Leitsatz (amtlich)

Streitwertfeststellungen der Finanzverwaltungsbehörden und der Finanzgerichte sind im finanzgerichtlichen Rechtsmittelzuge -- unter den Voraussetzungen des § 286 Abs. 1 AO auch mit der Rechtsbeschwerde -- selbständig anfechtbar.

 

Normenkette

GG Art 19 Abs 4; AO §§ 229, 286 Abs. 1, §§ 319-320

 

Tatbestand

Die Beschwerdeführerin (Bfin.) hatte unter dem 25. April 1952 das Finanzamt um Zustimmung zur lohnsteuerfreien Auszahlung eines Betrages von 24 000 DM an einen ehemaligen Angestellten als Entschädigung wegen Entlassung aus dem Dienstverhältnis gebeten. Gegen den die Steuerfreiheit des Betrages verneinenden Bescheid des Finanzamts vom 7. Juli 1952 hatte sie Beschwerde erhoben, war aber von der Oberfiananzdirektion auf den ordentlichen finanzgerichtlichen Rechtsweg verwiesen worden. Das Finanzamt hat entsprechend der Rechtsauffassung der Oberfinanzdirektion am 29. April 1953 eine Einspruchsentscheidung erlassen, die aber vom Finanzgericht mit der Begründung wieder aufgehoben worden ist, daß der von der Bfin. angegriffene Bescheid des Finanzamts nichts anderes als eine im Berufungsverfahren nicht nachprüfbare Auskunftserteilung über das Bestehen und den Umfang einer künftig eintretenden Lohnsteuerpflicht darstellt.

Das Finanzgericht hat die Kosten des Verfahrens dem Lande auferlegt und den Wert des Streitgegenstandes auf 250 DM festgestellt.

Die Bfin., die im übrigen gegen die Entscheidung des Finanzgerichts kein Rechtsmittel eingelegt hat, fühlt sich durch die Streitwertfestsetzung des Finanzgerichts aus dem Grunde beschwert, weil das Finanzamt im Einspruchbescheid entsprechend der Höhe der zu zahlenden Lohnsteuer den Streitwert auf 8 215 DM festgesetzt hatte und weil sie die Auffassung vertritt, daß aus diesem Grunde jeder mit der Vertretung ihrer, der Bfin., Interessen beauftragte Rechtsanwalt oder Steuerberater die ihm zustehenden Gebühren nach dem zunächst vom Finanzamt festgesetzten Streitwert berechnen würde. Infolge der abweichenden Streitwertfeststellung seitens des Finanzgerichts werde ihr Erstattungsanspruch gegenüber dem Fiskus wesentlich beeinträchtigt.

Die Bfin. hat aus diesem Grunde um Erlaß eines Änderungsbeschlusses durch das Finanzgericht gebeten, hilfsweise um Weiterleitung der Sache an den Bundesfinanzhof.

Das Finanzgericht hat sich zur Abänderung seiner Entscheidung über den Streitwert nicht für befugt gehalten und deshalb entsprechend dem Hilfsantrag der Bfin. die Sache dem Bundesfinanzhof zur Entscheidung vorgelegt.

 

Entscheidungsgründe

Der Hilfsantrag der Bfin. ist als Rechtsbeschwerde (Rb.) zu behandeln, als solche zulässig und auch sachlich begründet.

Nach der sich an das Gutachten des Großen Senats Gr. S. D 1/51 S vom 17. April 1951 (Slg.Bd. 55 S. 277, Bundessteuerblatt -- BStBl. -- 1951 III S. 107) anschließenden ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs steht gegen alle Verwaltungsakte der Finanzverwaltungsbehörden, durch die jemand nach seiner Behauptung in seinen Rechten, insbesondere auch durch Ermessensmißbrauch, verletzt ist, auf Grund des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) der Rechtsweg auch insoweit offen, als nach der Reichsabgabenordnung eine finanzgerichtliche Anfechtung an sich nicht vorgesehen ist. Der Bundesfinanzhof ist bei dieser Rechtsprechung grundsätzlich davon ausgegangen, daß für den gegenüber der Reichsabgabenordnung erweiterten Rechtsmittelschutz des Art. 19 Abs. 4 GG verfahrensmäßig die Vorschriften des § 229 der Reichsabgabenordnung entsprechend anzuwenden sind, so daß zunächst die Berufung an das Finanzgericht und anschließend -- unter den Voraussetzungen des § 286 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung in der Fassung des Gesetzes über den Bundesfinanzhof vom 29. Juni 1950 (Bundesgesetzblatt -- BGBl. -- S. 257) -- die Rb. an den Bundesfinanzhof gegeben ist (vgl. besonders Urteile II 218/53 S vom 17. Februar 1954, Slg.Bd. 58 S. 540, BStBl. 1954 III S. 117, und I 107/53 U vom 25. August 1953, Slg.Bd. 58 S. 4, BStBl. 1953 III S. 293 mit Wiedergabe weiterer Rechtsprechungszitate).

Soweit daher Streitwertfestsetzungen durch die Finanzverwaltungsbehörden -- sei es als Rechtsmittelinstanzen (§ 320 Abs. 2, § 319 Abs. 2 Ziff. 1 der Reichsabgabenordnung), sei es bei Zurücknahme der Berufung in den Fällen des § 319 Abs. 2 Ziff. 2 (§ 320 Abs. 2) der Reichsabgabenordnung -- vorgenommen werden, kann es danach keinem Zweifel unterliegen, daß diese Streitwertfestsetzungen in dem gekennzeichneten Rechtsmittelzuge ohne Rücksicht darauf selbständig anfechtbar sind, ob nach der Reichsabgabenordnung eine solche selbständige Anfechtbarkeit vorgesehen ist oder nicht.

Der Reichsfinanzhof hat zwar in zeitlich zurückliegenden Entscheidungen zu § 221 der Reichsabgabenordnung alter Fassung (jetzt § 232 der Reichsabgabenordnung) bzw. zu § 243 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung alter Fassung (jetzt § 320 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung) die Auffassung vertreten, daß die Streitwertfeststellungen sowohl der Finanzverwaltungsbehörden wie auch der Berufungsinstanzen -- ähnlich wie in der Regel die Kostenentscheidungen als solche -- nicht selbständig anfechtbar seien und nicht ohne eine gleichzeitige Einlegung von Rechtsmitteln in der Hauptsache, d. h. gegen die Steuerbescheide selbst, im Rechtsmittelwege angegriffen werden könnten (so. u. a. noch nicht eindeutig Urteil II 229/20 vom 4. Februar 1921, Slg.Bd. 5 S. 10 ff., 13, später ausdrücklich mit Begründung Urteil VI A 1956/29 vom 19. Dezember 1929, Steuer und Wirtschaft 1930 Nr. 460). Es kann dahingestellt bleiben, ob diese sich zum Teil auf den Wortlaut des § 243 Abs. 1 Satz 1 der Reichsabgabenordnung damaliger Fassung stützende Auffassung, nach dem nur "bei der Entscheidung über das Rechtsmittel" -- also als Bestandteil der einheitlichen Rechtsmittelentscheidung -- der Wert des Streitgegenstandes festzustellen war, noch für § 320 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung jetziger Fassung schlechthin zutreffen kann, nach dem der Wert des Streitgegenstandes "soweit erforderlich" festzustellen ist. Denn diese Urteile können für das geltende Recht hinsichtlich der Streitwertfeststellungen der Finanzverwaltungsbehörden nicht mehr als maßgebend erachtet werden, nachdem auf Grund des Art. 19 Abs. 4 GG jeder Verwaltungsakt der Nachprüfung im finanzgerichtlichen Rechtsmittelzuge bei geltend gemachter Rechtsverletzung unterliegt.

Der erkennende Abgabenordnungsenat ist aber darüber hinaus der Auffassung, daß es für die Frage des gerichtlichen Instanzenzuges keinen Unterschied machen kann, ob ein Steuerpflichtiger sich erstmalig gegen die Streitwertfeststellung des Finanzamts oder erstmalig gegen eine solche des Finanzgerichts wendet. Es würde mit den durch die erwähnte Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen über die entsprechende Anwendung der Verfahrensvorschriften des Berufungs-(Rechtsbeschwerde-)Verfahrens auf den erweiterten Rechtsmittelschutz nach Art. 19 Abs. 4 GG nicht im Einklang stehen, wenn die selbständige Rechtsbeschwerde gegen die Streitwertfeststellung des Finanzgerichts nicht zugelassen würde, während der Instanzenzug gegen die Streitwertfeststellung des Finanzamts, z. B. im Einspruchsbescheid, bis zum Bundesfinanzhof läuft. Dabei kann es nicht entscheidend darauf ankommen, daß im Streitfalle die Streitwertfeststellung im Rahmen eines richterlichen Urteils und nicht durch einen Verwaltungsakt erfolgt ist. In Fällen der Zurücknahme der Rb. setzt der "Vorsitzende der Behörde" den Streitwert nach § 319 Abs. 2 Ziff. 2 in Verbindung mit § 320 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung fest; bei dieser Entscheidung des Kammervorsitzenden des Finanzgerichts handelt es sich um einen Verwaltungsakt, gegen den deshalb der Rechtsmittelweg zur Kammer des Finanzgerichts und zum Bundesfinanzhof ohne weiteres gegeben ist (vgl. u. a. das oben angeführte Grundsatzurteil II 218/53 S). Es erscheint mit dem einheitlichen Aufbau des finanzgerichtlichen Verfahrens nicht vereinbar, in Fällen von geringfügigerer Bedeutung (bei Zurücknahme des Rechtsmittels) die Rb. an den Bundesfinanzhof zuzulassen, sie aber in Fällen von sachlich größeren kostenmäßigen Auswirkungen zu versagen.

Hinzu kommt, daß nach dem angeführten Urteil II 218/53 S gegen Kostenfestsetzungsbescheide der Finanzämter und der Vorsitzenden der Kammern der Finanzgerichte die Berufung und in dem gekennzeichneten Umfange die R b. an den Bundesfinanzhof gegeben sind. Es entspricht den Grundsätzen dieses Urteils, auch in Fällen nach Art des Streitfalles den Rechtsmittelweg zum Bundesfinanzhof zu gewähren, zumal die Streitwertfeststellung erst die Grundlage für die Kostenfestsetzung bildet und auch vielfach mit ihr verbunden zu werden pflegt, z. B. wenn eine Rechtsmittelbehörde die Streitwertfeststellung unterlassen hat (vgl. dazu Nake, "Der Betriebs-Berater" 1954 S. 1096).

Nach alledem ist die Rb. gegen die Streitwertfeststellung des Finanzgerichts als zulässig zu erachten (im Ergebnis übereinstimmend u. a. Berger, "Der Steuerprozeß", Anm. -- 2. Abs. letzter Satz -- zu § 321 der Reichsabgabenordnung S. 604, vgl. dazu auch Nake a. a. O., ferner -- zur Frage der selbständigen Anfechtbarkeit von Kostenentscheidungen -- Urteil des Bundesfinanzhofs IV 554/53 U vom 28. Januar 1954, Slg.Bd. 58 S. 470, BStBl. 1954 III S. 90, sowie rechtskräftiges Urteil des Finanzgerichts Nürnberg I 336/53 vom 18. Dezember 1953, Entscheidungen der Finanzgerichte Nr. 70/1954 S. 63). Die Bestimmung des § 304 Abs. 4 der Reichsabgabenordnung, nach der gegen Verfügungen der Finanzgerichte eine Beschwerde nicht zulässig ist, steht übrigens dem vorstehenden Ergebnis nicht entgegen, da sie sich nur auf sogenannte prozeßleitende Verfügungen bezieht (vgl. Riewald, Teil II, Anm. 3, Abs. 4 zu § 304 der Reichsabgabenordnung).

Die Bfin. ist auch durch die Streitwertfeststellung persönlich beschwert, da die Höhe ihres nach § 316 der Reichsabgabenordnung neuer Fassung gegebenen Rechtsanspruchs auf Erstattung der Kosten ihres Steuerberaters von der Höhe des Streitwertes maßgebend abhängig ist. Die gelegentlich auch noch in neuester Zeit vertretene Auffassung, daß der Steuerpflichtige selbst niemals ein Interesse an einer Erhöhung des Streitwertes haben könne (so Klempt-Meyer, Rechtsmittelverfahren und Rechtsmittelkosten in Steuerstreitsachen S. 61 unter d), ist mit § 316 der Reichsabgabenordnung neuer Fassung nicht vereinbar und würde im Ergebnis die Geltendmachung der Rechtsansprüche aus dieser Vorschrift entgegen den Absichten des Gesetzgebers beeinträchtigen, zumal der Rechtsvertreter im Steuerprozeß kein selbständiges Anfechtungsrecht gegen eine Streitwertfestsetzung hat, das dem Rechtsanwalt im Zivilprozeß nach § 12 der Rechtsanwaltsgebührenordnung aus eigenem Recht gegen eine zu niedrige Wertfeststellung grundsätzlich zusteht (vgl. dazu Baumbach-Lauterbach, Kostengesetze 12. Aufl. 1955, Anm. 4, A, b zu § 18 des Gerichtskostengesetzes).

Auch in der Sache selbst ist das Rechtsmittel begründet. Wenn auch für die Streitwertfeststellung gemäß § 320 Abs. 4 der Reichsabgabenordnung das freie Ermessen der Rechtsmittelbehörde gilt, so ist eine Nachprüfung dieses Ermessens gleichwohl im Rahmen der Grenzen von Recht und Billigkeit geboten. Im Streitfalle erscheint es aber nicht vertretbar, daß das Finanzgericht den Streitwert, den das Finanzamt im Einspruchsbescheid auf 8215 DM bemessen hatte, in dem den Einspruchsbescheid aufhebenden Urteil auf den Betrag von nur 250 DM herabgesetzt hat. Denn wenn es auch richtig ist, daß das Finanzamt unbeschadet des Erlasses eines formellen Einspruchsbescheides noch nicht endgültig die Lohnsteuerpflicht des Abfindungsbetrages bejahen konnte, so war doch die von ihm erteilte Auskunft insofern von entscheidender Bedeutung für die Bfin., als diese bei Außerachtlassung der vom Finanzamt bezüglich der Steuerpflicht getroffenen Feststellung mit einer Haftbarmachung in Höhe von 8215 DM rechnen mußte. Der Streitwert ist daher unter allen Umständen weit höher als 250 DM, so daß die Streitwertfeststellung des Finanzgerichts in Anbetracht der Kosteninteressen der Bfin. unbillig niedrig erscheint und daher eine Ermessensverletzung darstellt.

Der Senat hebt deshalb die Streitwertfeststellung des Finanzgerichts auf und schätzt den Streitwert mit Rücksicht darauf, daß die Auskunft des Finanzamts in der Wirkung einem Haftungsbescheid annähernd gleichkam, auf rund 8000 DM. Eine Zurückweisung an das Finanzgericht erübrigte sich -- abgesehen von prozeßökonomischen Gründen -- schon deshalb, weil es sich um die Abänderung einer richterlichen Ermessensentscheidung handelt.

Die Kosten der Rb. fallen dem Lande zur Last (§ 309 der Reichsabgabenordnung).

 

Fundstellen

Haufe-Index 408154

BStBl III 1955, 158

BFHE 1955, 415

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