Entscheidungsstichwort (Thema)

Verzicht des FG auf Beweiserhebung, Urkundenbeweis im finanzgerichtlichen Verfahren

 

Leitsatz (NV)

1. Gemäß §76 Abs. 1 FGO muß das FG erforderlichenfalls unter Ausnutzung aller verfügbarer Beweismittel den Sachverhalt so vollständig wie möglich aufklären. Auf die Erhebung eines von einem Beteiligten bezeichneten Beweismittels darf im Regelfall nur verzichtet werden, wenn das FG die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsache zugunsten der betreffenden Partei unterstellt, das Beweismittel nicht erreichbar oder die Tatsache rechtsunerheblich sei.

2. Der Umstand, daß §82 FGO nicht auf §§415 bis 444 ZPO verweist, schließt im finanzgerichtlichen Verfahren den Urkundenbeweis nicht aus (vgl. §81 Abs. 1 Satz 2 FGO).

 

Normenkette

FGO § 76 Abs. 1, § 81 Abs. 1 S. 2, § 82

 

Verfahrensgang

FG Nürnberg

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, wurde mit Gesellschaftsvertrag vom 17. Januar 1986 errichtet und am 17. April 1986 in das Handelsregister eingetragen. Gegegenstand des Unternehmens war der Erwerb und die Verwertung von Erfindungen, die Vergabe von Lizenzen und Unterlizenzen im In- und Ausland sowie Handelsgeschäfte aller Art. Alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer war J. Mit Beschluß der Gesellschafterversammlung vom 15. Oktober 1990 wurde die Gesellschaft aufgelöst.

Die Klägerin schloß am 31. Januar 1986 einen Lizenzvertrag mit dem Inhaber eines Patents für einen neuartigen Bodenbelag für Tennisplätze in der Bundesrepublik Deutschland und 22 weiteren Ländern (Lizenzgeber), durch den sie die Nutzungsrechte des Patents erhielt. Als Gegenleistung wurde eine einmalige "Eingangszahlung" für die Übertragung der Rechte von ... DM und ... DM Beratungsgebühren zuzüglich ... DM Umsatzsteuer sowie Stücklizenzgebühren vereinbart. Für die "Eingangszahlung" wurde Ratenzahlung festgelegt, wobei der größte Teil der Ratenzahlungen erst fällig werden sollte, wenn die Stücklizenzgebühren eine bestimmte Höhe erreichten.

Die Klägerin lieferte ab April 1986 den patentierten neuartigen Bodenbelag an verschiedene Unternehmen im Inland (Leistungsempfänger), die damit Tennisplätze errichteten. Der Bodenbelag wurde sackweise angeliefert, war auf dem Unterbau mit einer durchschnittlichen Stärke von 2 bis 3 cm aufzutragen und wurde nach oben von einem verkehrsüblichen Ziegelmehlbelag ergänzt.

Die von den Leistungsempfängern errichteten Tennisplätze stellten sich als ungeeignet für die Bespielung heraus. Sie wurden von den Bestellern nicht abgenommen. Die Leistungsempfänger bezahlten die von der Klägerin ausgestellten Rechnungen nicht. Sie machten erhebliche Schadensersatzansprüche geltend. Der Lizenzvertrag wurde daraufhin am 31. Juli 1986 durch den Lizenzgeber fristlos gekündigt. In der Folgezeit kam es zur Auflösung des Lizenzvertrages.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) hatte den von der Klägerin in der Umsatzsteuervoranmeldung für Januar 1986 geltend gemachten Vorsteuerbetrag in Höhe von ... DM aus der Rechnung über die "Eingangszahlung" und die Beratergebühr zunächst erstattet, jedoch mit Bescheid vom 18. Juni 1986 in Höhe von ... DM wieder zurückgefordert. Im Anschluß an eine in der Zeit vom 13. August 1986 bis 28. Januar 1987 durchgeführten Fahndungsprüfung setzte das FA die Umsatzsteuer für 1986 mit Bescheid vom 17. Februar 1989 auf ./. ... DM fest.

Die Klägerin reichte in der Folgezeit für 1986 bis 1989 Umsatzsteuererklärungen ein, in denen sie die Umsatzsteuer wie folgt ermittelte:

1986 1987 1988 1989

DM DM DM DM

steuerfreie Umsätze (Erträge aus

Wertpapieren und Ausleihungen des

Finanzanlagevermögens) ... ... ... ...

steuerpflichtige Umsätze ... ... ... ...

abziehbare Vorsteuer ... ... ... ...

Umsatzsteuerschuld ... ... ... ...

Das FA lehnte mit Verwaltungsakt vom 8. November 1993 die Durchführung von Umsatzsteuerveranlagungen 1987 bis 1989 ab. Mit geändertem Bescheid vom 25. November 1993 setzte es die Umsatzsteuer 1986 auf 0 DM fest.

Der Einspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg. Das FA war der Meinung, die Klägerin sei kein Unternehmer i. S. des §2 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes 1980. Da sie nicht nachhaltig Leistungen gegen Entgelt ausgeführt habe, sei sie nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt.

Während des finanzgerichtlichen Verfahrens beantragte die Klägerin sinngemäß, die zivilgerichtlichen Akten beizuziehen, um die Frage der Tauglichkeit des von ihr gelieferten Bodenbelags zu klären. Sie führte aus, sie habe weder das von ihr gelieferte Material noch die Tennisplätze hergestellt. Die Beiziehung der Akten werde ergeben, daß die eigentliche Ursache für die Mängel der Tennisplätze nicht habe geklärt werden können. Daraus ergebe sich, daß sie, die Klägerin, bei der Lieferung des Materials von einer berechtigten Entgelterwartung habe ausgehen können.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Die Entscheidungsgründe lauten auszugsweise: "Der ... -Belag war jedoch offenbar für den Tennisplatzbau ungeeignet. Die Klägerin räumt selbst ein, daß die Wasserdurchlässigkeit nicht gegeben gewesen war und in der Folge die Plätze brüchig geworden sind. ... Wenn aber das gelieferte ... -Material für den Tennisplatzbau völlig ungeeignet war, ist den Auftraggebern der Klägerin keine Leistung verblieben, die einen Wertzuwachs verkörpert hätte. Der Senat mußte bei dieser Sachlage der Frage, wer die Untauglichkeit der Plätze letztlich zu vertreten hat, nicht weiter nachgehen. ... Da die Klägerin keine Ausgangsleistungen erbracht hat und damit keine Unternehmerin geworden ist, war die auf die Anerkennung des Vorsteuerabzugs bzw. auf Veranlagung zur Umsatzsteuer gerichtete Klage abzuweisen."

Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung und die Bescheide des FA in Gestalt der Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Umsatzsteuer für die Jahre 1986 bis 1989 wie beantragt festzusetzen.

Das FA, das sich der Revision der Klägerin nicht angeschlossen hat, beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --). Die Vorentscheidung ist aufzuheben, weil das FG den Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt und dadurch gegen §76 FGO verstoßen hat.

1. Diesen Verfahrensfehler hat die Klägerin ordnungsgemäß durch die Bezugnahme auf die Begründung ihrer erfolgreichen Nichtzulassungsbschwerde gerügt (§120 Abs. 2 Satz 2 FGO), weil diese eine eingehende Bezeichnung der Tatsachen enthält (vgl. zur ordnungsgemäßen Rüge der unterlassenen Beweiserhebung: Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 4. März 1992 II B 201/91, BFHE 166, 574, BStBl II 1992, 562). Die in der Nichtzulassungsbeschwerde vorgetragenen Tatsachen ergeben den Verfahrensfehler (vgl. zur Begründung des Verfahrensmangels durch Bezugnahme auf die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde: BFH-Urteil vom 17. März 1994 V R 92/91, BFH/NV 1995, 314, m. N.).

2. Das FG hat den entscheidungserheblichen Sachverhalt -- unter Zugrundelegung seines materiell-rechtlichen Standpunkts -- verfahrensfehlerhaft nicht vollständig aufgeklärt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Vorentscheidung bei vollständiger Sachverhaltsaufklärung ganz oder teilweise zugunsten der Klägerin ausgefallen wäre.

a) Das FG hat die Klage abgewiesen, weil den Leistungsempfängern wegen der Untauglichkeit des von der Klägerin gelieferten Materials für den Tennisplatzbau kein Wertzuwachs verblieben sei. Es hat damit den Rechtsstandpunkt vertreten, eine ungeeignete Leistung sei keine Leistung im Sinn des Umsatzsteuerrechts. Auf der Grundlage dieser Rechtsauffassung durfte das FG den Antrag der Klägerin nicht übergehen, die zivilgerichtlichen Akten beizuziehen, um die Frage der Tauglichkeit des von der Klägerin gelieferten Materials zu klären.

b) Gemäß §76 Abs. 1 FGO muß das FG erforderlichenfalls unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel den Sachverhalt so vollständig wie möglich aufklären. Auf die Erhebung eines von einem Beteiligten bezeichneten Beweismittels darf im Regelfall nur verzichtet werden, wenn das FG die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsache zugunsten der betreffenden Partei unterstellt, das Beweismittel nicht erreichbar oder die Tatsache rechtsunerheblich ist (BFH-Urteil vom 19. September 1985 VII R 164/84, BFH/NV 1986, 674, m. w. N.). Der Umstand, daß §82 FGO nicht auf §§415 bis 444 der Zivilprozeßordnung (ZPO) verweist, schließt im finanzgerichtlichen Verfahren, wie §81 Abs. 1 Satz 2 FGO zu entnehmen ist, den Urkundenbeweis nicht aus. Lediglich die formalisierten Beweisregeln der ZPO sollten zugunsten der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht übernommen werden (vgl. BFH-Urteil vom 19. Juli 1995 I R 87, 169/94, BFHE 178, 303, BStBl II 1996, 19, m. N.).

c) Im Streitfall kamen die zivilgerichtlichen Akten als Urkunden für einen Urkundsbeweis in Betracht (§81 Abs. 1 Satz 2 FGO). Der Beweisantrag im Schriftsatz der Klägerin vom 24. Juli 1995 war hinreichend substantiiert (vgl. dazu BFH-Urteil vom 26. Februar 1985 VII R 137/81, BFH/NV 1986, 136) und für die Entscheidung bedeutsam, so daß das FG die Akten nach pflichtgemäßem Ermessen beiziehen mußte.

Das FG hat den Beweisantrag in der Vorentscheidung unrichtig wiedergegeben. Die Klägerin hatte in ihrem Schriftsatz vom 24. Juli 1995 vorgetragen, es sei nicht geklärt, welche Mängel vorgelegen hätten, und sie hatte -- wenn auch sinngemäß -- die Beiziehung der zivilgerichtlichen Akten beantragt, um die Frage der Tauglichkeit des Materials klären zu lassen. Der Beweisantrag bezog sich nicht lediglich auf die -- nach der Rechtsauffassung des FG unmaßgebliche -- Frage, wer die aufgetretenen Mängel zu verantworten habe.

d) Die unterlassene Beweiserhebung kann für den Ausgang des Rechtsstreits erheblich sein. Das FG wäre nach Beiziehung der zivilgerichtlichen Akten möglicherweise zu dem Ergebnis gekommen, es sei nicht zu klären, ob der von der Klägerin gelieferte Bodenbelag ungeeignet gewesen sei. Es ist nicht auszuschließen, daß das FG aufgrund dieses Beweisergebnisses und auf der Grundlage seiner materiell-rechtlichen Rechtsauffassung zu einer gegenteiligen -- für die Klägerin günstigen -- Entscheidung gekommen wäre. Denn es hat die Abweisung der Klage ausschließlich darauf gestützt, die Klägerin habe die fehlende Eignung des Materials eingeräumt.

3. Da schon die Verletzung des §76 FGO zur Aufhebung der Vorentscheidung führt, braucht der Senat nicht darauf einzugehen, ob die angefochtene Entscheidung weitere Rechtsverstöße enthält.

4. Die Vorschrift des §126 Abs. 4 FGO findet im Streitfall keine Anwendung. Der Senat kann mangels hinreichender Feststellungen des FG nicht beurteilen, ob sich dessen Entscheidung mit einer vom Verfahrensmangel unabhängigen Begründung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (Urteil vom 29. Februar 1996 Rs. C-110/94 INZO, Slg. 1996, I-857, 870 Rdnr. 21, BStBl II 1996, 655) rechtfertigen läßt.

Das FG wird im zweiten Rechtszug auch seine Auffassung überprüfen können, eine ungeeignete Leistung sei keine Leistung im Sinn des Umsatzsteuerrechts.

 

Fundstellen

Haufe-Index 66494

BFH/NV 1998, 611

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