Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Gewährung von Nachsicht fällt als eine Entscheidung über eine verfahrensrechtliche Frage nicht unter die Verfügungen des § 96 AO.

Die Finanzgerichte sind befugt, eine im Einspruchsverfahren gewährte Nachsicht daraufhin zu überprüfen, ob ihre gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen und, soweit dies nicht zutrifft, die gewährte Nachsicht rückgängig zu machen.

 

Normenkette

AO §§ 86, 96

 

Tatbestand

Das Finanzamt gewährte wegen Versäumung der Einspruchsfrist Nachsicht. Die Berufung wurde mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Einsprüche als unzulässig verworfen wurden, weil nach Auffassung des Berufungsgerichtes zu Unrecht Nachsicht gewährt worden sei. In der Rb. rügen die Bfinnen. unter anderem unrichtige Rechtsanwendung, die sie darin sehen, daß auf die gewährte Nachsicht § 96 AO nicht angewendet worden sei und deshalb die Nachsicht zu Unrecht rückgängig gemacht worden sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Rbn. haben keinen Erfolg.

Zu Unrecht sind die Bfinnen. der Auffassung, daß es sich bei der Gewährung von Nachsicht um eine Vergünstigung im Sinne des § 96 AO handle und aus diesem Grunde die durch das Finanzamt gewährte Nachsicht durch die Vorinstanz nicht hätte verneint werden können. Der erkennende Senat hat mit Urteil III 77/59 U vom 1. September 1961 (BStBl 1962 III S. 45, Slg. Bd. 74 S. 120) ausgesprochen, daß es sich bei der Entscheidung über die Nachsichtgewährung nicht um eine Ermessensentscheidung, sondern um eine Rechtsentscheidung handele. Der Senat hat dies damit begründet, daß die Rechtsmittelbehörde verpflichtet ist, sobald die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür vorliegen, Nachsicht zu gewähren. Aus dem Charakter der Nachsichtentscheidung als einer reinen Rechtsentscheidung sei zu folgern, daß sie deshalb auch der Nachprüfung im Rechtsmittelverfahren unterliege. Der erkennende Senat hält an dieser Auffassung fest. Den dagegen von Tipke, Steuerrechtsprechung in Karteiform, AO Anm. zu § 86, Rechtsspruch 66, vorgebrachten Bedenken kann der Senat nicht folgen. Bei seiner Entscheidung ist der Senat davon ausgegangen, daß es sich bei der Nachsicht um ein Rechtsinstitut mit bestimmten rechtlichen Voraussetzungen handelt, bei deren Vorliegen eine rechtskräftige Entscheidung wieder anfechtbar wird. Es handelt sich insoweit um die Anwendung verfahrensrechtlicher Vorschriften, nämlich um die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung, ob eine Prozeßvoraussetzung vorliegt. Die Nachprüfung, ob Prozeßrecht richtig angewendet worden ist, stellt eine Rechtsentscheidung dar, die, vom Standpunkt der am Prozeß beteiligten Parteien aus gesehen, für die eine Partei wohl einen Vorteil, für die andere aber gleichzeitig auch einen Nachteil bedeuten kann. Aus diesem Grunde kann eine solche Entscheidung nicht unter die in § 96 AO aufgeführten Verfügungen fallen, gleichgültig, ob man darunter nur Ermessensentscheidungen oder auch, wie Tipke, a. a. O., Rechtsentscheidungen rechnet. Im übrigen wird auch von Tipke- Kruse, Reichsabgabenordnung, § 96, Anm. 7 r, die Auffassung vertreten, daß die Gewährung von Nachsicht nicht unter § 96 AO fällt. Dies ist auch die überwiegende Meinung des Schrifttums (vgl. v. Wallis in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Reichsabgabenordnung, § 96, Anm. 7; Berger, Der Steuerprozeß, S. 283; Mattern, Die Steuerberatung, 1958 S. 110, 118). Auch bei der Auslegung der dem § 86 AO entsprechenden Bestimmung des § 60 der Verwaltungsgerichtsordnung (Wiedereinsetzung in den vorigen Stand) geht die herrschende Meinung davon aus, daß bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand keine Ermessensentscheidung vorliegt, vielmehr beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen ein Rechtsanspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand besteht (vgl. Koehler, Verwaltungsgerichtsordnung, § 60, Anm. X; Klinger, Verwaltungsgerichtsordnung, § 60, Anm. X 3; Schunck - de Clerk, Verwaltungsgerichtsordnung, § 60, Anm. 3 d). Die Auffassung von Kühn, Reichsabgabenordnung, § 96, Anm. 3 b, auf die sich die Bfinnen. berufen, beruht auf den älteren Entscheidungen des Reichsfinanzhofs (Urteils VI 496, 497/29 vom 1. Mai 1929, Steuer und Wirtschaft 1929 Nr. 617, und V A 498/32 vom 16. Dezember 1932, RStBl 1933 S. 180, Slg. Bd. 32 S. 190), an denen die spätere Rechtsprechung nicht mehr festgehalten hat.

Demnach war das Berufungsgericht zur Nachprüfung der vom Finanzamt gewährten Nachsicht berechtigt und verpflichtet. Es konnte die Nachsichtbewilligung rückgängig machen, wenn es die Voraussetzungen für eine Nachsichtgewährung nicht als gegeben ansah (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs IV 43/60 vom 8. September 1960, Steuerrechtsprechung in Karteiform, AO § 86, Rechtsspruch 43). Die Vorinstanz hat mit Recht die Voraussetzungen für die Gewährung einer Nachsicht verneint.

 

Fundstellen

BStBl III 1963, 105

BFHE 1963, 295

BFHE 76, 295

StRK, AO:86 R 82

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