt. In den rechtlichen Verhältnissen ist aber inzwischen eine Änderung eingetreten. Die Beschwerdeentscheidung ist als Verwaltungsakt seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes (GG) nach Art. 19 Abs. 4 mit dem Rechtsmittel der Berufung anfechtbar (Gutachten des Bundesfinanzhofs Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951, BStBl 1951 III S. 107, Slg. Bd. 55 S. 277); im § 237 Abs. 2 AO in der Fassung des Steueränderungsgesetzes vom 13. Juli 1961 (StÄndG 1961) hat diese Rechtslage jetzt auch in der AO ihren Niederschlag gefunden. Diese Rechtsentwicklung ist nach § 1 Abs. 2 StAnpG zu berücksichtigen. Es ist nunmehr gerechtfertigt, für die Anwendung des § 94 AO die Beschwerdeentscheidung der Einspruchsentscheidung gleichzustellen. Die gesetzliche Ausnahmestellung der Einspruchsentscheidung gegenüber anderen Rechtsmittelentscheidungen bezweckt, die Finanzgerichte nicht mit der Entscheidung solcher Sachen zu befassen, in denen das Finanzamt erkennt, daß es etwas falsch gemacht hat. Das Finanzamt soll die Sache dann -- wie bei einem Bescheid im Sinne des § 94 Abs. 1 AO -- in einfacherer Weise in Ordnung bringen können. Dieser Grund gilt auch für die Beschwerdeentscheidung über Vorauszahlungsbescheide, seitdem sie nicht mehr endgültig ist (vgl. v. Wallis in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Reichsabgabenordnung, § 94 Anm. 10; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, § 94 Anm. 10). Allerdings bezieht sich die Einspruchsentscheidung auf einen Bescheid, den das Finanzamt selbst erlassen hat; die Beschwerdeentscheidung betrifft hingegen einen Bescheid, der nicht von der Oberfinanzdirektion, sondern vom Finanzamt als Vorinstanz, also von einer anderen Behörde ergangen ist. Der Unterschied steht indessen der Gleichstellung nicht entgegen. In beiden Fällen handelt es sich um einen Verwaltungsakt, der der gerichtlichen Nachprüfung unterliegt. Vor dem Finanzgericht haben beide Behörden die gleiche Stellung; wie das Finanzamt nach einer Einspruchsentscheidung ist die Oberfinanzdirektion nach einer Beschwerdeentscheidung Beteiligte am Verfahren (Urteil des Bundesfinanzhofs IV 350/51 U vom 13. März 1952, BStBl 1952 III S. 104, Slg. Bd. 56 S. 264). Hinzu kommt folgende Erwägung: Wenn das Finanzamt seine Einspruchsentscheidung, die einen sehr gewichtigen Steueranspruch betreffen kann, ändern und damit dem Gerichtsverfahren den Boden entziehen kann, so wäre es nicht sachgemäß und widerspräche dem Grundsatz der Verfahrensökonomie, wollte man der Oberfinanzdirektion versagen, von ihrer mindergewichtigen Beschwerdeentscheidung über einen Vorauszahlungsbescheid abgehen zu dürfen. Das trifft um so mehr zu, als es dem Finanzamt möglich ist, den Vorauszahlungsbescheid -- ohne Rücksicht auf den vorliegenden Beschwerdebescheid -- während des Berufungsverfahrens zurückzunehmen (§ 94 Abs. 2 Satz 1 AO). Die Oberfinanzdirektion kann das Finanzamt dazu anweisen (§ 46 Abs. 2 AO). Bei dieser Rechtslage ist es verfahrensgerecht, den einfacheren Weg der unmittelbaren Zurücknahme durch die Oberfinanzdirektion zuzulassen, zumal sie die Verfahrensbeteiligte ist.

Steht im Sinne des § 94 Abs. 4 AO die Beschwerdeentscheidung über Vorauszahlungsbescheide der Einspruchsentscheidung gleich, so ist folgerichtig anzuerkennen, daß die Oberfinanzdirektion die Übernahme der Rechtsmittelkosten entsprechend § 94 Abs. 2 Satz 2 AO erklären kann, wenn sie ihren Beschwerdebescheid zurücknimmt.

3. Die Vorinstanz hat ihre Zuständigkeit zur Streitwertfeststellung zu Unrecht verneint. Es ist zwar richtig, daß nach § 320 Abs. 2 in Verbindung mit § 319 Abs. 2 Ziff. 2 AO der Vorsitzende der Behörde, gegen deren Entscheidung das Rechtsmittel gerichtet war, für die Streitwertfeststellung zuständig ist, wenn das Rechtsmittel seinem vollen Umfang nach zurückgenommen worden ist. Indes hat die Vorinstanz die rechtliche Bedeutung der Zurücknahmeerklärung des Steuerpflichtigen verkannt. Bei der Auslegung der Erklärung ist nicht allein auf den Wortlaut abzustellen, sondern sie ist im Zusammenhang mit den zugehörigen Umständen zu würdigen (Urteil des Bundesfinanzhofs IV 527/56 U vom 25. Juli 1957, BStBl 1957 III S. 435, Slg. Bd. 65 S. 527). Die erklärte Berufungszurücknahme stand in unmittelbarem Zusammenhang mit der Erledigung des Rechtsmittels in der Hauptsache und der erklärten Kostenübernahme des Bf. Nachdem der Bf. den Beschwerdebescheid und den Vorauszahlungsbescheid ersatzlos aufgehoben und die Kosten übernommen hatte, wollte der Steuerpflichtige keineswegs mit seiner Erklärung die gesetzlichen Folgen einer Rechtsmittelzurücknahme auslösen. Weder wollte er nach § 253 AO sein Rechtsmittel verlieren und dadurch die Rechtskraft des -- gar nicht mehr bestehenden -- Beschwerdebescheids herbeiführen, noch die Kostenfolge des § 311 Abs. 3 AO auf sich nehmen. Er wollte lediglich wunschgemäß ausdrücken, daß er sein Rechtsmittel in der Hauptsache und hinsichtlich der Kostentragung als erledigt ansieht. Daß dies in der Form der Berufungszurücknahmeerklärung geschah, ist allein darauf zurückzuführen, daß der Bf. den Steuerpflichtigen ausdrücklich darum gebeten hatte, ohne aber die an eine Rechtsmittelzurücknahme gesetzlich geknüpften Folgen zu wollen. Eine Rechtsmittelzurücknahme im Sinne des § 319 Abs. 2 Ziff. 2 AO ist also nicht erklärt worden. Damit entfällt die Anwendung dieser Bestimmung. Dann bleibt aber nur noch die Anwendung des § 319 Abs. 2 Ziff. 1 AO übrig. So hat der erkennende Senat auch bereits im Urteil I 10/58 S (a. a. O.) entschieden, daß das Finanzgericht zuständig für die Streitwertfeststellung ist, wenn bei Erledigung der Hauptsache nach § 94 Abs. 2 AO die Kosten vom Land getragen werden und deshalb eine förmliche Kostenentscheidung nicht erforderlich ist. Die Erwägungen der Vorinstanz geben keinen Anlaß, hiervon abzuweichen. Dem Finanzgericht obliegt, über den Streitgegenstand und die Kostentragung zu entscheiden sowie den Streitwert festzustellen. Entfallen die Entscheidung in der Hauptsache und die Kostenentscheidung nach § 94 Abs. 2 AO, so verbleibt doch die Streitwertfeststellung beim Finanzgericht. Soweit die Praxis anders verfährt (vgl. Boeker, Kostenrecht im steuerlichen Rechtsmittelverfahren, 2. Auflage, S. 191), bestehen dagegen keine Bedenken, solange kein Streit hinsichtlich der Streitwertfeststellung besteht.

Die Vorentscheidung war danach aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Das Verwaltungsgericht wird nunmehr den Streitwert für das Berufungsverfahren festzustellen haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 425883

BStBl III 1965, 332

BFHE 1965, 241

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