Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausnahmen vom Vertretungszwang nach Art. 1 Nr. 1 BFHEntlG - Zweck des § 68 FGO - Gestaltungsmißbrauch - steuerliche Berücksichtigung von Verträgen zwischen nahen Angehörigen

 

Leitsatz (amtlich)

Die Erklärung, einen geänderten Bescheid zum Gegenstand des Verfahrens zu machen, unterliegt nicht dem Vertretungszwang.

 

Orientierungssatz

1. Die gesetzliche Normierung des Vertretungszwangs für Verfahren vor dem BFH hat grundsätzlich zur Folge, daß den Beteiligten die Postulationsfähigkeit fehlt. Eine Vertretung ist ausnahmsweise nicht geboten, wenn die Prozeßhandlung zu einer Beendigung des Verfahrens führt, wenn weitere Handlungen eines Beteiligten nicht erforderlich sind oder wenn eine Erklärung auch zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle abgegeben werden kann (vgl. BFH-Rechtsprechung).

2. § 68 FGO dient in erster Linie dem Schutz des Klägers, daneben auch der Beschleunigung des Verfahrens. Durch eine Änderung (oder Ersetzung) des angefochtenen Bescheids soll das FA den laufenden Prozeß nicht gegen den Willen des Klägers beenden können, so daß dieser gezwungen wäre, ein neues Verfahren zu beginnen (vgl. Literatur). Diesen Schutz genießt der Kläger auch im Revisionsverfahren.

3. NV: Ein Mißbrauch i.S. von § 42 AO 1977 liegt dann vor, wenn eine Gestaltung gewählt wird, die gemessen an dem erstrebten Ziel unangemessen ist, der Steuerminderung dienen soll und durch wirtschaftliche oder sonst beachtliche Gründe nicht zu rechtfertigen ist (vgl. BFH-Rechtsprechung; Literatur).

4. NV: Die steuerliche Berücksichtigung von Verträgen zwischen nahen Angehörigen setzt voraus, daß jene ernsthaft gewollt sind, tatsächlich (wie vereinbart) durchgeführt werden und deren Inhalt angemessen und üblich ist (vgl. BFH-Rechtsprechung).

 

Normenkette

AO 1977 § 42; BFHEntlG Art. 1 Nr. 1; EStG § 12 Nr. 1; FGO §§ 68, 123

 

Tatbestand

I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind miteinander verheiratet und werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Durch notariellen Vertrag vom 28.November 1983 erwarben sie von den Eltern des Klägers das Einfamilienhaus in X je zur Hälfte. Das Haus wurde von den Eltern bewohnt. Der vereinbarte Kaufpreis von … DM sollte wie folgt bezahlt werden:

- Übernahme von Belastungen, die in Höhe von … DM valutierten,

- Tilgung des Restkaufpreises in monatlichen Raten von 660 DM, zahlbar jeweils monatlich im voraus bis zum 5.Werktag eines jeden Monats, erstmals für den Monat Dezember 1983, bis zur vollständigen Tilgung. Nach Belehrung durch den Notar verzichteten die Beteiligten auf eine Sicherung dieser zinslosen Restkaufpreisschuld. Zeitgleich mit dem notariellen Kaufvertrag schloß der Kläger mit den Eltern einen Mietvertrag über das Einfamilienhaus; nach diesem Vertrag hatten die Eltern als bisherige Eigentümer und nunmehrige Mieter monatlich einen Betrag von 660 DM als Miete zu entrichten. Ab Dezember 1983 verrechneten die Beteiligten die Miete monatlich mit der Tilgungsrate für den Restkaufpreis. In ihrer Einkommensteuererklärung für 1983 machten die Kläger bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung einen Werbungskostenüberschuß in Höhe von 11 472,21 DM geltend, den sie aus Einnahmen für Dezember 1983 in Höhe von 660 DM sowie Werbungskosten für Schuldzinsen und Notarkosten in Höhe von 2 132 DM und eine Absetzung für Abnutzung (AfA) in Höhe von 10 000 DM errechneten.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) ging bei der Veranlagung von einem unentgeltlichen Erwerb der Kläger aus.

Der Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid vom 6.April 1984 blieb ohne Erfolg

(Einspruchsentscheidung vom 18.Juni 1984).Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 42 AO 1977.Es beantragt,unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.Die nicht vertretenen Kläger haben keinen Antrag gestellt. Sie haben den Änderungsbescheid vom 27.Februar 1991, in dem die Höhe des Kinderfreibetrags für vorläufig erklärt wird, zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet; sie führt gemäß § 126 Abs.3 Nr.2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Die Kläger waren berechtigt, den Änderungsbescheid vom 27.Februar 1991 zum Gegenstand des Verfahrens zu machen, auch ohne gemäß Art.1 Nr.1 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) durch einen Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer vertreten gewesen zu sein.

Die gesetzliche Normierung des Vertretungszwangs für Verfahren vor dem Bundesfinanzhof (BFH) hat grundsätzlich zur Folge, daß den Beteiligten die Postulationsfähigkeit fehlt. Nach der Rechtsprechung ist ausnahmsweise eine Vertretung nicht geboten, wenn die Prozeßhandlung zu einer Beendigung des Verfahrens führt (BFH-Beschlüsse vom 13.März 1979 VII K 2/79, BFHE 127, 309, BStBl II 1979, 431; vom 17.Juli 1979 VII B 20/77, BFHE 128, 327, BStBl II 1979, 707; vom 17.Februar 1981 VII R 14/80, BFHE 132, 400, BStBl II 1981, 395; vom 17.September 1982 VI R 62/82, BFHE 136, 448, BStBl II 1983, 25), wenn weitere Handlungen eines Beteiligten nicht erforderlich sind (BFH-Urteil vom 24.Oktober 1978 VII R 17/77, BFHE 126, 506, BStBl II 1979, 265) oder wenn eine Erklärung auch zu Protokoll des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle abgegeben werden kann (BFH-Beschluß vom 16.Januar 1984 GrS 5/82, BFHE 140, 408, BStBl II 1984, 439; zu Ausnahmen vom Vertretungszwang im Bereich der Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit vgl. Günther, Deutsches Verwaltungsblatt ―DVBl― 1988, 1039 m.w.N.).

Eine weitere Ausnahme ist für die Erklärung nach §§ 68, 123 FGO zuzulassen. § 68 FGO dient in erster Linie dem Schutz des Klägers, daneben auch der Beschleunigung des Verfahrens. Durch eine Änderung (oder Ersetzung) des angefochtenen Bescheids soll das FA den laufenden Prozeß nicht gegen den Willen des Klägers beenden können, so daß dieser gezwungen wäre, ein neues Verfahren zu beginnen (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13.Aufl. ―Stand November 1990―, § 68 FGO Tz.1; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 2.Aufl. 1987, § 68 Rdnr.1). Wie die ausdrückliche Erwähnung des § 68 FGO in § 123 Satz 2 FGO zeigt, genießt der Kläger diesen Schutz auch im Revisionsverfahren.Gegenüber dieser Regelung hat Art.1 Nr.1 BFHEntlG zurückzutreten; dieser soll die auf mangelnder Sachkenntnis der Beteiligten beruhende Überlastung des BFH beseitigen; er dient insoweit auch deren Schutz (vgl. Bericht des Rechtsausschusses vom 16.Mai 1975, BTDrucks 7/3654, S.4). Dieser gesetzgeberische Zweck verlangt nicht, auch die Erklärung nach §§ 68, 123 FGO dem Vertretungszwang zu unterstellen. Diese Erklärung erfordert keine besondere Sachkenntnis, die im Interesse der Rechtspflege und zum Schutze der Beteiligten eine Vertretung zwingend geboten erscheinen läßt. Wie gerade der Streitfall zeigt, dient die abgegebene Erklärung der Prozeßökonomie, indem ein weiteres Verfahren vermieden wird, sowie der reibungslosen Abwicklung des anhängigen Verfahrens und damit auch der Entlastung des BFH; sie entspricht ferner dem schutzwürdigen Interesse der Kläger an einer alsbaldigen Sachentscheidung. Diese Überlegungen gelten insbesondere für den Fall, daß ―wie hier― der geänderte Bescheid Klage- und Revisionsbegehren überhaupt nicht berührt.

2. Auf der Grundlage des vom FG festgestellten Sachverhalts kann der Senat nicht abschließend beurteilen, ob die Kläger gemäß § 42 AO 1977 durch Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des Rechts das Steuergesetz umgangen haben. Ein Mißbrauch i.S. des § 42 AO 1977 liegt nach der Rechtsprechung dann vor, wenn eine Gestaltung gewählt wird, die gemessen an dem erstrebten Ziel unangemessen ist, der Steuerminderung dienen soll und durch wirtschaftliche oder sonst beachtliche nichtsteuerliche Gründe nicht zu rechtfertigen ist (vgl. Urteile des BFH vom 18.Oktober 1990 IV R 36/90, BFHE 162, 321, BStBl II 1991, 205, und vom 17.Januar 1991 IV R 132/85, BFHE 163, 449, BStBl II 1991, 607; vgl. ferner Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9.Aufl., § 42 AO 1977 Rz.176 f. ―Stand März 1991―).

Diese Beurteilung erfordert einen vollständig und umfassend ermittelten Sachverhalt. Im Streitfall fehlen Feststellungen zu den Einzelheiten des Mietverhältnisses, insbesondere zur Angemessenheit des Mietzinses, zur Dauer des Mietverhältnisses und zu den Nebenkosten.

3. Das FG hätte die zwischen den Eltern und den Klägern geschlossenen Verträge auch daraufhin prüfen müssen, ob sie einem Fremdvergleich standhalten.

Nach ständiger Rechtsprechung setzt die steuerliche Berücksichtigung von Verträgen zwischen nahen Angehörigen voraus, daß jene ernsthaft gewollt sind, tatsächlich (wie vereinbart) durchgeführt werden und deren Inhalt angemessen und üblich ist (Beschluß des BFH vom 27.November 1989 GrS 1/88, BFHE 158, 563, BStBl II 1990, 160, unter C III 2, 3; BFH-Urteil vom 24.Januar 1990 X R 152/87, BFH/NV 1990, 695). Im Streitfall bestehen Bedenken, ob diese Voraussetzungen vorliegen.

Nach den vom FG getroffenen Feststellungen ist dem Senat auch insoweit eine abschließende Beurteilung nicht möglich; dazu bedarf es weiterer tatsächlicher Feststellungen (vgl. den Schriftsatz des FA vom 28.April 1986).

4. Falls das FG zu dem Ergebnis kommen sollte, daß die Vereinbarungen hinsichtlich des "Restkaufpreises" und der Vermietung steuerlich nicht anzuerkennen sind, könnte die Übertragung des Grundstücks möglicherweise in Höhe der übernommenen Verbindlichkeiten als teilentgeltliches Rechtsgeschäft anzusehen sein. In diesem Fall könnten auf die auf den Erwerb des Gebäudes entfallenden Anschaffungskosten Absetzungen (ggf. auch nach § 7b EStG) vorgenommen werden; hinsichtlich des unentgeltlich erworbenen Teils wäre die AfA der Rechtsvorgänger (möglicherweise auch die nach § 7b

EStG) anteilig fortzusetzen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 613347

BFH/NV 1992, 110

BStBl II 1992, 37

BFHE 165, 324

BFHE 1992, 324

BB 1991, 2436 (Leitsatz)

DB 1991, 2526 (Leitsatz)

DStR 1992, 69 (KT)

HFR 1992, 68 (LT)

StE 1991, 415 (K)

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