Entscheidungsstichwort (Thema)

Zum Fehlen von Entscheidungsgründen

 

Leitsatz (NV)

Ein Urteil ist auch dann nicht mit Gründen versehen, wenn die Entscheidungsgründe einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- und Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergehen.

 

Normenkette

FGO § 116 Abs. 5-6

 

Verfahrensgang

Hessisches FG

 

Tatbestand

Nach erfolglosem Vorverfahren erhoben die Kläger und Revisionskläger (Kläger) Klage gegen den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr in Gestalt der Einspruchsentscheidung. Sie beantragten, ,,unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 28. November 1988 den Einkommensteuerbescheid vom 6. September 1988 dahin zu ändern, daß bei der Ermittlung der tariflichen Steuer ein Grundfreibetrag in Höhe der für die Familie der Kläger geltenden Sozialhilfesätze und bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens zwei Kinderfreibeträge a 4536 DM sowie ein Ausbildungsfreibetrag in Höhe von 2400 DM berücksichtigt werden."

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Es begründete die Klageabweisung wörtlich wie folgt: ,,Die Klage ist bereits unzulässig. Denn wenn der gemeinsame Bevollmächtigte der Kläger die Sozialhilfesätze, nach denen der begehrte Grundfreibetrag bemessen werden soll, weder beziffert noch - wie in Parallelfällen - als Regelsätze oder als Höchstsätze konkretisiert, versetzt er das Gericht nicht in die Lage, die Grenzen seiner Entscheidungsfindung zu bestimmen". Im übrigen setzte sich das FG nur noch mit der von Klägern beantragten Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über die Verfassungsmäßigkeit der Freibeträge auseinander. Es lehnte die Aussetzung des Verfahrens ab (wörtlich), ,,da der Senat die Verfassungsmäßigkeit aller beanstandeten Freibetragsregelungen aus den beiden Seiten bekannten Gründen nicht bezweifelt".

Mit der vom FG nicht zugelassenen Revision rügen die Kläger die Verletzung des § 116 Abs. 1 Nr. 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO), weil das Urteil nicht mit Gründen versehen sei. Das FG habe die Klage allein deshalb als unzulässig abgewiesen, weil die Höhe des beantragten Grundfreibetrages nicht beziffert worden sei. Auf die Klagebegehren hinsichtlich der Kinderfreibeträge und des Ausbildungsfreibetrages sei das FG überhaupt nicht eingegangen.

Gleichzeitig mit der Revision (in demselben Schriftsatz) haben die Kläger auch Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das FG mit der Begründung eingelegt, das FG habe seine Fürsorgepflicht gemäß § 76 Abs. 2 FGO verletzt, weil es nicht auf den seiner Meinung nach sachdienlichen Klageantrag hingewirkt habe. Der Nichtzulassungsbeschwerde hat der erkennende Senat mit Beschluß vom heutigen Tage III B 312/90 stattgegeben.

 

Entscheidungsgründe

1. Die Revision ist zulässig. Durch die mit Beschluß des erkennenden Senats vom heutigen Tage III B 312/90 erfolgte Zulassung der Revision verwandelt sich die von den Klägern eingelegte zulässige (s. unten) Verfahrensrevision i. S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO in eine zugelassene Revision, ohne daß es einer erneuten Revisionseinlegung bedarf (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 28. März 1979 I R 58-59/78, BFHE 128, 135, BStBl II 1979, 650).

Unabhängig davon ist im Streitfall die Revision auch ohne die Zulassung durch den Senat statthaft. Nach § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO bedarf es keiner Zulassung der Revision, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Hierauf berufen sich die Kläger, indem sie vortragen, das FG sei auf ihre Rügen eines zu niedrigen Kinderfreibetrages und eines zu niedrigen Ausbildungsfreibetrages überhaupt nicht eingegangen.

2. Die Revision ist auch begründet. Nach § 119 Nr. 6 FGO ist ein Urteil stets als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist.

Die Voraussetzungen dieser Bestimmung sind nicht nur erfüllt, wenn dem Urteil überhaupt jede Begründung fehlt. Ein Urteil ist vielmehr ebenfalls dann nicht mit Gründen versehen, wenn seine Begründung in wesentlichen Punkten unvollständig ist. Das ist u. a. dann der Fall, wenn die Entscheidungsgründe einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergehen (Urteil des BFH vom 11. Juni 1969 I R 27/68, BFHE 95, 529, BStBl II 1969, 492).

An einem solchen Mangel leidet das angegriffene Urteil des FG. Es enthält den Obersatz, daß die Klage unzulässig sei. Begründet wird dann nur, warum die Klage hinsichtlich des von den Klägern begehrten höheren Grundfreibetrages als unzulässig angesehen wird. Die Klage richtete sich aber neben dem Grundfreibetrag noch auf einen höheren Kinderfreibetrag und höheren Ausbildungsfreibetrag. Das Urteil sagt nichts darüber, warum die Klage hinsichtlich dieser selbständigen Angriffspunkte gegen den streitigen Steuerbescheid unzulässig sein soll. Dies ist um so unverständlicher, als in der Klage die begehrten Kinderfreibeträge und der Ausbildungsfreibetrag anders als der begehrte Grundfreibetrag genau beziffert sind. Folglich ist für den erkennenden Senat nicht nachvollziehbar, warum das FG die Klage insgesamt als unzulässig angesehen hat.

Zum Kinderfreibetrag und zum Ausbildungsfreibetrag nimmt das Urteil nur Stellung im Zusammenhang mit der Ablehnung der Aussetzung des Verfahrens. Diese Ausführungen betreffen nicht die Zulässigkeit der Klage. Außerdem wird die Aussetzung des Verfahrens lediglich ,,aus den beiden Seiten bekannten Gründen" abgelehnt. Darin liegt keine ordnungsgemäße Begründung, die aufgrund des Urteils selbst oder aufgrund einer konkreten Verweisung auf den Klägern bekannte oder zugängliche Entscheidungen nachvollziehbar ist.

3. Da die fehlende Begründung der Entscheidung gemäß § 119 Nr. 6 FGO ein absoluter Revisionsgrund ist, muß das Urteil aufgehoben und die Sache ohne eine Äußerung des erkennenden Senats zur Sache selbst an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (Gräber / Ruban, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 119 Tz. 3 mit zahlreichen Nachweisen). Dem Senat ist daher eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Einkommensteuerbescheides für das Streitjahr verwehrt. Hierüber muß zunächst das FG entscheiden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 417639

BFH/NV 1992, 45

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